Langsamer Abschied von der DDR
Kommentar zu einer Festrede von Hans Mayer auf Anna Seghers am 26. Januar 1962
Aus Anlass des Erscheinens der Nr. 9.000 von "Reclams Universalbibliothek" hielt Hans Mayer im Januar 1962 eine "Kleine Festrede" auf Anna Seghers. Mayers unveröffentlichte Laudatio lässt einen Wendepunkt in seinem Verhältnis zum Führungszirkel der SED erkennen, mit weitreichenden Folgen für den deutsch-deutschen Literaturaustausch.Im Verlagsarchiv wurde eine in Vergessenheit geratene und als Ganzes unveröffentlicht gebliebene Rede Hans Mayers auf Anna Seghers gefunden, abgelegt als Typoskript mit handschriftlichen Korrekturen und als Reinschrift. Sie lag zwischen Autorenbriefen, Verlagskorrespondenz und Papieren der Veranstaltungsorganisation zum Jubiläum von RUB-Band Nummer 9.000 aus der Zeit zwischen Mai 1961 und Februar 1962.[1]
Das Jubiläum der Nummer 9.000 ist geeignet, sowohl die kulturpolitischen Verhältnisse in den frühen Sechzigerjahren in Ostdeutschland aus der Perspektive eines seiner wichtigsten Verlage als auch die Inszenierung von deren literarischer Öffentlichkeit im deutsch-deutschen Spannungsfeld zu beleuchten. Der besondere zeit- und der literaturhistorische Wert der Rede besteht darin, dass hier bei Hans Mayer – als einem der wichtigsten Vertreter der kulturellen Elite der DDR – ein politischer und auch intellektueller Wendepunkt zu erkennen ist. Nachvollziehbar wird zudem, wie sich aus seiner veränderten intellektuellen Haltung Mayers Verhältnis zum Führungszirkel der SED zu wandeln beginnt.
I. Nummer 9.000: Nicht Georg Maurer, sondern Anna Seghers

Der seit 1. April 1961 als kommissarischer Verlagsleiter und weiterhin als Cheflektor fungierende Hans Marquardt kümmerte sich persönlich um die konzeptionellen und organisatorischen Vorbereitungen der prominenten Veranstaltung, um schnell auf die wechselnden kulturpolitischen Vorgaben reagieren zu können. Die politische Brisanz einer solchen Jubiläumsveranstaltung war enorm gestiegen und damit auch die Bedeutung der Festrede. Mit Spannung war außerdem zu erwarten, wie Marquardt mit den neu gesetzten kulturpolitischen Spielräumen umgehen würde.
Während Hans Marquardt am 17. Mai 1961, eine Woche vor Beginn des Schriftstellerkongresses, von diesem ausgeladen wurde – offizielle Begründung: Der Schriftstellerverband müsse bei den ohnehin sehr begrenzten Platzverhältnissen "in erster Linie für die Unterbringung der ausländischen und westdeutschen Gäste sorgen"[2] –, hatte Hans Mayer, der kein Mitglied des Verbandes war, "drolligerweise" – wie er selbst sagte – noch im Mai eine Einladung zum Kongress erhalten. Er habe aber "ganz freundlich" abgesagt wegen der lang geplanten Reise zur Hauptversammlung der Hölderlin-Gesellschaft in Tübingen. Den wahren Grund seiner Absage erfuhr Stephan Hermlin. Die Lektüre dessen, "was sich da als Schriftstellerkongress ankündigt", habe er vor seinem Urlaub als "gesundheitsschädigend" empfunden. Nach dem Urlaub würde "der Eindruck des Komischen" überwiegen.[3]
Tatsächlich wurden beim V. Schriftstellerkongress vor allem die großen Erfolge des Bitterfelder Wegs zelebriert. Während der Staatsrats- und Parteivorsitzende Walter Ulbricht westdeutsche Autoren zu umwerben versuchte und der Leiter der Kulturkommission beim Politbüro des SED-Zentralkomitees, Alfred Kurella, davor warnte, von "zwei deutschen Literaturen" zu sprechen, nahm Kulturminister Alexander Abusch den Mauerbau ideologisch vorweg.
