Jehovas Zeugen und die DDR-Erinnerungspolitik – Das Beispiel Ravensbrück
Jehovas Zeugen fanden in den Nationalen Mahn- und Gedenkstätten der DDR, die den Opfern des Nationalsozialismus (NS) gewidmet waren, keine Erwähnung. Von Gedenkzeremonien waren sie ausgeschlossen. Wenn eine Nennung dieser NS-Opfergruppe unumgänglich war, verwendete man Synonyme. Am Beispiel Ravensbrück lässt sich dies nachvollziehen.
1933 lebten im Deutschen Reich rund 25.000 Angehörige der Religionsgemeinschaft Jehovas Zeugen, die bis 1931 unter dem Namen Ernste Bibelforscher bekannt war. Etwa 10.700 wurden von den Nationalsozialisten unmittelbar verfolgt. Rund 8800 deutsche Zeugen Jehovas wurden inhaftiert, 2800 von ihnen kamen in die Konzentrationslager (KZ), wo sie als eine eigenständige Häftlingsgruppe mit einem lila Winkel gekennzeichnet wurden. Etwa 950 deutsche Zeugen verloren durch die NS-Verfolgung ihr Leben. Das bedeutet, dass im Deutschen Reich fast 43 Prozent aller Zeugen Jehovas verfolgt und etwa 35 Prozent inhaftiert wurden.
Nach Kriegsende erlaubte die Sowjetische Militäradministration in Deutschland (SMAD) in der Sowjetischen Besatzungszone (SBZ) 1947 die Religionsausübung von Jehovas Zeugen. Gleichzeitig behinderten regionale sowjetische Militärbehörden ihre Aktivitäten, auch durch Festnahmen. Eine erneute Verfolgung in der DDR schloss sich 1950 an. Denn die DDR-Staatsführung duldete nicht, dass Zeugen Jehovas aufgrund ihres Glaubens die Teilnahme an Wahlen, politischen Initiativen und den Wehrdienst verweigerten. Von 1945 bis 1985 wurden 6047 Zeugen Jehovas verhaftet. Aufgrund von Anklagen wegen angeblicher Spionage, Kriegs- und Boykotthetze wurden sie unter Anwendung von Gesetzen, die ursprünglich für den Umgang mit Kriegsverbrechern und Nationalsozialisten verfasst waren, verurteilt. Insgesamt 62 Männer und Frauen kamen in den Haftanstalten der SBZ/DDR ums Leben.[1]
Erste Gedenkveranstaltungen nach Kriegsende
Die sogenannte Schutzstaffel (SS) errichtete im Mai 1939 in Ravensbrück das größte Frauenkonzentrationslager im Deutschen Reich. 1941 entstand in unmittelbarer Nachbarschaft ein selbstständiges Männerlager. Im April 1945 wurde das KZ Ravensbrück von der sowjetischen Armee befreit. Das Gelände gehörte bis 1994 zum Standort der 2. Garde-Panzerarmee der Westgruppe der sowjetischen Truppen. Diese unangemessene Nutzung war in Ost- wie Westdeutschland kein Einzelfall. So fanden die ersten Gedenkveranstaltungen der ehemaligen Ravensbrück-Häftlinge an anderen Orten statt.Am 12. Mai 1946 wurde der erste Jahrestag der Befreiung in der Stadt Oranienburg begangen.[2] Im Jahr darauf, am 10. März 1947, fand im Berliner Haus des Kulturbundes ein Treffen der ehemaligen Häftlingsfrauen statt. An der Veranstaltung nahm Karl Raddatz (1904-1970), früherer kommunistischer Widerstandskämpfer und Generalsekretär der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes (VVN), teil. Er erklärte, so wie die Frauen im Lager Ravensbrück zusammengehalten hätten, müsse alle Verfolgten aus der Zeit der „Hitler-Diktatur“ ein festes Band miteinander verbinden. Nach seinen Vorstellungen sollte die gerade gegründete VVN eine überparteiliche und überkonfessionelle Organisation werden.[3]
Die frühen Ravensbrücker Gedenkveranstaltungen organisierte die VVN in Zusammenarbeit mit dem Demokratischen Frauenbund Deutschland (DFD). Die 1947 gegründete Frauenorganisation war ursprünglich aus den antifaschistischen Frauenausschüssen der SBZ hervorgegangen und sollte eine parteipolitisch und religiös unabhängige Organisation sein. Sie entwickelte sich, genau wie die VVN, im Zuge der Verschärfung des Ost-West-Konfliktes aber schnell zu einer Massenorganisation im Gefolge der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands (SED). Am 14. September 1948 fand erstmals in Ravensbrück eine öffentliche Gedenkveranstaltung statt. VVN-Mitglieder hatten zuvor das verwahrloste Gelände des ehemaligen KZ außerhalb des sowjetisch besetzten Lagerbereichs notdürftig hergerichtet.[4] Seitdem wurden regelmäßig Gedenkveranstaltungen auf dem ehemaligen Lagergelände durchgeführt.
