Ulrich Müthers Schalenbauten im Bauwesen der DDR
VI.
Ulrich Müthers Unternehmen war nicht das einzige, das in der DDR im Spritzbetonverfahren arbeitete. Auch andere Firmen verfügten über die notwendigen Geräte und setzten sie ein.[45]Sein Alleinstellungsmerkmal gegenüber diesen Baufirmen war allerdings, dass Müther die Planung und Ausführung ambitionierter Schalenbauten aus einer Hand anbieten konnte. Er verfügte über umfassende Kenntnisse des internationalen Betonschalenbaus,[46] entwarf und berechnete die unterschiedlichsten Varianten, übernahm gewissermaßen die Funktion eines projektierenden Architekten und konnte den Bau mit seiner Firma auch selbst realisieren.
Seine hervorgehobene Position in der Bauwirtschaft der DDR beschrieb Müther folgendermaßen: "Die PGH Bau hat dann überwiegend die Planung und Baudurchführung des Gebäudes als Generalauftragnehmer übernommen. Wir haben also das Komplettpaket gemacht, so ähnlich wie es in Frankreich üblich ist. Dort übernehmen die Baubetriebe auch die Architektenleistung mit. Und das war an sich mein Erfolgsrezept. Jeder, der mit Müther in Binz einen Vertrag machte, bekam ein fertiges Projekt und musste nachher nicht suchen, ob irgendjemand es ausführte, sondern es wurde so ausführt. Ob das immer gut geworden ist, ist die nächste Frage, aber auf jeden Fall habe ich gebaut."[47] Als Generalauftragnehmer konnte er rationelleres Arbeiten und eine schnellere Ausführung eines Projekts gewährleisten. Es entfiel die umständliche Abstimmung zwischen den planenden und ausführenden Betrieben. So stellte Müther beispielsweise in einem Brief an den Chefredakteur der "Ostseezeitung" klar, dass bei der Rostocker Messehalle "Erdöl & Bauwesen" die kurze Bauzeit von 150 Tagen inklusive der Projektierung nur möglich gewesen sei, "weil Projektierung und Bauausführung in einer Hand" lagen, der seinen.[48]
Die Sonderstellung Müthers steigerte zudem sein überregionales Ansehen und führte dazu, dass potentielle Auftraggeber auch selbst an ihn herantraten und ihn um Zusammenarbeit baten, sodass ein Auftrag nicht immer von Müthers eigenem Engagement abhing. Dies geht beispielsweise aus einem Schreiben des Wohnungsbaukombinates (WBK) Magdeburg an Müther hervor: Die Planungsabteilung des WBK wandte sich an ihn im Rahmen eines beabsichtigten Schirmschalenprojekts für ein Neubauwohngebiet und berichtete von der erfolglosen Suche nach einem Betrieb, der bereit wäre, Schalenbauwerke herzustellen. Das WBK erbat in dem Brief Müthers Expertenmeinung in Bezug auf herstellungstechnische Details.[49] Wie bei der mit Schirmschalen überdachten Speisegaststätte "Kosmos" im Wohngebiet Magdeburg-Reform deutlich wird, kam es einige Jahre später tatsächlich zur Zusammenarbeit.
Müther war allerdings nicht in alle Betonschalenprojekte in der DDR involviert. Zum Beispiel wurde 1978 eine Sporthalle in Kienbaum mit einer Zylinderschale aus Stahlbeton überdacht, die im Trockenspritzverfahren hergestellt wurde,[50] aber in den Archivalien Müthers nicht verzeichnet ist. Allerdings arbeiteten nicht viele Baufirmen in der DDR mit Betonspritzmaschinen in derselben Weise wie die Müthers. Zudem gab es niemanden, der vom Entwurf bis zur Realisierung alle Kompetenzen beherrschte. Der von Müther geleitete Baubetrieb hatte aufgrund dieser Faktoren eine unbestrittene Sonderstellung in Bezug auf den individuell projektierten, handwerklich hergestellten Betonschalenbau im Gesellschaftsbau der DDR inne. Mit seinen Entwürfen bediente er ein Bedürfnis nach baukünstlerischer Modernität: "Für den Schalenbau war in der DDR vieles möglich. Der Staat zeigte gern Neues und war in Bezug auf Bauen nicht so konservativ"[51], erklärte Müther.
