"... es gibt gute Gründe, den 13. August nicht aus dem Auge zu verlieren."
Die Erinnerung an die Berliner Mauer seit 1990
Die Berliner Mauer wurde nach 1990 zunächst aus dem Berliner Stadtbild verdrängt, bis zunehmend auf diese Leerstelle hingewiesen wurde. Zum 50. Jahrestag des Mauerbaus zeichnet es sich nun ab, dass die Erinnerung an die Mauer das Gedenken an die SED-Diktatur dominieren könnte.I.
"Manche von Ihnen werden sich gefragt haben: Weshalb hat sich die Enquete-Kommission des Deutschen Bundestages so dafür eingesetzt, heute des Mauerbaus in Berlin vor 35 Jahren zu gedenken? Reicht es nicht, daß die erste Enquete-Kommission ['Aufarbeitung von Geschichte und Folgen der SED-Diktatur in Deutschland'] dieses Ereignis in mehreren Expertisen und Anhörungen zu analysieren versucht hat? Ist nicht der 17. Juni der angemessene Gedenktag für alles das, was die SED-Diktatur bis zu ihrem Sturz im Herbst 1989 ausmachte? Ich glaube, es gibt eine ganze Menge guter Gründe dafür, auch den 13. August nicht aus dem Auge zu verlieren."[1]
Mit dieser Erklärung rechtfertigte Rainer Eppelmann 1996 in seiner Begrüßung zur Gedenkstunde des Deutschen Bundestages, dass die – zweite – Enquete-Kommission "Überwindung der Folgen der SED-Diktatur im Prozeß der deutschen Einheit" den 35. Jahrestag des Baus der Berliner Mauer zum Anlass nahm, an dieses Ereignis zu erinnern und ihm eine eigene Veranstaltung zu widmen.
Nunmehr weitere 15 Jahre später hat die Erinnerung an den Mauerbau und das Leben in der geteilten Stadt und einer geteilten Welt ihren Platz nicht nur im Gedächtnis der Stadt, sondern in der öffentlichen Diskussion und in der kollektiven Erinnerung zurück erobert. Vielmehr verdrängte sie im 50. Jahr des Mauerbaus auch die Erinnerung an den Aufstand vom 17. Juni 1953, indem bereits im Juni 2011 nicht mehr die Erinnerung an den Volksaufstand, sondern die letzten Wochen vor dem Mauerbau medial und in wissenschaftlichen Diskussionen im Mittelpunkt standen. Nachdem die Erinnerung an die Teilung der Stadt durch das politische Berlin jahrelang stiefmütterlich behandelt wurden, forderte der ehemalige Regierende Bürgermeister von Berlin, Eberhard Diepgen, nunmehr, Teile der Mauer zu rekonstruieren und so "Geschichte erlebbar" zu machen.[2]
Bei allen unterschiedlichen Vorstellungen darüber, wie das Gedenken an die Mauer und die Teilung lebendig gehalten wird, scheint es, als hätten sich die Stadt und ihre Verantwortlichen mit der Geschichte versöhnt. Vergessen sind die ersten 15 Jahre nach dem Mauerfall, die vor allem im Zeichen der Beseitigung der meisten Spuren der 28 Jahre dauernden Teilung der Stadt standen.
II.
Die Bilder aus der Nacht vom 9. auf den 10. November 1989 gehören zu den Ikonen der Weltgeschichte. Die durch die geöffneten Grenzübergänge strömenden Menschenmassen, die auf der Mauerkrone sitzenden und tanzenden Menschen sind aus dem öffentlichen Bildergedächtnis nicht mehr wegzudenken. Obwohl es für die Machthaber der SED in der DDR auch Wochen nach dem Mauerfall keineswegs ausgemachte Sache war, dass die Mauer und die Grenze dauerhaft geöffnet bleiben würden, ging bereits am 10. November 1989 eine erste Anfrage aus Bayern bei der DDR-Regierung ein, in der angeboten wurde, "nicht benötigte Teile Ihrer Grenzsicherungsanlagen" gegen Devisen zu kaufen.[3] Am 14. November 1989 schließlich wandte sich eine Unternehmensberatung an die Ständige Vertretung der DDR in Bonn und empfahl – da der Handel mit Teilen der Berliner Mauer nicht mehr aufzuhalten sei –, dass die DDR-Seite doch "bei aller Zwiespältigkeit" bedenken sollte: "Gehandelt wird mit Mauerteilen, woher sie auch immer stammen mögen. Wenn aber schon, dann halte ich es für sinnvoll, daraus auch Devisen zu machen."[4]

