Das große Volkstanzbuch von Herbert Oetke
Eine deutsch-deutsche Editionsgeschichte in fünf Akten
3. Akt: Eine schwere Geburt – doch das Buch erscheint
Die Zeit vom Vertragsabschluss im Frühjahr 1977 bis zur Veröffentlichung des Buches zum Jahreswechsel 1982/83 ist die mittels Schriftverkehr am ausführlichsten überlieferte Phase dieser Editionsgeschichte. Für die Bearbeitung des Manuskripts, die Überprüfung sämtlicher Quellen und bibliografischer Angaben wie auch für die Noten- und Bildauswahl musste ein Fachmann gewonnen werden, da der Verlag die Arbeiten nicht selbst durchführen konnte. Man traf schließlich mit dem Tanzwissenschaftler Kurt Petermann, dem bisher größten Fürsprecher Herbert Oetkes, eine vertragliche Übereinkunft über die Ausführung sämtlicher anstehender Arbeiten.[25]Mit der Übernahme dieser Aufgaben änderte sich das Verhältnis zwischen Oetke und Petermann – aus dem einstigen Förderer wurde nun der Kritiker. Schon nach der Durchsicht des ersten Kapitels schrieb Petermann an den Verlag: "Das Oetke-Manuskript ist sortiert und ich habe mit der Redaktion des Textes begonnen. Jetzt weiß ich erst, auf welch problematisches Unternehmen ich mich da eingelassen habe. Ich mußte Herbert Oetke nach Durchsicht des Kapitels Reifentanz einen Brief schreiben, der die wichtigsten Probleme der Überarbeitung enthält. Stilistische und orthographische Fragen habe ich hier gar nicht erwähnt, sondern ich habe ihn nur in Kenntnis gesetzt, daß sein Manuskript einer grundsätzlichen Überarbeitung bedarf."[26]
Die Liste seiner Beanstandungen war lang. Fast alle Mängel betrafen die unwissenschaftliche Arbeitsweise des Autors, wie beispielsweise fehlende Belege durch Fußnoten und unvollständige Quellenangaben, das unkommentierte, seitenweise Zitieren anderer Forscher sowie die Fehlinterpretation einiger Originaltexte.[27] Da sich die briefliche Verständigung zwischen Hamburg und Leipzig als sehr schwierig und zeitaufwendig erwies, ging Petermann dazu über, die seiner Meinung nach notwendigen Korrekturen ohne detaillierte Rücksprache mit dem Verfasser, aber im Einvernehmen mit dem Verlag durchzuführen. In einem Brief an Wandrey meinte Petermann über Oetke: "Ich bat ihn vorsichtshalber um Mitarbeit, nehme aber an, daß er nur auf wenige Fragen, die ich in dem Brief angeschnitten habe, befriedigende Antwort geben kann und werde also auf mich selbst gestellt die Überarbeitung in meinem Sinne vornehmen."[28]
Die redaktionelle Bearbeitung war durch die Überprüfung sämtlicher Originalquellen, die Bildbeschaffung und Melodieauswahl sehr aufwendig und zog sich insgesamt über zwei Jahre hin. Im Frühjahr 1981 reiste Herbert Oetke schließlich nach Leipzig um sein Manuskript, welches er seit mehreren Jahren nicht gesehen hatte, für den Druck zu autorisieren. Dort musste er feststellen, dass "starke Kürzungen, aber auch Änderungen im Text vorgenommen wurden".[29] Das Vorwort war gekürzt, das Nachwort entfernt und anstelle seines Schriftenverzeichnisses eine 400-seitige Auswahlbibliografie von Kurt Petermann gesetzt worden. Um den Druck jedoch nicht weiter zu verzögern und die Bemühungen Petermanns für sein Manuskript nicht gering zu schätzen, unterzeichnete Oetke die Abnahmeerklärung, ohne den zweiten Band mit Notenbeispielen, Bibliografie und Register eingesehen zu haben.[30]
Nach weiteren Verzögerungen wurde das Buch schließlich im Frühjahr 1983 ausgeliefert. Ein Ereignis auf das Herbert Oetke 17 Jahre lang gewartet hatte und das den Höhepunkt des vorliegenden Dramas markiert. Mit Erschrecken musste er nach Durchsicht des fertigen Buches feststellen, dass sein Gutachter plötzlich als Urheber des zweiten Bandes auf dem Titelblatt erschien, obwohl der Notenanhang wesentlicher Bestandteil von Oetkes Manuskript und seiner lebenslangen Sammelleistung war.[31]
4. Akt: Oetke kämpft um Richtigstellung in einer Neuauflage
Der Erkenntnis Oetkes, seines geistigen Eigentums öffentlich beraubt worden zu sein, folgt im vierten Akt die dringende Forderung nach Richtigstellung in Form einer Neuauflage des zweiten Bandes. In einer Flut von Briefen wandte sich der Autor in den Monaten nach dem Erscheinen an den Henschelverlag. Während es ihm anfänglich noch darum ging, seine Urheberschaft auf dem Titelblatt korrigieren zu lassen, waren es bald allerlei Fehler im Notenanhang, in der Bildauswahl und im Register, die der Autor beanstandete und seinem Bearbeiter zur Last legte. So beschwerte sich Oetke beispielsweise: "Text und Melodie stimmen nicht überein, weil Dr. Petermann einen Text bringt, der nicht aus meinem Original stammt. Ist das nun Besserwisserei oder wieso fühlt er sich berufen als 'Gutachter' Zensur zu üben?"[32]Da Oetke trotz aller Bitten um eine Stellungnahme vom Verlag nichts Konkretes hörte, drohte er mit Vertragskündigung, auf die er nur durch den Druck einer korrigierten Nachauflage zu verzichten bereit wäre.[33] Das retardierende Moment dieser dramatischen Rekonstruktion drückt sich in Oetkes fester Vorstellung einer bald erscheinenden korrigierten Nachauflage aus, die jedoch ganz und gar illusionär war.