Einem Vorschlag von Hubert Witt, 1959–1986 Lektor im Reclam-Verlag, den Jubiläumsband mit Gedichten von Georg Mauer zu belegen, war kein Erfolg beschieden.[4] Denn Maurer, obwohl im Juni 1961 mit dem Johannes-R.-Becher-Preis ausgezeichnet, entsprach nicht der damals gültigen Doktrin des "sozialistischen Realismus". Nachdem er im Jahr 1955 am Leipziger Literaturinstitut "Johannes R. Becher" seine Tätigkeit als Lehrer für Lyrik aufgenommen hatte, galten seine Lehrmethoden bald als "unüblich" und waren "daher auch nicht unumstritten".[5] Dem Bildungsdefizit einer Generation von jungen und nicht mehr ganz jungen Schriftstellern, die Faschismus, Krieg und Nachkrieg erlebt hatten, stehe "sein Angebot gegenüber, ihnen den Blick in das Erbe der Weltlyrik zu öffnen", beschrieb der Schriftsteller Heinz Czechowski 1982 Maurers Programm. Der Staatssicherheitsdienst beurteilte den parteilosen Georg Maurer, dessen Loyalität gegenüber Ernst Bloch und Hans Mayer schon in den Fünfzigerjahren Misstrauen erregt hatte, als "einseitig ästhetisch orientiert und politisch weltfremd".[6]
Hans Marquardt, knapp ein Jahr Verlagsleiter und Cheflektor in Personalunion, setzte von Beginn an mit Anna Seghers auf eine Persönlichkeit, die in Ost und West Anerkennung genoss, deren jüngstes Werk den ästhetischen und kulturpolitischen Leitlinien entsprach und die als Präsidentin des Deutschen Schriftstellerverbandes (DSV) zugleich die Kulturpolitik der DDR verkörperte.[7] Kurios erscheint heute, dass der Verlag offensichtlich die Wahl des Titels für die Nummer 9.000 mit dem DSV abstimmte. Denn zuerst hatte man die Skizzensammlung "Der erste Schritt" bevorzugt, dann die Erzählung "Der Mann und sein Name" (1952) und die Sammlung "Die Kinder" (1951)[8] geprüft und schließlich im Oktober wieder auf Seghers' Sammlung "Der erste Schritt" (1953) zurückgegriffen.[9] Doch nachdem der lizenzgebende Aufbau-Verlag endlich gewillt schien, wegen Reclam seine "bb"(billige bücher)-Ausgabe ein halbes Jahr zurückzustellen, stimmte möglicherweise Anna Seghers dem Vorschlag nicht mehr zu.

Bemerkenswert bleibt hier nicht nur die kurze Produktionszeit für Taschenbücher, die ein Überbleibsel der privatwirtschaftlichen Betriebsstruktur des Verlags und der angeschlossenen Druckerei darstellte, sondern auch, dass Mayer erst in den späten Oktobertagen vom Verlag zu Nachwort und Festrede eingeladen wurde. Die Einladung kann als mit dem Kulturministerium abgestimmte Reaktion auf Mayers Beschwerde gelten, dass er nicht im Widmungsband zum 60. Geburtstag der Autorin im Jahr 1960 vertreten war.[12]
Die beiden Exilanten Anna Seghers (Exilländer Frankreich/Mexiko) und Hans Mayer (Frankreich/Schweiz), Juden, linksrheinischer und bürgerlicher Herkunft, traten in jenen Monaten trotz aller Übereinkunft im Glauben an die politische, wirtschaftliche und soziale Überlegenheit der DDR eher als Kontrahenten in Erscheinung. Nach der Rückkehr von ihren Reisen ins westliche Ausland sah sich die Präsidentin des Schriftstellerverbands nach dem Mauerbau im politischen System der DDR fester denn je verankert, während Mayer lavierte und "zwischen den Stühlen sitzend" sich widersprüchlich verhielt, wie Jürgen Teller im Januar 1963 gegenüber Ernst Bloch resümierte.[13]
Die Säuberung an der Leipziger Universität war mit der Zwangsemeritierung des Philosophen Ernst Bloch im Frühjahr 1957 vorerst beendet, markierte aber, wie sich nun zeigte, nur den Beginn der Zerstörung einer einzigartigen Lehrsituation, in der seinerzeit ein "Trupp jüdischer Emigranten aus Amerika", "die recht stark vertretenen 'Westemigranten'" und Vertreter vom "inneren Widerstand" als "maßstabsetzende Lehrer dreier Generationen, dreier Erfahrungen in gemeinsamer Anstrengung" zu arbeiten begonnen hatten, wie der Historiker Walter Markov notierte.[14] Denn im Herbst 1961 wurde der Konflikt von der örtlichen Parteibürokratie neu entfacht und auf Hans Mayer konzentriert. Nachdem die Architektin Karola Bloch und Ernst Bloch im Sommer 1961 der DDR den Rücken gekehrt hatten und der Romanist Werner Krauss nach Ost-Berlin gewechselt war, sah sich Hans Mayer, ohne seine wichtigsten Gesprächspartner und Freunde, isoliert und, unter verschärfter Beobachtung durch die SED und das Ministerium für Staatssicherheit, seine pädagogische und wissenschaftliche Arbeit bedroht.
