Die Jüngste als Sorgenkind?
Plädoyer für eine jüngste Zeitgeschichte als Varianz- und Kontextgeschichte von Übergängen
Die deutsche Zeitgeschichtsforschung sollte sich ihren Blick auf die jüngste Vergangenheit nicht durch Zäsuren, Ereignisse oder Narrative verstellen lassen. Als multiperspektivische Varianz- und Kontextgeschichte langer Übergänge in Ost und West könnte sie einen Weg finden, zeitgenössische Phänomene zu historisieren.Suche nach Orientierungspunkten

Vorbehalte gegen ein solches Unterfangen beziehen sich – erstens – auf die spezifische Quellenlage; zweitens wird ein Mangel an Distanz vermutet, der das Urteilsvermögen des Historikers eintrübe und so eine Analyse "sine ira et studio" erschwere; drittens wird die Unabgeschlossenheit vieler Entwicklungsprozesse unterstrichen, die eine historiografische Deutung und Beurteilung verhindere. Diese Vorbehalte münden in der Auffassung, derlei gegenwartsnahe Forschungen seien "gar nicht mehr als Zeitgeschichte im Engeren zu fassen".[5]
Im Folgenden wird hier angesetzt und diskutiert, welches Potenzial eine selbstkritische und multiperspektivisch ausgerichtete Zeitgeschichtsforschung zur gegenwartsnahen Vergangenheit, das heißt: der letzten 30 Jahre, haben könnte. Nach einer Diskussion der genannten Kritikpunkte im ersten Abschnitt werden verschiedene Blickwinkel der deutschen ZeithistorikerInnen auf die jüngste Vergangenheit skizziert, bevor in einem dritten Teil der Frage nachgegangen wird, welche Konturen eine jüngste Zeitgeschichtsforschung in zeitlicher, räumlicher, methodischer wie thematischer Hinsicht haben könnte. Vor dem Hintergrund einer immer häufiger diagnostizierten "Ermüdung"[6] der zeithistorischen Debatten sind die folgenden Überlegungen als bewusst offen gestalteter Beitrag zur weiteren Diskussion im Rahmen einer lebendigen "Streitgeschichte"[7] zu verstehen.