In seinem Buch "Demokratie jetzt – Der schwierige Weg zur deutschen Einheit" beschreibt das Gründungsmitglied Gerhard Weigt aus der Sicht eines Zeitzeugen Geschichte und Vorgeschichte der Bürgerbewegung "Demokratie jetzt". Geschildert wird das Werden, das Wachsen und Reifen von Opposition und Widerstand im System DDR der Jahre 1986 bis 1990. Dabei steht das Handeln der einzelnen Akteure im Mittelpunkt. Dieser Prozess war langwierig und wurde anfangs mehr durch äußeres Geschehen vorangetrieben, als dass er einem durchdachten Plan entsprach. Das Deutschland Archiv veröffentlicht hier leicht veränderte Auszüge.
Ein ungewöhnlicher Sommer in der DDR. Die stille Revolution im Vorfeld der friedlichen Revolution des Herbstes 1989
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Vertreter der Bürgerbewegung "Demokratie jetzt" beraten in einem Landesdelegiertentreffen über Organisationsform und Programm, Januar 1990 (© Bundesarchiv, Bild 183-1990-0121-003, Foto: Klaus Oberst)
Noch bevor die Akteure im April 1987 mit ihrem Synodalantrag "Absage an Praxis und Prinzip der Abgrenzung"
Die hier gewählten Auszüge schildern das sich dramatisch dynamisierende politische Umfeld des Jahres 1989 in der DDR, das den Aufbruch der kirchlichen Initiative "Absage an Praxis und Prinzip der Abgrenzung" zur politischen Bürgerbewegung "Demokratie jetzt" wesentlich mitbestimmte. Abgesehen von den Besonderheiten in Polen
Die Farce der Kommunalwahlen vom 7. Mai 1989. Quo vadis DDR?
Am 9. Mai kam der Initiativkreis "Absage an Praxis und Prinzip der Abgrenzung" bei Hans-Jürgen Fischbeck in der Berliner Bötzowstraße in aufgeräumter Stimmung zusammen. Zwei Tage zuvor hatten die kleinen, aber gut organisierten oppositionellen Gruppen in sensationeller Weise die sich stets als moralisch unantastbar gebende Staatsmacht eines offensichtlichen Wahlbetrugs überführt, und die Anwesenden waren bei der Planung und der Ausführung dieser Aktion beteiligt gewesen. Die von den Gruppen bei der öffentlichen Stimmenauszählung in den vier Berliner Stadtbezirken Friedrichshain, Mitte, Prenzlauer Berg und Weißensee flächendeckend gezählten Nein-Stimmen gegen die Einheitsliste der "Nationalen Front" überstiegen bei weitem die von der Wahlkommission offiziell angegebenen Zahlen. Der oberste Wahlvorstand hatte auf die Warnungen des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) nicht gehört und am Wahlabend eine Zustimmung der Bevölkerung zur Einheitsliste von 98,85 Prozent bei einer Wahlbeteiligung von 98,78 Prozent verkündet. Der Initiativkreis selbst hatte bei seinen Kontrollen bereits um die 10 Prozent Nein-Stimmen gezählt. In dieser Größenordnung bewegten sich dann auch die DDR-weit gesammelten Resultate. Der oberste Wahlvorstand hatte damit gegen die Verfassung der DDR verstoßen und sich strafbar gemacht. Nach SED-offizieller Deutungsart konnten die "festgestellten bzw. beabsichtigten provokativen rechtswidrigen Handlungen" der "inneren Feinde" gegen den Wahlvorgang aber nur fremdgesteuert sein:
"Dabei ist ein stabsmäßig organisiertes und koordiniertes Vorgehen feindlicher, oppositioneller Kräfte und ihr abgestimmtes Zusammenwirken mit den in Westberlin agierenden Feinden der DDR, Hirsch und Jahn, sowie mit in der DDR akkreditierten Korrespondenten zu erkennen."