Für seine Ausnahmestellung innerhalb des Bauwesens der DDR gab es weitere Gründe: Müther war politisch nicht aktiv. Auf die Frage, wie sich "ein solcher Individualist" wie er im "Einheitsstaat" DDR behaupten konnte, sagte Müther rückblickend im Jahr 2001: "Ich war immer parteilos. Wir haben aber erfolgreich gebaut und haben interessant gebaut. Und wir haben natürlich auch den ganz großen Vorteil gehabt: Wir waren in keinem Kombinat, wir waren ja so Außenseiter. Wir saßen an der Ostsee, auf der Insel Rügen, weit ab von Berlin, Rostock, Dresden. Und wir wurden etwas gebraucht. Einmal für die Auslandsbauten, einmal auch für diese Prestigebauten hier in der ehemaligen DDR."[52]
Neben den Aspekten der geografischen Randlage seines Betriebes und der Aufmerksamkeit, die er mit seinen außergewöhnlichen Konstruktionen erregte, erwähnte Müther in einem Gespräch mit der Regisseurin Margarete Fuchs rückblickend noch einen dritten Gesichtspunkt, nämlich dass er über gutes Personal verfügt habe, über Mitarbeiter, die gern etwas Ausgefallenes planen und bauen wollten: "Ich hatte an sich den Ruf, dass man in Binz etwas Außergewöhnliches machen kann und dann sind auch sehr gute Leute gekommen. Ich hatte sehr gute Mitarbeiter auch im technischen Bereich. Zum Beispiel einen Jan Müller, Bauingenieur, der hat mich mal nach einem Vortrag an der TU Dresden angesprochen und sagte, er wolle mal was Interessantes machen, und ist dann von Berlin nach Binz gekommen und hat bei uns im Konstruktionsbüro mitgemacht. Und ich habe mir einen ganz eigenwilligen Architekten geholt aus Weimar, der mich dort angesprochen hatte und von dem Freunde gesagt haben: 'Der kann was, der würde zu deinem Team passen.' […] Und so waren wir hier eine kleine Elite-Truppe an der Ostsee. Es war immer ein kleines Kollektiv, nie groß."[53]
Die Möglichkeit, seinen Betrieb unter den Bedingungen der sozialistischen Bauwirtschaft fast wie ein Privatunternehmen führen zu können, war Müthers Erfolgsgeheimnis. Dadurch, dass er in der Provinz lebte und nicht unter ständiger staatlicher Kontrolle stand, genoss er etwas mehr Freiraum als andere Betriebe und konnte sich seine Eigenständigkeit bewahren.
Obwohl Müther nicht als der alleinige Schöpfer der Schalenarchitekturen anzusehen ist, da er bereits im Entwurfsstadium fast immer mit Architekten zusammenarbeitete, kann trotzdem durchaus von "Müther-Schalen" gesprochen werden, da er mit seinem Betrieb die Projekte üblicherweise vom Entwurf bis zur Fertigstellung hauptverantwortlich betreute und die Kontrolle von der Tragwerksplanung bis zur -ausführung beibehielt.[54] Damit hatte er eine ähnliche Stellung inne wie ein heutiges projektleitendes Architektur- oder Planungsbüro. Durch seine Spezialisierung auf die Planung, Konstruktion und Durchführung von anspruchsvollen Betonschalentragwerken konnte er mit seinem "Unternehmen" als einziger ein Bedürfnis der damaligen Baupolitik bedienen: Die DDR brauchte ihn als Spezialisten für Sonderbauten.[55] In dieser Rolle hat Ulrich Müther eine Nische gefunden und sie genutzt.