Als am 11. Juni 1949 eine Arbeitstagung der VVN-Mecklenburg stattfand, setzten sich die Frauen der Vereinigung mit Nachdruck dafür ein, dass in Ravensbrück eine würdige Gedenkstätte entstehen sollte.[5] Anlässlich des Gedenktages für die Opfer des Faschismus fanden am 10. und 11. September 1949 Feierlichkeiten in Berlin und Ravensbrück statt. Die VVN führte gleichzeitig eine Friedenswoche durch. Unter den Teilnehmenden aus vielen europäischen Ländern befanden sich auch Mitglieder des Internationalen Verbandes ehemaliger politischer Gefangener (FIAPP), sowie VVN-Delegationen aus Westdeutschland.[6] Am 10. September versammelten sich auf dem Marktplatz in Fürstenberg Tausende Menschen und nahmen an einer Kundgebung teil. Mit dabei waren etwa 70 ehemals im KZ Ravensbrück inhaftierte Frauen. Nach der Kundgebung begaben sich etwa 10.000 Teilnehmer zu einem Demonstrationszug in das ehemalige Konzentrationslager, wo der Grundstein für ein Ehrenmal gelegt wurde.[7]
Diese Gedenkveranstaltungen spiegelten den sich zuspitzenden Ost-West-Konflikt wider: Die Zeitungen veröffentlichten die von Teilnehmenden geäußerte Kritik an der Politik Westdeutschlands. So wiesen Mitglieder der Jüdischen Gemeinde Meldungen zurück, dass sich einer ihrer Vertreter auf dem Kongress in Paris über neuen Antisemitismus im Osten Berlins beklagt hätte. Das Gegenteil sei der Fall: Im Gegensatz zum Wiederaufleben des Antisemitismus im Westen würden in der SBZ große Mittel zur Wiederherstellung jüdischer Friedhöfe zur Verfügung gestellt.[8] Eine Hamburger Gruppe der Freien Deutschen Jugend (FDJ) führte die „Urne des Unbekannten Konzentrationärs“ mit, deren Beisetzung in Hamburg vom dortigen Senat abgelehnt wurde und die nun im Rahmen der Kundgebung beigesetzt werden sollte.[9] Andererseits ließen sich die ostdeutschen Machthaber von ihren Gästen öffentlich belobigen: So zeigte sich eine norwegische Delegation „begeistert“ von dem in der SBZ geleisteten Aufbau.[10] Die Erklärungen der ostdeutschen Gastgeber offenbarten deutlich eine Instrumentalisierung der NS-Vergangenheit durch die SED.