An jenem 9. Mai also trafen sich Wolfgang Apfeld, Michael Bartoszek, Stephan Bickhardt, Martin Böttger, Hans-Jürgen Fischbeck, Martin König, Ludwig Mehlhorn, Konrad Weiß und Gerhard Weigt. Sie alle kannten sich seit langem aus der Mitarbeit in der Aktion Sühnezeichen und verschiedenen Aktionen der DDR-Friedensbewegung innerhalb und auch außerhalb "kirchlicher Räume", und es einte sie ihre Kritik an den bestehenden politischen Verhältnissen in der DDR. Zuletzt erschien Wolfgang Ullmann, der die Gesprächsrunde schmunzelnd eröffnete: "Also, wir wollen etwas für unsere Enkel tun." Nach revolutionärem Elan klang das nicht. Aber bei Voltaires Worten, dass es gefährlich sei, recht zu haben, wenn die Regierung unrecht habe, wollte man es auch nicht bewenden lassen.
Die Wahlfälscher in Bedrängnis
Abgesehen eines schon am 8. Mai von Bartoszek unter anderem erfolgten "Einspruchs gegen die Gültigkeit der Wahl" versuchte der Initiativkreis erst gar nicht, bei staatlichen Stellen zu protestieren und sprach kurzerhand die Kirchen an. Wir gingen davon aus, dass die staatliche Seite in der derzeit eskalierenden Situation am ehesten bereit sein würde, mit der Kirche zu reden. Deshalb wandten wir uns mit einem Schreiben "An die Leitungsgremien der an der Ökumenischen Versammlung beteiligten Kirchen, an die Arbeitsgemeinschaft Christlicher Kirchen, an die Berliner Bischofskonferenz, an die Konferenz der Kirchenleitungen". Wir wollten diese Kirchen motivieren, die von ihnen mitgetragenen Beschlüsse der Ökumenischen Versammlung selbst ernst zu nehmen, um eine Demokratisierung in der DDR voranzubringen:
"Um uns in unserer Gesellschaft zurechtzufinden und an ihrer Gestaltung teilzunehmen, müssen wir Übereinstimmung finden über das, was ist, was bleiben und was werden soll."
Die Beschlüsse der Ökumenischen Versammlung, an der Fischbeck als Delegierter beteiligt gewesen war, hatten verfassungsrechtlich garantierte und verfassungsgerichtlich überprüfbare Rechtssicherheit eingefordert, auch Versammlungs- und Redefreiheit, ein demokratisches Wahlrecht und Freizügigkeit. Voraussetzung dafür war natürlich "eine klare Trennung der Kompetenzen von Staats- und Parteifunktionen", d.h. die Aufgabe des Führungsanspruchs der SED.
"Wir möchten Sie daher bitten, die bestehende unerträgliche Situation dadurch zu überwinden, daß Sie jetzt […] öffentlich eine unüberhörbare, versöhnliche, Vertrauen anbietende Bitte an den Staat richten, den ohnehin fälligen [...] großen Dialog mit allen verantwortungsbewußten Kräften über eine demokratische Umgestaltung unseres Staates und unserer Gesellschaft zu einer Neubestimmung des Verhältnisses von Partei, Staat und Gesellschaft zu ermöglichen und zu eröffnen."
"Auch wir brauchen autorisierte Gesprächsrunden", hieß es im Schreiben. Ursprünglich stand dort "Auch wir brauchen einen Runden Tisch", was bei der Endredaktion aber ersetzt wurde, weil es auf die in Polen am Runden Tisch – ebenfalls durch Vermittlung der Kirche – verhandelten Ergebnisse hinwies, was von der SED als Drohung verstanden werden konnte.