Nachdem in den Wochen und Monaten nach dem Mauerfall immer wieder Nachfragen nach Mauerteilen aus aller Welt eingegangen waren, beschloss die DDR-Regierung unter Hans Modrow am 7. Dezember 1989 bzw. am 4. Januar 1990, die Mauer zu verkaufen. Man erhoffte sich auf diese Weise, die vor dem Bankrott stehende DDR-Wirtschaft retten zu können. Anlass zu diesen Hoffnungen gaben Anfragen, denen zufolge für ein Mauerteil bis zu 500.000 DM geboten wurde.[5] Da die politische Entwicklung bis zum Jahresende 1989 ohnehin gezeigt hatte, dass die SED-Herrschaft nicht mehr zu retten und nicht nur die Berliner Mauer, sondern die gesamte innerdeutsche Grenze geöffnet worden war, stand der Abbau der einst am besten bewachten Grenze fortan auf der Tagesordnung. Und so lag es nahe, wenigstens einen Teil der Kosten über den Verkauf der Mauer zu refinanzieren. Um der verunsicherten und empörten Bevölkerung in der DDR die Gründe für das Geschäft mit der Mauer zu erläutern, startete die DDR-Regierung zu Weihnachten 1989 eine Informationskampagne. Damit sollten die in Beschwerdebriefen an die DDR-Regierung gerichtete Kritik aufgegriffen und zugleich der als alternativlos angesehene Verkauf begründet werden. Die Empörung über den Verkauf der Mauer richtete sich gegen die Regierung, die erst jahrzehntelang die Bevölkerung eingesperrt und auf Flüchtlinge rücksichtslos geschossen hatte und nunmehr ebenjene "Schandmauer", an denen Menschen ermordet worden waren, zu Geld machen wollte. Die Regierung begründete ihre Entscheidung für den Verkauf der Mauer im Wesentlichen mit drei Argumenten:
1. Die DDR brauche Devisen;
2. die Mauer sei Volkseigentum; und
3. somit sollten die Erlöse der gesamten DDR-Bevölkerung, beispielsweise über soziale Projekte, zugute kommen.

Der Wunsch nach den langen Jahren der Teilung und Trennung zu einer innerstädtischen Normalität zurückzukehren, war nur zu verständlich. Kaum jemand konnte sich 1990 vorstellen, dass es einmal Forderungen geben könnte, die der Stadt und den Menschen zugefügte Wunde wieder sichtbar zu machen. Für eine möglichst schnelle Überwindung der Teilung und ihrer Folgen in der Stadt schien das möglichst vollständige Entfernen der Mauer der geeignete Weg zu sein. Zugleich nahm man damit in Kauf, dass die Vorstellung davon, was die Mauer, für die Stadt und für das Leben der Menschen bedeutet hatte, zunehmend verblasste. Nicht nur die Besucher Berlins, deren Interesse an Berlin auch in der Mauer begründet lag, fragten zunehmend ratlos: Wo war denn nun die Mauer?

Während die Mauer mit deutscher Gründlichkeit aus der Stadt entfernt wurde, erfreuten sich Mauerteile großer Beliebtheit und Nachfrage in aller Welt. Vor allem in den ersten Jahren nach dem Mauerfall wurden Denkmäler aus Mauerteilen in über 40 Ländern der Welt errichtet. Mittlerweile gibt es weltweit über 140 Denkmäler, in denen 600 Mauerteile verwendet wurden.
III.
1991 wurde in Berlin an den 30. Jahrestag des Baus der Berliner Mauer erinnert. In der medialen Berichterstattung war vor allem die Realgeschichte der Zeit um den 13. August 1961 Thema. Dass in Berlin selbst kaum mehr etwas an die Teilung erinnerte, wurde hingegen kaum beachtet und nicht erwähnt. Vielmehr Beachtung fand in diesem Zusammenhang der Spruch von der "Mauer in den Köpfen" zwischen Ost- und Westdeutschen, die längst die real nicht mehr existierende Mauer abgelöst hätte.

Als das Denkmal 1998 an der Bernauer Straße eingeweiht wurde, hagelte es Kritik an der kalten und abstrakten Gestaltung, die keine Vorstellung davon gebe, was die Mauer eigentlich gewesen war. Gleichzeitig wurde von Opfervertretern immer wieder das Desinteresse am 13. August und den Opfern gerügt – eine Klage, die bereits 1996 zum 35. Jahrestag von Klaus-Peter Eich als Vertreter der Opfer formuliert worden war. Die 1998 eingeweihte Anlage an der Bernauer Straße änderte daran nichts Grundlegendes. Zum einen wurde das Denkmal und die Erinnerungsarbeit am Ort nach wie vor von einem vor allem ehrenamtlich arbeitenden Verein und der Kirchgemeinde betrieben. Die Finanzierung und die personelle Ausstattung waren über lange Jahre hinweg mehr als prekär. Dass der Ort "Bernauer Straße" sich zu dem Erinnerungsort an die Berliner Mauer entwickeln konnte, hatte vor allem mit dem Engagement der Enthusiasten vor Ort zu tun. Für die Politik schien die Erinnerung an die Mauer und das 1998 eingeweihte Denkmal außerhalb der Gedenktage am 13.8. und am 9.11. in Vergessenheit geraten zu sein.