Deren Parteivorstand hatte in einem Aufruf erklärt, dass der amerikanische Imperialismus einen neuen Krieg anstrebe und er forderte, dass die Opfer der Widerstandskämpferinnen und -kämpfer aus der Zeit von 1933 bis 1945 nicht vergebens gewesen sein dürften. Dazu sollten sich alle „ehrlichen Deutschen“ in der Nationalen Front zusammenfinden, „zum Kampf für den Frieden, für die Einheit und Unabhängigkeit unseres Vaterlandes“.[11] Eine Vertreterin aus Polen erklärte gegenüber den „Ostdeutschen“: „Ihr steht nicht allein, euch unterstützt in eurem Kampf um Einheit und Frieden die große Sowjetunion und das von ihr vom Faschismus befreite Polen. Mit vereinten Kräften werden wir die Pläne der Imperialisten zunichte machen."[12] In den Ablauf der Gedenkveranstaltungen wurden die kommunistischen Massenorganisationen einbezogen. Der Demonstrationszug von Fürstenberg nach Ravensbrück ging auf der von Häftlingsfrauen erbauten Straße mitten durch ein Spalier von Jungen und Mädchen der FDJ und Jungen Pioniere.[13] Die Berliner Zeitung kommentierte diese Ereignisse und sagte, dass durch die Grundsteinlegung für das Ehrenmal in Ravensbrück „Erfindungen über eine angebliche Wiederinbetriebnahme dieses Lagers widerlegt werden“.[14] Mit anderen Worten: Dem Gelände von Ravensbrück sollte das Schicksal von Sachsenhausen und Buchenwald erspart bleiben, die von 1945 bis 1950 Speziallager des sowjetischen Volkskommissariats für innere Angelegenheiten (auf Russisch abgekürzt NKWD, ab 1946 MWD) waren.
Der „Friedenskongress“ vom 4. September 1950

Am 31. August 1950 wurden die Zeugen Jehovas in der DDR verboten. Das Verbot und die anschließenden Verfolgungsmaßnahmen fielen in die Zeit, in der der DFD erneut ein internationales Treffen in Fürstenberg und im ehemaligen KZ Ravensbrück durchführte. Am 3. September 1950 sollten 500 Delegierte an einem „Friedenskongress“ teilnehmen. Für eine Manifestation am selben Tag wurden 25.000 Frauen aus der gesamten DDR und dem Ausland erwartet.[16] Die Veranstaltungen wurden vom DFD mehr denn je zur Unterstützung der SED-Politik benutzt, insbesondere zur Vorbereitung der bevorstehenden Wahl. Elli Schmidt (1908-1980), Vorsitzende des DFD, verglich die Politik Westdeutschlands mit dem Nationalsozialismus, indem sie schrieb, die „imperialistischen Kriegstreiber“ wollten mithilfe von NS-Kriegsverbrechern „erneut Ravensbrück, Maidaneck, Auschwitz erstehen“ lassen.[17]
Was die Landeszeitung vom 4. September 1950 unter dem Titel „Nie wieder Ravensbrück!“ über den „Friedenskongress“ berichtete, muss die aus den Konzentrationslagern befreiten Zeuginnen und Zeugen Jehovas erschüttert haben. Während der Tagung wurde gegen ihre angebliche „Agententätigkeit“ Stellung bezogen. Es wurde erklärt, „daß es nicht angehe, noch länger Sekten zu dulden, die im Auftrag der USA-Imperialisten zum Kriege hetzen. Der Kongress nahm einstimmig eine Entschließung an, in der das Verbot der Zeugen Jehovas gefordert wird“. Die Regierung der DDR wurde daraufhin in einem Telegramm aufgefordert, Jehovas Zeugen zu verbieten, weil „die Mitglieder dieser Sekte die ihnen in der Verfassung gewährten Freiheiten mißbrauchen. Wir dulden in unserer friedliebenden [DDR] keine Flüsterpropaganda, die im Auftrag der Anglo-Amerikaner unseren Aufbau sabotieren will“.[18] Dieser Bezug wurde hergestellt, weil die Zeugen Jehovas Ende des 19. Jahrhunderts in den USA gegründet wurden und sich dort noch immer ihre Zentrale befand.
Auf Grund des bereits zuvor ergangenen Verbots war jedoch schon ein Großteil der Zeugen Jehovas verhaftet worden. Der einstimmige Beschluss des Friedenskongresses war Teil der staatlich gelenkten Hetzkampagne gegen die Glaubensgemeinschaft und sollte das Verbot nachträglich rechtfertigen. Dass die Teilnehmerinnen der Tagung die Politik der SED unterstützten, geht aus dem Pressebericht klar hervor. Die Kundgebung am Krematorium des ehemaligen KZ mit Kranzniederlegung war für die in Ravensbrück inhaftierten Zeuginnen Jehovas wie ein Schlag ins Gesicht.[19] Von ihren Leidensgefährtinnen verraten, wurde nun ihre Rolle in den Konzentrationslagern totgeschwiegen.