Die Initiative zu diesem Schreiben kam von Fischbeck, der mich am 24. Mai telefonisch um ein Treffen bat, ohne Gründe zu nennen. Auf solche Weise entstanden oft Initiativen, die dann von der Gruppe mitgetragen wurden. Fischbecks Text schien fertig zu sein. Wir unterhielten uns vorsichtshalber im Garten. Ich hatte rein zufällig das Parteiorgan der SED, die Neues Deutschland vom 12. Mai mit Honeckers Danksagung an die Wahlkommission dabei, die Fischbeck noch in geeigneter Weise in den Text einfügte. Das Papier wurde am 30. Mai verabschiedet und am darauffolgenden Tag dem Leiter des Konsistoriums der Evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg Hans-Otto Furian zur Weiterleitung übergeben. – Eine Antwort erhielten wir nicht. – Auch die staatliche Seite reagierte nicht, vermutlich aus taktischen Gründen, denn das Schreiben war ihr, wie Recherchen ergaben, bekannt.
Der Brief enthielt auch konkrete Vermutungen, was geschehen könnte, wenn die staatliche Seite einfach versuchen würde, "zur real-sozialistischen Tagesordnung überzugehen":
"Noch eine "Wahl" nach dem alten Muster können wir uns nicht gefallen lassen. […] Konfrontation und Polarisation würden in unserer Gesellschaft zunehmen. Kirchliche Gruppen würden noch mehr die Rolle einer politischen Opposition spielen müssen und auch die Kirchen ein Stück weiter in diese Richtung ziehen."
Es war zu dieser Zeit noch nicht zu ersehen, dass sich das politische Umfeld so extrem dynamisieren würde. Noch konnte die Opposition hoffen, von der bedrängten SED demokratische Zugeständnisse zu erreichen. Dabei stimmte die im fernen China von Studenten getragene Demokratiebewegung, die weltweit große Sympathie erregte, die Menschen hoffnungsfroh, bis das Pekinger Massaker Träume in Albträume wandelte.
Kein himmlischer Frieden, nirgends
Am 3. und 4. Juni 1989 schlug die chinesische Regierung die friedlichen aber massiven Proteste in Peking mit brutaler Waffengewalt nieder. Dabei kamen Panzer zum Einsatz und Hunderte von Menschen zu Tode. Es folgte eine Welle der Repression mit Tausenden Verhaftungen und Prozessen mit Todesstrafen gegen die "Rädelsführer" des Protests. Die SED sah ihre Chance, die Opposition nun auch im eigenen Lande wieder zurückdrängen zu können. Schon am Tage nach dem Massaker war in Neues Deutschland zu lesen:
"Konterrevolutionärer Aufruhr in China wurde durch Volksbefreiungsarmee niedergeschlagen."
Und sie ließ die Abgeordneten der Volkskammer am 8. Juni tatsachenwidrig erklären, dass
"die von der Partei- und Staatsführung der Volksrepublik China beharrlich angestrebte politische Lösung innerer Probleme infolge der gewaltsamen, blutigen Ausschreitungen verfassungsfeindlicher Elemente verhindert worden ist. Infolge dessen sah sich die Volksmacht gezwungen, Ordnung und Sicherheit unter Einsatz bewaffneter Kräfte wieder herzustellen. Dabei sind bedauerlicherweise zahlreiche Verletzte und auch Tote zu beklagen."