Während Bloch im November 1961 eine Gastprofessur an der Universität Tübingen antrat, verbrachte Mayer sein in Hamburg geplantes Arbeitssemester nun in Leipzig, nicht ohne trotzig anzukündigen, dass "alle Einladungen an Westdeutsche (…) aufrecht erhalten" werden.[15] Mit Verve hielt er an der Einladung Heinrich Bölls in die DDR fest, die dieser krankheitsbedingt im Juni 1961 abgesagt hatte.[16] Um der erneuerten Einladung mehr Nachdruck zu verleihen, suchte Mayer den Kontakt zu Herbert Dost, Leiter des Evangelischen Amtes für Gemeindedienst in der Stadt Leipzig.[17] Als Reaktion auf den Mauerbau organisierten Dost und Mayer gemeinsam Lesungen und Vorträge für Böll in der Zeit vom 22. bis 25. Januar 1962 am Institut für Deutsche Literaturgeschichte und in den Leipziger und Greifswalder Spielgemeinden.[18] Doch Heinrich Böll sagte auch die zweite Einladung ab, nun aus tagespolitischen Gründen. Die Isolation, die Mayer umgab, hatte sich deutlicher konturiert.
II. "… einen großen Eindruck auf das westdeutsche Verlagswesen hinterlassen"
[19]In den Jahren 1954/55 sollte das Unternehmen Reclam "reprivatisiert" werden. Das politische Ziel der Jubiläumsfeier Nummer 8.000 im Dezember 1954 diente dem Amt für Literatur und Verlagswesen unter anderem "im Sinne der Wiedervereinigungspolitik unserer Partei und Regierung" zu: "einem wirkungsvollen und überzeugenden Anschauungsunterricht über die Bereitschaft der DDR-Behörden und des Verlagswesens der DDR, trotz aller politischen Trennungen und verlagsrechtlichen Divergenzen, die durch die Spaltung Deutschlands hervorgerufen sind, das Einigende in den Vordergrund zu rücken und eine reibungslose, faire Zusammenarbeit der noch getrennt arbeitenden sogenannten Parallelverlage herbeizuführen."[20] Dagegen freilich fürchteten "die Genossen vom Reclam-Verlag", den "westdeutschen Erben Reclam" als "Verwalter" unterstellt zu werden.[21]
Aus dem Jubiläumsjahr 1954 sind zwischen dem Verlag und seinem Festredner keine besonderen Differenzen bekannt geworden, seit dem Beginn der Gespräche über das bevorstehende RUB-Jubiläum 9.000 umso mehr. Nach dem Mauerbau hatte sich dem Kulturministerium, dem die Abteilung Literatur und Buchwesen nun angehörte, und dem Leipziger Reclam-Verlag im Herbst 1961 eine gute Gelegenheit eröffnet, Reclam endlich als eigenständigen Verlag zu etablieren. Den ersten Schritt sollte die Aufgabe der traditionellen Nummernzählung für die Universal-Bibliothek darstellen,[22] begründet mit "der republikfeindlichen Haltung des Zweigverlages Stuttgart und unter Berücksichtigung der Tatsache, daß allein das Stammhaus in Leipzig die fortschrittlichen Traditionen pflegt."[23]
Der Konflikt mit dem westdeutschen Literaturbetrieb lag aber nicht im Interesse Hans Mayers. Er war darauf bedacht, als Wissenschaftler und Autor in Ost- und Westdeutschland präsent zu sein und verstand sich auch nicht als "Lämpchen, was man in der DDR ausknipsen könne, in Westdeutschland aber jederzeit anknipsen könne".[24] Im Kulturministerium wurde penibel registriert, "dass sich Prof. Mayer durch die von ihm eingeschlagene Taktik und Praxis seiner Veröffentlichungen in Westdeutschland eine ziemlich feste ökonomische Basis schaffen könnte, die es ihm leicht und gesichert erscheinen lassen könnte, eines Tags die DDR zu verlassen."
