Das große Volkstanzbuch von Herbert Oetke
Eine deutsch-deutsche Editionsgeschichte in fünf Akten
1. Akt: Oetkes Manuskript und Suche nach einem Verlag
Das Drama der deutsch-deutschen Veröffentlichungsgeschichte beginnt im Jahr 1966. Herbert Oetke hatte die Ergebnisse lebenslanger Forschungen aus seinen zahlreichen Aufsätzen und Vorträgen zu einem Buchmanuskript zusammengefügt.[11] Das Werk mit dem Titel "Der deutsche Volkstanz" umfasste nicht weniger als 1.000 Manuskriptseiten mit 96 Illustrationen, einem Notenanhang mit 471 Melodiebeispielen und einer 104 Seiten starken Liste mit Quellennachweisen.[12] Diese Leistung war bemerkenswert – vor allem deshalb, weil es nur wenige, weit verstreute und schwer zugängliche Quellen zum echten, tradierten Volkstanz gibt und eine zusammenhängende Geschichte des deutschen Volkstanzes bis dahin noch nicht geschrieben war. Mit der Fertigstellung seines Manuskripts begann Oetke, mehrere Abschriften an verschiedene Volkstanzgrößen im In- und Ausland zu senden. Alle Angeschriebenen bestätigten ihm den besonderen Wert seiner Arbeit und ermutigten ihn zu einer Veröffentlichung. So schrieb Professor Hans Commenda beispielsweise: "Sie haben mit dieser grundlegenden Arbeit der Volkstanzforschung im besonderen und der Volkskunde im allgemeinen einen großen Dienst von dauerndem Wert geleistet."[13] Hans Severin von der Fachgruppe Volkstanz im Arbeitskreis für Tanz im Bundesgebiet wies zugleich auf mögliche Schwierigkeiten hin: Er glaube, "daß die Herausgabe Ihrer Arbeit für uns Volkstänzer und für den deutschen Volkstanz auf alle Fälle ein großer Gewinn wäre! Nur – wer übernimmt es, das Werk herauszugeben? Welcher Verlag wäre dazu bereit? Und wer könnte die dafür notwendigen Zuschüsse oder Abnahme-Garantien geben?"[14]Tatsächlich schien sich kein Verlag für Oetkes Werk zu interessieren. Die Anfragen bei den westdeutschen Verlagen B. Schotts Söhne, Walter Kögler oder Hofmeister blieben sämtlich unbeantwortet.[15] Schließlich bekundete der Bosse Verlag in Regensburg vorsichtiges Interesse.[16] Die Finanzierung stellte den Verlag jedoch vor gewaltige Probleme. Zunächst gab es Überlegungen, den Notenband wegen des zu hohen Kostenaufwandes zu streichen, dann wollte man mit Hilfe der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) einen Zuschuss für die Druckkosten erwirken.[17] Trotz der hohen Kompromissbereitschaft Oetkes, die Ausstattung seines Buches betreffend, und der Aussicht auf Förderung durch die DFG scheiterte der Verlag an der Aufstellung einer tragbaren Kalkulation. Nach fünf Jahren des Überschlagens und Verhandelns nahm der Bosse Verlag schließlich Abstand von dem Projekt. Beinahe erleichtert über das Auftreten eines anderen Interessenten schrieb der Verlag an Oetke: "Da wir aber nun sehen, daß sich für Sie andere Möglichkeiten auftun, möchten wir nicht im Wege stehen und senden Ihnen mit gleicher Post sämtliche Unterlagen zurück."[18]
2. Akt: Henschel signalisiert Interesse – die Lösung aller Probleme?
Nach der Enttäuschung mit den bundesrepublikanischen Verlagen reaktivierte der inzwischen 68-jährige Herbert Oetke seine alten Kontakte in die DDR. Damit rückt im zweiten Akt die Realisierung des Buchprojekts für Oetke in greifbare Nähe. Es war Kurt Petermann, Leiter des Tanzarchivs in Leipzig, der aus Kenntnis des Buchmanuskripts Oetke riet, doch einmal den Ost-Berliner Henschelverlag in dieser Sache anzuschreiben.[19] Nach Übersendung seines Werkes im Sommer 1972 musste der Autor lange auf eine Entscheidung aus Berlin warten, sodass es wiederum Petermann war, der "nach langen Bemühungen und vielem guten Zureden"[20] den Verlag zu einer positiven Entscheidung drängte.Der Henschelverlag hatte zunächst ein Gutachten bei dem Tanzwissenschaftler und langjährigem Verlagsautor Bernd Köllinger in Auftrag gegeben. Köllinger stellte darin sogleich fest, dass Oetkes Werk für weitere "wissenschaftliche Arbeiten als auch für die künstlerische Praxis von unschätzbarem Wert" sei. Methodisch nehme Oetke zwar eine "bürgerlich-fortschrittliche Haltung" ein, "zu einer echten dialektischen Durchdringung des Stoffes" und einer – aus Sicht des Gutachters – konsequenten ideologischen Schlussfolgerung dringe er jedoch nicht vor. Glücklicherweise sei aber die Erforschung des folkloristischen Tanzerbes "eine Art von Wissenschaft, die durch die Logik der vorgetragenen Fakten zu einer marxistischen Konzeption" hindränge.[21] Im Gutachten sprach sich Köllinger schließlich trotz einiger Mängel im Aufbau der Arbeit für eine Veröffentlichung aus.
Um über die Herausgabe des Buches und die notwendigen Korrekturen direkt mit dem Autor verhandeln zu können, reiste Cheflektor Horst Wandrey im Sommer 1974 nach Hamburg.[22] Dort wurden sich die beiden schnell über die notwendigen Überarbeitungen einig. In dem Gespräch bahnte Wandrey gleichzeitig die Übernahme des Oetke-Archivs in die DDR an.[23] Unterzeichnet wurde der Verlagsvertrag allerdings erst im März 1977 – beinahe drei Jahre nach der mündlichen Zusage Wandreys in Hamburg. Zuvor musste der Henschelverlag die Finanzierung dieses technisch aufwendigen Werkes durch Kulturfondsmittel absichern. Diese wurden im Januar 1977 in der beantragten Höhe von 25.000 Mark bewilligt.[24]