Die Nationale Mahn- und Gedenkstätte Ravensbrück
Am 2. Dezember 1953 wurden durch einen Beschluss des Zentralkomitees (ZK) der SED die Weichen für die Ausgestaltung des Gedenkens im ehemaligen KZ Ravensbrück gestellt.[20] Bis dort eine Gedenkstätte entstand, sollten noch einige Jahre vergehen. Erst am 12. September 1959 wurde sie mit einer Rede Rosa Thälmanns (1890-1962), Überlebende des Frauen-KZ Ravensbrück, eingeweiht. Darin beschwor sie, dass „im Osten Deutschlands die Lehren aus der unheilvollen Vergangenheit gezogen [seien]. Das Vermächtnis der Toten von Ravensbrück und die großen Ideen des antifaschistischen Freiheitskampfes sind hier Wirklichkeit geworden.“[21]Als Ehrengast war DDR-Justizministerin Hilde Benjamin (1902-1989) geladen, die 1950 als Vizepräsidentin des Obersten Gerichts der DDR in einem Schauprozess Zeugen Jehovas zu teils lebenslangen Haftstrafen verurteilen ließ, unter ihnen auch KZ-Opfer.[22] Ravensbrück war nach Buchenwald und vor Sachsenhausen die zweite der drei Nationalen Mahn- und Gedenkstätten (NMG) in der DDR. Das 1961 für die NMG herausgegebene Statut enthielt auch Regelungen über die inhaltliche Konzeption der Gedenkstätten. Sie sollten vor allem den kommunistischen Widerstand darstellen, aber auch auf das „Wiedererstehen von Faschismus und Militarismus in Westdeutschland“ verweisen.
Deutlich gemacht werden sollte, dass in der DDR „die Wurzeln des Faschismus ausgerottet“ seien. Damit waren die NMG untrennbar mit dem in der DDR offiziell propagierten Antifaschismus verbunden. Nach Günter Morsch, Leiter der Gedenkstätte Sachsenhausen und Direktor der Stiftung Brandenburgische Gedenkstätten, sei es daher nicht „grundsätzlich falsch, die NMG als eine Art ‚Tempel des Antifaschismus’ zu bezeichnen“.[23] Nach den Worten des Historikers Manfred Agethen waren die NMG Buchenwald, Ravensbrück und Sachsenhausen die „Hauptorte des verordneten Antifaschismus in der DDR“.[24] Sie wurden als Stätten politischer Kundgebungen und als Legitimation für das kommunistische System benutzt. Dabei ging es nicht um die Würdigung der Opfer, denn ein Teil der überlebenden Häftlinge wurde bewusst ausgegrenzt. Das zeigte sich weiterhin in den Befreiungs- bzw. Gedenkfeiern, die in den NMG durchgeführt wurden.
Erstmals wurden 1975 bei einer solchen Manifestation in der NMG Sachsenhausen religiöse Gruppen erwähnt, und zwar durch einen französischen Redner, der angab, dass auch „Christen“ dem Widerstand angehört hätten.[25] 1980 folgte dann eine Erwähnung unterschiedlicher religiöser Gruppen, die Hermann Axen – Mitglied des Politbüros des ZK der SED – in der NMG Buchenwald aufzählte: „Wir verneigen uns vor allen Opfern des Faschismus, den Kameraden katholischen, protestantischen und jüdischen Glaubens.“[26] Es sollte bis 1988 dauern, bevor in Ravensbrück anlässlich des 50. Jahrestages der Novemberpogrome eine erste Veranstaltung zum Gedenken an die ermordeten Juden stattfand. Gleichwohl blieben die verfolgten Christen und Juden in Gedenkfeiern und der Berichterstattung darüber lediglich eine Randnotiz. Im Zentrum standen die sogenannten antifaschistischen Helden: die kommunistischen Häftlinge und die sowjetischen Kriegsgefangenen.
