Hans Mayer und der 17. Juni 1953
Ein unbekannter Text
Hans Mayer und der 17. Juni – 1991
Es liegt nahe, die erneute Auseinandersetzung Hans Mayers mit dem 17. Juni 1953 sieben Jahre später als Variante des autobiografischen Kapitels von 1984 zu betrachten. Doch ist im fünften Kapitel des Buches "Der Turm von Babel", das er seinem Freund Stephan Hermlin[5] gewidmet hat, in Argumentation und Gegenargumentation zweifellos ein Erkenntnisgewinn zu verzeichnen, auch wenn der DDR-Emigrant von 1963 die westdeutsche Forschungsliteratur zum Thema offensichtlich nicht kennt. Für ihn sind "Westvariante" und "Ostvariante" der Deutung dieses Tages, also Staatsfeiertag auf der einen Seite und bewusst vollzogene Abstinenz, Ursachen, Verlauf und Wirkung des Aufstands zu ergründen ("planmäßige Vernebelung"), auf der anderen nur zwei Seiten einer Medaille, also in gleicher Weise verwerflich. Für die DDR-Nomenklatura, die "herrschende Klasse", wenn man so will, die ihre Machtpositionen unangetastet sehen wollte, war demnach der Aufstand vom 17. Juni nichts weiter als ein "ohnmächtiger Versuch des westlichen Klassenfeinds, den antifaschistisch-demokratischen Staat der Werktätigen an seinem Wege in den real existierenden Sozialismus zu hindern. Auf Einzelheiten musste nicht eingegangen werden."
Einige Passagen aus dem Text von 1984 sind freilich erneut aufgenommen worden, beispielsweise der unermüdlich durch Jahrzehnte tradierte DDR-Topos von den Westagenten auf Fahrrädern, den er aber zu entschärfen sucht: "Doch, die Flitzer hat es gegeben, aber die Revolte war trotzdem eine Revolte. Sie war hausgemacht und im Kern sicher nicht vom Westen importiert." Den kommunistischen Juden, die verfolgt wurden und in deren Reihen zu stehen er fürchtete, fügt er noch einen Namen an, den Rudolf Herrnstadts, des noch 1953 gestürzten Chefredakteurs der SED-Zeitung "Neues Deutschland", den er einen "schneidend scharfen und kritischen Journalisten" nennt.
Beim Lesen dieses Kapitels kann man sich des Verdachts nicht erwehren, dass Hans Mayer, der schon als Mitglied der Organisation "Rote Kämpfer" vor 1933 eine marxistische Schulung durchlaufen hat, sich in der DDR-Geschichte und ihrer Interpretation gründlicher auskennt, als er hier zugeben möchte. So spricht er, was 1953 offen zutage lag, von der "Wirklichkeitsblindheit der Partei- und Staatsführung" und vom "selbstherrlichen Walten der Parteifunktionäre". Und der unbestreitbare Gipfelpunkt seiner Analyse: von der "wachsenden Verelendung" der Arbeiter durch die "Normenschinderei"! Wer hier die Kapitalismuskritik eines Karl Marx im Ohr hat, hat recht gehört.
Allerdings fragt man sich verwundert, warum Hans Mayer an diesem Punkt stehen bleibt und dann nicht auch, wenn er so weit vorangeschritten ist in seinem analytischen Bemühen, den letzten Schritt wagt und den Aufstand der Arbeiter, wie der von ihm bewunderte Bertolt Brecht, eine Revolution nennt, wenn auch eine gescheiterte wie die von 1848 und die von 1918. Hier bewegt Mayer sich argumentativ zwischen den Positionen der westdeutschen Forschung und der DDR-apologetischen, die vom "Putschversuch", der niedergeschlagen wurde, spricht. Er nennt den Aufstand nur "jene Revolte" oder "mehr Generalstreik statt Revolution", weil er sonst zu Folgerungen genötigt wäre. Um seine Argumentation, die zwischen den Fronten schwebt, aufzuwerten, nennt er die "Bonner Politik ... traditionalistisch und regressiv", das aggressive DDR-Schimpfwort "reaktionär" vermeidet er. Immerhin findet die "Gruppe 47" sein volles Lob, da sie "schroff gegen den offiziellen Bonner Zeitgeist" eingestellt gewesen wäre.
Mit dieser Erkenntnis freilich ist nichts gewonnen, denn die dreieinhalb Millionen Flüchtlinge, die bis zum Mauerbau 1961, und die Tausende, die danach unter Einsatz ihres Lebens die innerdeutsche Grenze überschritten haben, sind nicht wegen der Gesellschaftskritik der "Gruppe 47" ins "kapitalistische" Westdeutschland gekommen, sondern aus einem Dutzend anderer Gründe. Nirgendwo in diesem Text aber wird angedeutet, dass der SED-Staat eine Diktatur war, dass die DDR-Regierung zu keinem Zeitpunkt demokratisch gewählt war und dass Verhaftung riskierte, wer die vorenthaltenen Freiheiten dort einforderte. Man fragt sich deshalb, welcher der beiden deutschen Nachkriegsstaaten das epitheton ornans "reaktionär" verdient hätte!