Wegen seines Seghers-Nachworts, einer "Originalarbeit", die, wie Mayer gegenüber Marquardt anmerkte, "eigens für Sie geschrieben wurde", kam es zu einer ersten Verstimmung. Denn Mayer stellte dem Verlag für das Nachwort ein für die damalige Zeit ungewöhnlich hohes Honorar in Rechnung.[25] Da der Verlag es versäumt hatte, mit dem Autor vor Beginn der Arbeit einen Vertrag zu schließen, fehlten nun die Argumente, dessen Honorarforderung abzuwehren.[26]
Bevor Hans Mayer den Verlag darüber informierte, dass Peter Huchel, Chefredakteur der Zeitschrift "Sinn und Form", in der ersten Nummer des 1961er-Jahrgangs plane, das Seghers-Nachwort abzudrucken,[27] hatte der sich darum bemüht, Huchel als Autor eines Bandes im Jahr 1963 zu gewinnen.[28] Die Abdruckmöglichkeit in der Zeitschrift benutzte Marquardt, um das Honorarproblem doch noch zu seinen Gunsten zu wenden. Er schrieb an Mayer, dass er zwar "grundsätzlich" einverstanden sei mit einem Abdruck in "Sinn und Form", aber voraussetze, dass "die Honorarfrage für beide Teile eine zufriedenstellende Lösung" finde, und schlug deshalb vor, "daß die Hauptrechte an Ihrem Seghers-Nachwort bei Ihnen bleiben, Sie somit auch das volle Honorar für den Abdruck in 'Sinn und Form' beanspruchen können." Abschließend erklärte er sich einverstanden mit Mayers Angebot, eine Sammlung von Aufsätzen und Essays in der "cellophanierten" Reihe der RUB herausbringen. Er würde es begrüßen, "wenn uns Ihre Auswahl im Frühjahr kommenden Jahres vorliegen könnte." Und: "Eine nochmalige mündliche Aussprache wäre zweckmäßig".
Mayer reagierte erbost auf den "Dreh", den Marquardt mit "Sinn und Form" machen wollte: "Sie können doch gar nicht wissen, ob ich mit Huchels Vorschlag wirklich einverstanden bin, da mir unter Umständen daran liegen kann, einen umfangreicheren Essay in 'Sinn und Form' erscheinen zu lassen, um mir nicht selbst den Raum dafür durch einen Abdruck der 12 Seiten über Anna Seghers zu blockieren."[29] Den Band mit "ausgewählten Essays zur deutschen Klassik und Romantik" werde er "zunächst einmal" zurückzustellen, denn der sei "im Augenblick aus verschiedenen Gründen nicht spruchreif." Mayer arbeitete, neben einer beeindruckenden Reihe weiterer literarischer Projekte, an dem Band "Ansichten zur Literatur der Zeit" mit Studien zu Schriftstellern wie Franz Kafka, Eugen Ionesco und Boris Pasternak, die in Ostdeutschland zwar kritisiert, aber nicht gelesen werden konnten.[30]
III. "Seghers – ehrlich gesagt – im Augenblick – wichtiger als Festschrift Arnold Zweig"
[31]Die Beschäftigung mit Anna Seghers diente Hans Mayer als Resonanzraum für die Frage, ob die DDR noch der Ort war, an dem sich mit der Kunst Brücken zwischen Ost und West, gestern und heute und zwischen den Exilanten aus Ost und West schlagen ließen. Während er am 9. November 1961 an Stephan Hermlin schrieb, dass ihm dieses Nachwort der RUB-Ausgabe 9.000 "wichtig" sei,[32] teilte er Verlagsleiter Marquardt bei der überpünktlichen Abgabe des Nachworts eine Woche später mit, dass er diesmal "bewusst" auf ein kulturpolitisches Statement verzichtet habe, "etwas zur Nr. 9.000 zu sagen, weil ich annehme, dass der Verlag in der Ausstattung auf diese Tatsache von sich aus hinweisen wird."[33] Stattdessen habe er am Beispiel der "Erzählung eine größere Studie über die erzählerischen Grundprinzipien von Anna Seghers in Form eines Nachworts geschrieben. Die Bedeutung der Geschichte und der Erzählerin verlangte es, dass man ausführlicher wurde."