Die Regierung der DDR schickte eiligst eine Delegation des Innenministeriums nach Peking. Egon Krenz, der infolge einer schon früher seitens der SPD ausgesprochenen Einladung vom 8. bis 10. Juni im Saarland weilte, verteidigte dort die Politik der DDR gegenüber China, und er drohte sogar: "Der Sozialismus steht nicht zur Disposition", und es sei "jede Änderung des Sozialismus auf Sand gebaut". Ab 1. Juli reisten in kurzer Folge Hans Modrow, Günter Schabowski, der offen das Recht der Kommunistischen Partei Chinas zur Niederschlagung der "konterrevolutionären" Aktivitäten betonte,
Von der Opposition wurde diese auffällige Solidarisierung mit China sehr wohl als eine auf sie gemünzte Drohung verstanden. Das Wort „chinesische Lösung“ war im Umlauf; die Kirchen füllten sich wieder mit Gedenk- und Protestveranstaltungen; junge Leute schlugen "Klagetrommeln" in Dresden, in Berlin, aber auch anderenorts, und überall wurden sie von Aufgeboten uniformierter Kräfte bedrängt. Am 27. Juni kamen etwa 2000 Besucher zu einem Klagegottesdienst in die Berliner Samariterkirche, und die Angst der Menschen, die dicht gedrängt im Raume standen, war körperlich zu spüren. Und jeder musste mit der Situation für sich allein fertig werden. Die einen wollten nur weg, und nicht wenige fuhren mit vagen Hoffnungen in den Urlaub nach Ungarn; die andern, die bleiben wollten, hatten ihre Zukunftschancen zu bedenken; und die Opposition begann sich neu zu formieren.
In gespenstischer Ruhe wächst das Fernweh der Ostdeutschen, und sie reisen
Es gehörte schon einiger Mut dazu, die symbolische Öffnung des Eisernen Vorhangs durch ungarische Grenzsoldaten am 2. Mai 1989 auch wirklich als Gelegenheit zum Entkommen zu nutzen. Es war damals in der Öffentlichkeit nicht bekannt, dass ungarische Grenztruppen bereits am 18. April bei Rajka mit dem probeweisen Abriss der Grenzanlagen zu Österreich begonnen und Fakten geschaffen hatten, bemerkenswerterweise genau einen Tag, nachdem ein Warschauer Gericht die Eintragung von Solidarność als Organisation von Arbeitern und Rentnern bestätigt hatte. Offiziell beschloss die ungarische Regierung den Abbau der Grenzanlagen aber erst am 18. Mai, als diese zur Hälfte schon nicht mehr existierten. Medienwirksam wurde das am 27. Juni vermittelt, als die Außenminister Ungarns und Österreichs, Gyula Horn und Alois Mock, an einem noch heilen Stück Grenze in der Nähe von Sopron mit Drahtscheren ein "erstes Loch" hineinschnitten.
Anfangs waren es nur Einzelne, die ihre Angst vor dem Grenzdurchbruch überwanden. Manche waren erfolgreich, andere wurden zurückgeschickt, aber nicht mehr in die DDR, wie das früher geschah. Das machte Mut, es erneut zu versuchen. Das geänderte Verhalten der ungarischen Behörden an den Grenzen hatte einen triftigen Grund. Ungarn war zum 12. Juni der UNO-Flüchtlingskonvention beigetreten, und Anfang August berichteten die Medien, dass Ungarn prüfe, DDR-Bürgern politisches Asyl zu gewähren und sie in begründeten Fällen in die Bundesrepublik ausreisen zu lassen. Vermutlich hat auch diese Ankündigung den massenhaften DDR-Tourismus nach Ungarn im Sommer 1989 beflügelt. Gorbatschow schien mit der Entwicklung in Ungarn keineswegs zufrieden gewesen zu sein, denn er versuchte sich ganz offensichtlich in die ungarische Politik einzumischen. Er ließ durch einen Vertrauten in Budapest ausrichten,
"daß man den Genossen Grósz in allen Dingen unterstützen sollte".
Es war in Ungarn aber kein Geheimnis, dass der Generalsekretär der Ungarischen Sozialistischen Arbeiterpartei Károly Grósz sich für eine "Wende" vorbereitete, das alte Regime zu restaurieren. Selbst die Reformer in den höchsten Regierungsämtern wie Ministerpräsident Miklós Nemeth waren sich nicht sicher, wie Gorbatschow reagieren würde, wenn ihre westorientierte Politik mit seinen Interessen ernsthaft in Konflikt geriete. Für Moskau blieb, wie von dort verlautete, die Mitgliedschaft im Warschauer Pakt, die Erfüllung der vertraglichen Verpflichtungen, der Sozialismus und die wesentliche Beteiligung der kommunistischen Parteien an der Machtausübung für die Ostblockstaaten unverzichtbar, und man wusste, dass Gorbatschow selbst Vielfalt in seinem Land nur im Rahmen seiner marxistisch-leninistischen Partei zugelassen wissen wollte.
