Ein Name, zwei Wege:
Reclam Leipzig und Reclam Stuttgart
Hintergründe der Trennung der Verlagshäuser in den 1950er-Jahren
V
Als Reaktion auf die Vorgänge in Leipzig beschloss die Familie Reclam in Stuttgart entscheidende Veränderungen bezüglich ihrer Verlagshäuser. So wurde das Leipziger Haus 1954 zur Zweigniederlassung und das ehemalige Ausweichlager in Passau zur Hauptniederlassung erklärt und nach Stuttgart verlegt. Passau war bereits 1949 zur Zweigniederlassung umgeschrieben worden. 1959 wurde schließlich das Vermögen der Reclam Verlag GmbH Stuttgart auf den nach Stuttgart verlegten Hauptsitz der Firma Philipp Reclam jun. überschrieben und anschließend aus dem Handelsregister gelöscht.[31] Die Verlegung des Hauptsitzes nach Stuttgart wurde laut dem Anwalt und Notar der Familie Reclam, Felix Büchner, schon viel früher vollzogen, auf Grund der schwierigen Verhältnisse jedoch erst 1954 offiziell in das Handelsregister übertragen.[32]Ein Kontakt existierte zwischen beiden Häusern während dieser Zeit nicht. Erst 1955 kommunizierten Heinrich Reclam, der nach dem Tod seines Vaters im März 1953 die Verlagsleitung übernommen hatte,[33] und die Deutsche Investitionsbank erstmals seit der Enteignung miteinander. Dabei verhandelten beide Parteien über eine mögliche Rückkehr der Familie nach Leipzig sowie über eine Zusammenarbeit beider Verlagshäuser.[34] Jedoch beharrten beide Parteien starr auf ihren Forderungen: Während Heinrich Reclam vor einer möglichen Rückkehr nach Leipzig die dortigen Geschäftsbücher in Stuttgart begutachten wollte, lehnte die Deutsche Investitionsbank dies ab. Auch die Unstimmigkeiten um die Enteignung der Anteile und die fehlenden Information der Familie über die Vorgänge in Leipzig führten letztlich dazu, dass der Kontakt endgültig abbrach.
Bestehen blieb jedoch das Problem der namensgleichen Verlage. Heinrich Reclam sah die Übernahme des Leipziger Verlags durch Fremde als rechtswidrig an und versuchte dies zu unterbinden: "[S]eitdem sind in unserem Leipziger Haus Unberechtigte am Werk, die nicht nur unser Gebäude, Anlagen, Maschinen, sondern sogar unseren Namen Reclam, der ja schließlich mein Familienname ist, verwende[n], und diesem Missbrauch unserer Rechte können wir natürlich nur innerhalb der westlichen Rechtsprechung entgegentreten."[35] Das Einfuhrverbot für Leipziger Produkte nach Westdeutschland demonstrierte dies. In Leipzig wollte man trotz dieser Schwierigkeiten nicht vom Namen lassen.[36] Da Stuttgart zudem nie einen offiziellen Antrag auf Namenslöschung oder Umbenennung gestellt hatte, unterstellte man eine gewisse Akzeptanz.[37]
VI
Es ist deutlich geworden, dass die Vorgänge in den 1950er-Jahren zum Zerwürfnis beider Reclam-Verlage führten. Die Vorwürfe, die sowohl die Stuttgarter Familie als auch die DDR-Regierung äußerten, veranschaulichen dies. Für die Reclam-Familie erfolgte die Anordnung der Treuhandschaft, bezogen auf die fehlende legitime Vertretung in Leipzig, ihrer Ansicht nach ungerechtfertigt. Eine gezielte Verfolgung Ernst Reclams in den Jahren vor der Überführung in die Treuhandschaft sowie eine geplante Enteignung von Seiten der DDR-Administration kann daher angenommen werden. Dass die Reclam-Familie die Enteignung einiger ihrer Mitglieder sowie die Überführung ihrer Anteile in Volkseigentum nicht akzeptierte und daraufhin gegen Leipziger Verlagsprodukte vorging, ist durchaus nachvollziehbar.In Leipzig warf man der Familie hingegen eine geplante Flucht vor. Auch wurden die Vertreter als ungeeignet befunden und daraufhin abgesetzt. Konkrete Vorwürfe oder Belege hierfür konnten jedoch in den Akten nicht gefunden werden. Gegen dieses Argument spricht zudem, dass Hildegard Böttcher und Karl Rühlig schon lange im Verlag tätig waren. Besonders Hildegard Böttcher war mit der Verlagsführung bestens vertraut und hatte bereits seit 1948 die meisten von Ernst Reclams Pflichten übernommen. Der eingesetzte Treuhänder Hermann Obluda schien im Vergleich dazu weitaus weniger Verlagserfahrung zu besitzen. Die Notwendigkeit der Treuhandschaft auf Grund der fehlenden Verlagsleitung darf daher bezweifelt werden.
Prinzipiell fußten die Handlungen in Leipzig zwar auf gesetzlichen Grundlagen, die Ernst Reclam zumindest zum Teil gekannt haben müsste. Die Anwendung der Gesetze im Fall Reclam kann aber durchaus kritisiert werden, zumal der Familie Informationen über die Geschehnisse durch die verantwortlichen Stellen vorenthalten wurden oder ihr nicht die Möglichkeit eingeräumt wurde, hierzu Stellung zu beziehen. All dies lässt den Vorwurf einer gezielten Enteignung berechtigt erscheinen.
Zudem fällt der Eintritt der Deutschen Investitionsbank als Kommanditistin des Reclam Verlags 1958 auf.[38] Neben den bereits enteigneten Anteilen, die zum Volkseigentum zählen, besaß der Staat ab 1958 damit auch noch die Anteile der Deutschen Investitionsbank. Über die anschließende Erhöhung der Anteile wurde die Familie wohl nicht informiert, fanden sich hierzu doch keine Unterlagen. Die Gesellschafter konnten daher ihre eigenen Anteile nicht erhöhen, weshalb sie weiter an Einfluss verloren. Damit wurde der Verlag schließlich zum Betrieb mit staatlicher Beteiligung: 56,9 Prozent der Anteile gehörten dem Staat, 21,4 Prozent waren Volkseigentum durch Enteignung und nur noch 21,7 Prozent der Anteile waren Privateigentum der Familie Reclam.[39]
Die in den Jahren nach der Treuhandschaft fehlende Kommunikation und Akzeptanz der Verlagshäuser hat ihren Ursprung in den genannten Vorgängen und begründet auch das Vorgehen des Stuttgarter Verlags in den Folgejahren. Die persönlichen Affronts gegen die Familie Reclam erklären auch, warum eine Kommunikation der Verlagshäuser erst viel später und unter einem neuen Verlagsleiter zustande kam.