Neben den Zeuginnen und Zeugen Jehovas wurden auch weitere Häftlingsgruppen, so zum Beispiel die sogenannten asozialen Häftlinge, nicht nur aus den Häftlingslagergemeinschaften, sondern auch aus der Erinnerung entfernt. Insa Eschebach, Leiterin der Gedenkstätte Ravensbrück, fasst dies wie folgt zusammen: „Indem nun diese Verfolgten von den Akten des Gedenkens ausgeschlossen waren, wurde zugleich die Existenz dieser Gruppen in der Gesellschaft in die Unsichtbarkeit gedrängt.“[27] Das bestätigt die Berichterstattung des Neuen Deutschland (ND) anlässlich der Feier zur Befreiung des KZ Ravensbrück im Jahr 1975. In einem Beitrag wurde behauptet, dass unter den „ersten 867 Häftlingen […] fast ausschließlich Kommunistinnen, Sozialdemokratinnen und andere Antifaschistinnen“ gewesen seien.[28]
Dass die größte Gruppe unter den ersten Häftlingsfrauen Zeuginnen Jehovas waren, wurde ignoriert. Und da diese für die SED keine „Antifaschistinnen“ waren, kann man davon ausgehen, dass ihre Rolle in Ravensbrück verschwiegen werden sollte. Denn die Berichterstattung im ND war kein Einzelfall. Dort, wo in der Widerstandshistoriografie der DDR eine Nennung von Jehovas Zeugen nicht zu umgehen war, wurde einfach die Begrifflichkeit geändert und von „Häftlingen aus religiösen Gruppen“, von „Geistlichen“ oder „Sektierern“ gesprochen.[29]
Selbst die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in der NMG Ravensbrück hatten kaum Möglichkeiten, sich über die Verfolgung der Zeuginnen und Zeugen Jehovas im Nationalsozialismus zu informieren. Das dort vorliegende Quellenmaterial war defizitär. Mit dem Internationalen Suchdienst des Deutschen Roten Kreuzes in Arolsen, einem Zentrum für Dokumentation, Information und Forschung über die nationalsozialistische Verfolgung, NS-Zwangsarbeit sowie den Holocaust, gab es nur minimale Kontakte. Die Sammlung von Akten und Berichten, die Erika Buchmann (1902-1971), eine Ravensbrück-Überlebende, zusammengetragen hatte, war in der Gedenkstätte nicht vorhanden. Wer den Bestand einsehen wollte, benötigte eine staatliche Genehmigung. Dem Gedenkstättenarchiv war lediglich eine Sammlung ausgewählter Zitate aus diesem Bestand übergeben worden. Immerhin war man im Besitz einer nicht offiziellen Kopie der Zugangslisten des KZ.
Teilweise kamen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter auch an Literatur aus Westdeutschland, die von Verlagen und Einzelpersonen der NMG übergeben worden waren. Im Archiv gab es nur ganz wenige Originale zur Geschichte von Jehovas Zeugen im Lager: zwei Exemplare von Bibelforscher-Literatur, die in das KZ geschmuggelt worden waren, und im KZ heimlich geschriebene Psalmen. Dennoch, wie es Monika Herzog, ab 1986 für den museologischen Bereich der Gedenkstätte verantwortlich, ausdrückte: „Man wusste sehr wenig und wollte auch nichts wissen.“[30] Die ersten konkreten Informationen zu den Zeuginnen Jehovas in Ravensbrück erhielt sie in den 1980er Jahren durch das Buch von Margarete Buber-Neumann (1901-1989) „Als Gefangene bei Stalin und Hitler“. Dieses befand sich im „Giftschrank“ der Bibliothek und durfte nur mit Genehmigung des Direktors gelesen werden. Nach der Lektüre, so Monika Herzog, habe sie die DDR-Politik und die KZ-Forschung mit anderen Augen gesehen und begonnen, zu den Zeuginnen Jehovas im Lager zu recherchieren.[31]