Die Umstände, unter denen 1954 die Rede für RUB-Band 8.000 entstanden ist, waren nicht genauer zu ermitteln, weil dazu keine aussagekräftigen Dokumente im Verlagsarchiv aufzufinden sind.

Der Verzicht auf ein kulturpolitisches Statement zum Jahreswechsel 1961/62 kann als ein Wendepunkt in Hans Mayers Verhältnis zur ostdeutschen Gesellschaft gelten. Denn er entschied sich, sozusagen in der Diaspora jener Monate, von einem bewährten Arbeitsverfahren abzuweichen und wie üblich aus einer Arbeit mehrere öffentliche Anlässe zu bedienen. Er verzichtete darauf, aus der Studie "über die erzählerischen Grundprinzipien der Seghers" den "eigentlichen Redetext"[37] für die neue Festrede auszuschneiden. Für den gerade abgeschlossenen Vortrag "Heinrich von Kleist. Der geschichtliche Augenblick" zur Kleist-Ehrung hatte er dieses Verfahren in der bewährten Weise gehandhabt. Doch für das Seghers-Jubiläum trennte er Nachwort und Rede thematisch voneinander. Er erhoffte sich wohl damit, das befürchtete Statement hinauszuschieben, nicht schriftlich fixieren oder veröffentlichen zu müssen.
Der Apparat von Staat und Partei reagierte prompt. Hans Marquardt hatte seinen Dank für die Klärung der "verfahrene[n] Situation im Hinblick auf unsere Jubiläumspublikation" beim amtierenden Cheflektor des Aufbau-Verlages, Günter Caspar, nicht nur mit einer Bitte um eine Rezension in der Wochenzeitschrift "Sonntag" verknüpft, sondern den Kontakt auch genutzt, um ihn über die Bereitschaft des Aufbau-Autors Hans Mayer zu informieren, einen Artikel "über die UB" im "Neuen Deutschland" zu veröffentlichen.[38] Dieser Artikel wurde ebenso wenig gedruckt, wie man vergeblich nach dem Namen des "Direktors des Instituts für Deutsche Literaturgeschichte an der Karl-Marx-Universität Leipzig" im Verlagsbulletin sucht, das nach dem 14. Plenum, welches vom 23. bis 26. November 1961 im ZK der SED stattfand, erschienen ist.[39] Die Einschätzung, dass Reclams Universal-Bibliothek "unmittelbar mit den fortschrittlichen Traditionen der deutschen Bildungsgeschichte verbunden und aus unserer gegenwärtigen sozialistischen Kultur nicht wegzudenken ist", blieb nun den "namhaften Literaturwissenschaftlern der Deutschen Demokratischen Republik" aus dem Verlagsbeirat vorbehalten: Karl-Heinz Schönfelder, Werner Bahner, Dieter Bergner, Manfred Buhr, Claus Träger, Siegfried Streller, Kurt Kanzog, Stephan Stompor und Rudolf Fischer.
IV. "Wann und wo treffen wir uns?"
Die Frage von Anna Seghers' Sekretärin Grete Raphael nach Ort und Zeitpunkt der Feier zum Erscheinen von Nummer 9.000 bzw. das späte Datum, zu dem die Frage überliefert ist,[40] lassen erkennen, unter welchem Druck der Verlag und seine Gäste standen. Anfang Dezember war immer noch nicht bekannt, wo man sich treffen würde.