Gorbatschow hatte auch Honecker gegenüber mehrfach betont, dass er eine stabile DDR wolle. Eine Lösung des schwelenden Aussiedlerproblems war auf dieser Basis nicht zu erwarten. Mit dem sich öffnenden "Eisernen Vorhang" in Ungarn und dem Weg über die Botschaftsbesetzungen in Warschau, Budapest und Prag, drohte es gar ein lodernder Brand zu werden. Das erzeugte bei vielen geradezu eine Ausbruchsstimmung, der mit Mauer und Stacheldraht umfriedeten DDR zu entkommen, in der sie keine lebenswerte Zukunft mehr erwarteten. Damit beschleunigte sich zwangsläufig die Destabilisierung der DDR, die nicht erst eintrat, als die politischen Gruppen im Spätsommer und im Herbst des Jahres 1989 aktiv wurden. Alles das beförderte die Politisierung der Oppositionssphäre in der DDR.
Eine neue Zeitrechnung beginnt. Die Opposition geht an den Start
Es war wiederum ein Jahrestag des Berliner Mauerbaus, der achtundzwanzigste, der für die Initiativgruppe "Absage an Praxis und Prinzip der Abgrenzung" zur Herausforderung werden und ihrem Engagement eine eindeutig politische Richtung geben sollte. Erst drei Jahre zuvor hatte der Prozess begonnen, der zum Synodalantrag und zur Initiativgruppe geführt hatte. Dem Ziel dieser Bemühungen, mit der inneren Öffnung der Gesellschaft zugleich auch die äußere des Landes zu erreichen, war man weder über die Synoden, noch über die Kirchen und auch nicht über die Ökumenische Versammlung näher gekommen. Es hatte nur zur weiteren Verhärtung des Staates gegenüber dem Bürger und gegenüber den Kirchen geführt.
Im Juli fragte Dieter Ziebarth, Pfarrer der Berlin-Treptower Bekenntniskirche, Hans-Jürgen Fischbeck, ob "Absage an Praxis und Prinzip der Abgrenzung“ zum traditionellen "Sonntagsgespräch" am 13. August 1989 zum Thema "Wenn Abgrenzung zum Prinzip wird" sprechen könne. Fischbeck sagte zu und bat Michael Bartoszek und mich um Koreferate.
Es war uns dreien bewusst, dass dieses Sonntagsgespräch in dieser Zeit und gerade am 13. August keine leicht zu bewältigende Aufgabe sein würde. Der Zustand der Gesellschaft hatte sich dramatisch verändert. Nicht mehr der bedrängte Mensch allein konnte jetzt oppositionelles Handeln bestimmen. Die Not des Landes hatte sich in den Vordergrund gedrängt. Konnte es hier Abhilfe geben? Gab es eine Aufgabe, die die Gruppe jetzt überhaupt erfüllen konnte? Solchen Fragen waren wir ausgesetzt, aber wir mussten uns entscheiden.