Noch 1984, als das „Lagermuseum“ im Kommandanturgebäude neu eröffnet wurde, spiegelte die Ausstellung die Vorstellungen der DDR-Geschichtsschreibung wider: Widerstandsformen und Häftlingsgruppen, die nichts mit der kommunistischen Ideologie zu tun hatten, wurden nicht oder kaum erwähnt. Der individuelle Widerstand und die Darstellung persönlicher Lebensschicksale waren nur spärlich dargestellt. Die Zeugen Jehovas wurden in der Darstellung nicht beachtet.[32] Sie hatten keine Fürsprecher, niemanden, der sich für die Erinnerung an ihr Schicksal einsetzte. Sie waren noch immer „Staatsfeinde“.[33] Das Museum trug nicht umsonst den Namen „Museum des antifaschistischen Widerstandskampfes“. Die Konzeption für die Ausstellung war durch den Beschluss des Sekretariats des ZK der SED vom 24. August 1983 vorgegeben. Nachgewiesen werden sollte, dass der „opferreiche antifaschistische Kampf Teil der bis in die Gegenwart reichenden Klassenauseinandersetzung zwischen Sozialismus und Imperialismus“ sei. Monika Herzog erklärte hierzu, das „Lagermuseum“ sei ein „aufgepfropftes“ Museum gewesen, an dessen Entstehung die wissenschaftlichen Mitarbeiter der NMG nicht teilnehmen durften. Es wurde von ihnen auch nie angenommen.[34]
Monika Herzog wollte sich dafür einsetzten, dass das Schicksal der Zeuginnen und Zeugen Jehovas in Ravensbrück dargestellt werden konnte. Von 1987 bis 1989 wurde sie beauftragt, die Neugestaltung von Gedenkräumen im „Zellenbau“ zu realisieren. Den damaligen „Internationalen Gedenkraum“ wollte sie überarbeiten und den nicht präsenten Haftgruppen der Juden, der Sinti und Roma und der Zeugen Jehovas einen Platz geben.[35] Schon vor diesem Vorhaben war der „Internationale Gedenkraum“ umstritten. Die Konzeption der Gedenkstätte Ravensbrück vom August 1985 wollte diesen Raum „allen Personen aus dem ehemaligen deutschen Reichsgebiet [widmen], die aus politischen, religiösen oder rassischen Gründen im FKZ [Frauenkonzentrationslager] Ravensbrück inhaftiert waren“. Und immerhin erwog man dabei, eine Erwähnung der Zeugen Jehovas zu prüfen.[36]
Die Prüfung endete zu Ungunsten der Häftlingsgruppe. Auch das von Monika Herzog eingereichte Konzept wurde abgelehnt. Trotz der seit den 1980er Jahren eingesetzten „Pluralisierung der Formen und Inhalte des Gedenkens“ in Ravensbrück, die „nicht so sehr von den staatlichen Institutionen, sondern eher ‚von unten’“[37] kam, fanden Jehovas Zeugen in den Ausstellungen der NMG Ravensbrück als KZ-Opfergruppe bis zum Jahr 1991 keine Erwähnung.
„Unter Jehovas Schutz“ – Zwei Frauen und ein Filmemacher in Ravensbrück
Dass sich in der Erinnerungspolitik eine Öffnung anbahnte, macht ein Auftrag deutlich, mit dem Monika Herzog im Januar 1989 vom Direktor der NMG Ravensbrück, Egon Litschke, beauftragt wurde. Der westdeutsche Filmemacher Fritz Poppenberg wollte für den Sender Freies Berlin (SFB) eine Dokumentation über Zeuginnen Jehovas im FKZ Ravensbrück drehen.[38] Die Redaktion des SFB glaubte nicht, eine Drehgenehmigung zu bekommen. Fritz Poppenberg erinnert sich, kurz nach der Antragstellung eine Reihe Anrufe bekommen zu haben, die er nicht einordnen konnte. Er vermutet, dass es sich bei den Anrufern um Mitarbeiter des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) gehandelt habe, die ihn überprüfen wollten. Er und die Redaktion waren überrascht, als man die Drehgenehmigung erteilte.Bei einem ersten Besuch in Ravensbrück traf sich Fritz Poppenberg mit dem Direktor, den er als „absolut ängstlichen Mann“ in Erinnerung hat, der „irritiert darüber war, dass ich an den Zeuginnen Jehovas interessiert war“. Auch Monika Herzog traf er dort. Am Drehtag, so erinnert sich Fritz Poppenberg, bekam er einen „journalistischen Begleiter" zugeteilt.[39] Monika Herzog hatte die Aufgabe, den Dreh zu betreuen und entsprechende Auskünfte zu erteilen. Ihr war signalisiert worden, dass es für den Dreh eine staatliche Genehmigung gab, die man nicht hätte verweigern können. An den Vorgesprächen hatten eine ganze Reihe von Personen teilgenommen, unter ihnen auch solche, von denen man annehmen musste, dass es Mitarbeiter des MfS waren. Beim Dreh am 29. Januar 1989 waren aber keine dieser Personen anwesend.