Auch bei der Fertigstellung des Jubiläumsbandes geriet man unter Druck. Das Büchlein zählte aus produktionstechnischen Gründen zu den sogenannten "Überhangtiteln", konnte also im vorgesehenen Planjahr nicht ausgeliefert werden. Außerdem gelang es nicht, die "cellophanierte" und somit repräsentative Ausgabe pünktlich zur Festversammlung vorzuhalten. Nach Fertigstellung werde er aber "sofort" einige Exemplare überbringen, "dabei können wir ja noch einige Gedanken zum Ablauf der Feier austauschen",[42] schrieb Marquardt am 8. Januar 1962 an Mayer. Am selben Tag rapportierte er Seghers, dass am 26. Januar neben den "offiziellen Persönlichkeiten" die "Repräsentanten des Verlagswesens, des Buchhandels, der Künstlerverbände, der Universitäten und Hochschulen und Angehörige sozialistischer Brigaden" am Festakt teilnehmen würden.
Der Verlag hielt getrennte Pressekonferenzen in Leipzig und Berlin eine bzw. zwei Wochen vor der Feierstunde ab und lenkte die Berichterstattung auf die Rolle der Universal-Bibliothek bei der sozialistischen Bildungs- und Erziehungsarbeit.[43] Doch die Leipziger Germanistikstudenten würden nicht zu den Anwesenden der Abendveranstaltung zählen. Denn Seghers las am Vormittag des 26. Januar im Germanistischen Institut in einer gesonderten Veranstaltung: "Da die Hörerkreise der beiden Veranstaltungen sich grundsätzlich unterscheiden, kann man durchaus in jedem Fall den selben Text vortragen."[44] Damit war auch gegenüber der Präsidentin des Schriftstellerverbandes sichergestellt, die Festgesellschaft im Gohliser Schlößchen würde unter sich bleiben.

Angesichts des Aufwands erscheint es paradox, dass die meisten "Persönlichkeiten" der zentralen Kulturelite aus den Ost-Berliner Ministerien und dem Parteiapparat am 26. Januar 1962 gar nicht nach Leipzig reisten, sondern einzig Hans Mayers Widersacher Alfred Kurella.[45] Die Wiederbegegnung der beiden Repräsentanten aus dem einstigen kommunistischen Führungszirkel – Kurella mit und Mayer ohne Parteibuch, Mayer auf Veranlassung der SED, die Kurella das höchste Amt für Kultur im Parteiapparat zugewiesen hatte, kulturpolitisch isoliert – stellte einen beklemmenden Höhepunkt in deren Beziehungen dar. Denn Kurella war nicht nur maßgeblich an der Durchsetzung der Doktrin des "sozialistischen Realismus" und vielen kulturpolitischen Interventionen beteiligt, gegen die Mayer seine Stimme erhoben hatte. Beide rivalisierten auch jahrelang um künstlerische Einflussnahme, und zwar mit ihren Übersetzungen des Prosawerks von Louis Aragon – einst Surrealist, aktives Mitglied der kommunistischen Partei in Frankreich und eine Integrationsfigur für die ostdeutschen bürgerlich geprägten linken Intellektuellen.
Während Mayers Übersetzung der "Karwoche" von Aragon in den renommierten Verlagen Biederstein in West- und Volk und Welt in Ostdeutschland im Herbst 1961 parallel erschien, könnte Kurella zeitgleich mit dem Europäischen Buchklub Zürich in Verbindung gestanden haben. Denn nicht in der DDR, sondern im Verlag des einstigen NS-Funktionärs und Lyrikers Gerhard Schumann[46] sollte Kurellas Version des Romans "Karwoche" herauskommen, ohne Angabe eines Erscheinungsjahres, aller Wahrscheinlichkeit nach vor dem Verkauf des Buchklubs an den Bertelsmann-Konzern 1962/63.