Die Mahn- und Gedenkstätte Ravensbrück
Im April 1990 wurde – wie jedes Jahr – mit Kranzniederlegungen der Häftlinge der Konzentrationslager gedacht. Dabei erinnerte Hans Jacobus (1923-2003), der in der DDR als Journalist tätig war, daran, dass zahlreiche Verfolgte des Naziregimes, darunter Gläubige verschiedener Konfessionen, Bibelforscher, Homosexuelle und Zwangssterilisierte, in der Vergangenheit nicht als solche anerkannt worden waren. Das müsse sich nun endlich ändern.[41] In der NMG Ravensbrück entschloss man sich – inzwischen unter der kommissarischen Leitung von Monika Herzog – die Ausstellung im „Museum des antifaschistischen Widerstandskampfes“ symbolisch zu schließen.Die umstrittene Ausgestaltung des „Internationalen Gedenkraumes“ konnte nun fortgeführt werden. Seit 1990 wird in einer Vitrine durch Dokumente und Erinnerungsstücke erstmals der in Ravensbrück inhaftierten Zeuginnen Jehovas gedacht. An einer Neugestaltung des Museums in Ravensbrück wurde nach der deutschen Wiedervereinigung ab 1991 gearbeitet. Darin sollte nun auch die Opfergruppe der Zeugen Jehovas gewürdigt werden.[42] 1993 wurde die Gedenkstätte, aus deren Bezeichnung man das Wort „Nationale“ strich, Teil der Stiftung Brandenburgischer Gedenkstätten. 1993 eröffnete dann eine neue Dokumentationsausstellung. Im darauffolgenden Jahr kam eine biografische Ausstellung mit dem Titel „Ravensbrückerinnen“ dazu. Jehovas Zeugen wurden darin nicht mehr ausgeblendet.[43]
In den nächsten Jahren erinnerte die Mahn- und Gedenkstätte Ravensbrück in verschiedener Weise an das Schicksal der dort inhaftierten Zeuginnen und Zeugen Jehovas. Am 6. November 1996 fand die Welturaufführung des von Jehovas Zeugen produzierten Videofilms „Standhaft trotz Verfolgung“ in Ravensbrück statt.[44] Im Jahr 2007 war dort im „Zellenbau“ die vom Geschichtsarchiv der Zeugen Jehovas in Deutschland konzipierte Ausstellung „Lila Winkel in Ravensbrück“ zu sehen. Anlässlich der Eröffnungsveranstaltung am 28. Februar 2007 betonte die Gedenkstättenleiterin Insa Eschebach: „Wir haben hier etwas gut zu machen!“ Damit meinte sie die Ausblendung der Opfergruppe in der NMG Ravensbrück bis zum Jahr 1990.[45]

Willi Pohl (1919-2008), ehemals Präsident der Religionsgemeinschaft Jehovas Zeugen in Deutschland, sagte 2006 anlässlich des 60. Jahrestag der Befreiung der Häftlinge aus den Konzentrationslagern Sachsenhausen und Ravensbrück sowie aus dem Zuchthaus Brandenburg: „Es leben nur noch wenige Zeugen Jehovas aus der Generation unter uns, die miterlebte, wie Andersdenkende stigmatisiert und durch Staatsunrecht grausam verfolgt wurden. […] Hunderte NS-Opfer [gehörten] in der damaligen DDR ab 1950 wegen ihres Glaubens erneut einer verbotenen Religion an und [wurden] zu hohen Zuchthausstrafen verurteilt. […] Für das Gedenken an die NS-Opfergruppe der Zeugen Jehovas hat die Stiftung Brandenburgische Gedenkstätten seit einigen Jahren anlässlich des Befreiungstages in Sachsenhausen entsprechende Möglichkeiten geschaffen.“[47]
Zitierweise: Falk Bersch, Jehovas Zeugen und die DDR-Erinnerungspolitik – Das Beispiel Ravensbrück, in: Deutschland Archiv, 21.3.2019, Link: www.bpb.de/287677