V. Showdown – "Kleine Festrede"

Der Festvortrag hätte unter dem Thema "Die 'zukünftige Vergangenheit', die hier auch 'vergangene Zukunft' ist",[48] stehen können. Seghers' autobiografische Erzählweise von "Der Ausflug der toten Mädchen" aufgreifend, begann Mayer mit persönlichen Erinnerungen und – einer Indiskretion. Während der gemeinsamen Rückreise von der Münchner PEN-Tagung im Jahr 1954 mit Johannes R. Becher, Erich Wendt, dem damaligen Leiter des Aufbau-Verlags und der Lenin-Abteilung im Partei-Institut für Marxismus und Leninismus, und Alexander Abusch – das müsse hier "nun leider gesagt werden" – habe Anna Seghers "ein Groschenheftchen" gelesen, "nicht von Bill Lane [ein Mickey Spillane; handschriftliche Korrektur von Hans Mayer] oder eine Kriminalgeschichte, sondern das, was man mit einem schönen unübersetzbaren Ausdruck eine 'Schnulze' nennt." Seghers habe dafürgehalten, es sei "eine faszinierende Geschichte." Denn aus der "unerträglichen Rührseligkeit" sei "eine echte Ergriffenheit", aus der "von einem beauftragten Scribenten hingeschriebenen Gelegenheitssache […] ein Menschenschicksal geworden."
Nach einer Goethe-Replik mit allerlei Wort-Pirouetten bescheinigt Mayer der Autorin "Genialität" und die "Einheit des Menschen und seines Werks". Daraufhin wendet er sich neuen Themen und Schlagworten der Zeit zu, beispielsweise dem Diskurs über den Unterschied in den Begriffen "Dichter" und "Schriftsteller", der damals in Westdeutschland geführt wurde, und über Ulbrichts "Unterscheidung von uneigentlicher und eigentlicher Kunst" – ohne eine eindeutige Haltung zu beziehen. Am Ende seiner Ausführungen kommt er auf eine Figur aus dem Seghers-Roman "Die Entscheidung" zu sprechen.[49]
Herbert Melzer sei kein Dichter, "aber ein Schriftsteller, ein Mann der geistigen Entscheidung, der Entscheidungsmöglichkeit." Melzer habe einst im Spanischen Bürgerkrieg gekämpft, aber den Kontakt zu "den Freunden" verloren und sei ein Erfolgsschriftsteller in Amerika geworden. Im Unterschied zu dem Typus des Unterhaltungsschriftstellers stelle Anna Seghers den Typus einer Dichterin dar, die mit den Möglichkeiten des "Dichtertums" nicht "Missbrauch" getrieben habe wie ihre Figur.
Weil kein Ereignis im 20. Jahrhundert die traditionelle politische Rollenverteilung und die Hoffnungen der Linken derart in Frage gestellt hat wie der Spanische Bürgerkrieg, in dessen Folge es im gesamten sowjetischen Machtbereich zwischen 1948 und 1957 zu zahlreichen Parteisäuberungen gekommen ist, und weil – wie Mayer 1953 gesehen hatte – "wir" alles noch nicht "überwunden" haben und etwas "faul ist im Staate DDR",[50] sprach er indirekt von den Bedrohungen, die von den "Freunden" ausgehen. Die Teilnehmer am Spanienkrieg, die vornehmlich aus dem westlichen Exil zurückgekehrt waren, hatten sich von den sowjetischen "Freunden" und ihren Helfershelfern dem Vorwurf des "Trotzkismus", der Komplizenschaft mit dem Imperialismus und – sofern sie Juden waren – des Zionismus ausgesetzt gesehen und waren in den Fünfzigerjahren zu hohen Gefängnisstrafen verurteilt worden.
In der Erwähnung des Spanischen Bürgerkriegs und in der aufgezeigten Perspektive vom "erfolgreiche[n] Schriftsteller in den USA" scheint in der emotionalen wie ambitionierten Rede ein Widerspruch auf, den Mayer nicht auflöst, sondern mit einer immer geschickteren Steigerung von Etabliertem in Bildlichkeit und rhetorischer Verfahrensweise zu bezwingen sucht.
Reaktionen auf die "Kleine Festrede" sind kaum bekannt geworden. Die Regionalpresse berichtete vorauseilend oder bezog sich nachträglich auf das Pressematerial des Verlages. Überregional hat Günter Caspar im "Sonntag" einige "braune Barden und Reichskulturkammer-Gefeierte" im Stuttgarter Reclam-Programm entdeckt, "die da alle, alle fröhliche Urständ" feierten. Aber: "Nicht im Fünf-Stock-Neubau der Stuttgarter Separatisten, sondern immer noch in Leipzig ist der Reclam-Verlag beheimatet."[51]
Der Dank des Verlages, von Hans Marquardt gleichlautend an Anna Seghers und an Hans Mayer gerichtet, klingt erleichtert und unterkühlt: "Schon heute glaube ich sagen zu können, daß die Begegnung im Gohliser Schlößchen in der langen Geschichte unseres Verlages ihren besonderen Platz" haben werde.[52]
Ob Mayer der Bitte des Lektorats nachgekommen ist, aus seiner "so erfrischend unmittelbaren Festansprache" etwas herauszulösen, was "auch außerhalb des Gesamtzusammenhangs sehr wirkungsvoll für sich stehen kann", lässt sich nicht nachweisen.[53] Jedenfalls erschien in den Verlags-Mitteilungen im März 1962 zur Buchmesse seine Rede ab Seite 4 vom Typoskript.
Resümee
Die kulturpolitischen Diskontinuitäten seit den Jubiläumsfeiern 1953 und 1954 im Jahr 1962 in eine Kontinuität umzumünzen, wäre einer öffentlichen Kritik gleichkommen, der sich Hans Mayer geschickt entzog. Nachdem der Redner in der Laudatio zwischen Provokation und Unterwerfung, Widerspruch und sachdienlicher Phrase hin und her gewechselt war, resümierte er, Anna Seghers habe "die Einheit ihres Lebens und ihres Werkes bewahrt." Herbert Melzer, der die sowjetischen Freunde im Stich gelassen hat, sei als amerikanischer Erfolgsschriftsteller zu einem Abweichler und DDR-Flüchtling geworden, dessen Gedicht indes gültig geblieben und Teil der Kulturgeschichte geworden sei.[54] Hans Mayer hat es seinen Zuhörern überlassen, sich ihren Reim auf die gefilterten Erinnerungen vom "exemplarischen Leben" und von der "exemplarischen Kunst" Anna Seghers' zu machen. Insofern er sich "verwickelt und versklavt" von den Herrschaftsstrukturen zeigte,[55] stellt die "Kleine Festrede" auch ein exemplarisches Beispiel für das Scheitern von Hans Mayers wahrscheinlich letztmalig in der DDR öffentlich vorgetragenen Bemühungen um Reformen im kommunistischen System dar. In seiner Bereitschaft, die damit einhergehenden Unterwerfungen – noch – zu akzeptieren, passte er sich nicht nur den Verhältnissen an, sondern konstituierte sie – noch – mit.
Der Leipziger Reclam-Verlag widmete dem Werk von Anna Seghers fortan besondere Aufmerksamkeit. Schon im Sommer 1963 wurde Christa Wolf gebeten, eine Seghers-Biografie zu schreiben.[58] Nach Gesprächen mit Seghers entschied sie sich, eher auf das Werk als auf die Biografie einzugehen, um "vor allem auf alle Freudschen Deutungsversuche [zu] verzichten", die in den vom Reclam-Verlag mitgeschickten "Bändchen" des Rowohlt Verlages – Wolfgang Borchert, Georg Büchner, Hans Fallada, Knud Hamsun, Gerhart Hauptmann, Robert Musil, Rainer Maria Rilke, Kurt Tucholsky –"manchmal überaus reichlich" vorhanden seien.[59] Nachdem der vertraglich festgelegte Termin 1. März 1964 verstrichen war, haben sich Christa Wolf und der Verlag gütlich darauf geeinigt, das Buchprojekt zu beenden.
Auch Hans Mayer wurde nicht vergessen. Am Jahresanfang 1967 fragte der nunmehrige Lektor Jürgen Teller seinen früheren Lehrer Ernst Bloch, "wie" der Reclam-Verlag Hans Mayer "eine Reminiszenz zu seinem 60. widmen" könne.[60] Erschienen ist schließlich Mayers Übersetzung von Aragons "Karwoche" aus dem Jahr 1961, nicht wie geplant 1969, im Nachgang zum kurzen europäischen "Frühling" von Paris und Prag, doch immerhin 1973, ein halbes Jahr nach Ablauf der dreimal verlängerten Lizenz des Verlages Volk und Welt, mit Nennung des Namens des Übersetzers im Druckgenehmigungsantrag und im Reclam-Buch.[61]