An jenem 13. August hatte ich damals vorsichtshalber in einer Seitenstraße geparkt. Als ich in die Straße kam, in der die Bekenntniskirche liegt, fand ich diese völlig menschenleer vor, nur von spätnachmittaglicher Sonne beschienen. Mein erster Gedanke war: "Wie komme ich hier durch?" Am Veranstaltungsort informierte uns Pfarrer Ziebart, dass die Situation brenzlig sei. Abends waren dann schon vor Beginn der für 19:45 Uhr angekündigten Veranstaltung verschiedenen Angaben nach 300, 400, gar 800 Personen erschienen. Der Raum war voll, man stand an den Wänden, saß auf dem Fußboden. Einige waren aber nur gekommen, um sich das anfängliche Programm des Liedermachers Hartmut Hannaske "Wer kriecht, der kann nicht fallen" anzuhören. Fischbeck hatte sich bereits zwei Stunden vor der Zeit bei seinem Freund Dietrich Berg eingefunden, der der Bekenntniskirche direkt gegenüber wohnte, denn er befürchtete, dass er vor seinem Auftritt weggefangen werden könnte. Die durch Hannaskes Lieder aufgewühlte Stimmung im Saal beruhigte sich während unserer doch eher akademischen Referate ziemlich bald. Fischbeck begann mit einer Klärung der Begriffe "Abgrenzung" und "Absage" und endete mit der schon vorher unter uns verabredeten Formel:
"Deshalb ist es an der Zeit, eine oppositionelle Sammlungsbewegung zur demokratischen Erneuerung ins Leben zu rufen."
Bartoszek sprach weitgehend frei über den Wandel in Polen, wo sich, anders als in der DDR, Regierung und Opposition zu halbwegs freien Wahlen verständigt hatten, die zu einem überwältigenden Votum für die Solidarność geworden waren. Und er betonte, dass die "Abgrenzungspolitik eine Fixierung der DDR-Gesellschaft auf den Westen" bewirke, dass jetzt aber "die Zeit drängt, den Blick zu wechseln, von West nach Ost." Ich sollte nach "neuen Wegen" für einen demokratischen Dialog suchen und vermutete,
In der Westberliner Tageszeitung taz erschien am 15. August der erstaunlich kenntnisreiche Artikel "Die Opposition geht an den Start". Das war kein Zufall. Zufall war, dass Stephan Bickhardt, der schon an der Seite von Ludwig Mehlhorn am Zustandekommen des Synodalantrages maßgeblich beteiligt war, zusammen mit Ronald Jahn am 14. August in der Redaktion der taz erschienen war. Bickhardt wusste zwar nichts von unserem Aufruf zur Sammlungsbewegung am 13. August, konnte aber mit Sachkunde aufwarten.
Für uns drei Akteure waren, wie zu erwarten, Auseinandersetzungen mit der Staatsmacht die Folge, die von der Staatssicherheit über die staatlichen Leiter der Akademie-Institute, deren Mitarbeiter wir waren, gesteuert wurde. Der Präsident der Akademie der Wissenschaften der DDR Werner Scheler, selbst im Dienst des MfS als "Gesellschaftlicher Mitarbeiter Sicherheit" (GMS) rief die Institutsdirektoren zum Rapport, hielt ihnen die Vergehen ihrer Mitarbeiter vor und forderte sie auf, unsere Entlassung zu betreiben. Von uns wurden schriftliche Stellungnahmen verlangt. Das MfS selbst eröffnete für die "Exponenten des politischen Untergrunds",
Der Initiativkreis "Absage an Praxis und Prinzip der Abgrenzung" traf sich schließlich, wie im Juni verabredet, am 12. September bei Michael Bartoszek in der Berliner Bersarinstraße. Kaum jemand wusste, dass es um eine Zäsur des bisherigen Selbstverständnisses der Initiative gehen, dass man sich fortan als Sammlungsbewegung mit politischem Anspruch verstehen würde, um sich in die gravierenden Auseinandersetzungen im Lande einzumischen. Fischbeck informierte über das Geschehen am 13. August in der Bekenntniskirche und warb darum, das von uns dort gegebene Versprechen auch zu erfüllen. Es kam bei der Vorstellung des Aufrufs Widerspruch auf; nicht gegen die Zumutung, Widerstand gegen die herrschende SED-Diktatur öffentlich zu leisten. Dazu waren alle Anwesenden widerspruchslos bereit. Kritik gab es – am deutlichsten wurde sie von Ludwig Mehlhorn geäußert – gegen den im Aufruf und in den hinzugefügten Thesen geradezu bekenntnishaft gebrauchten Begriff "Sozialismus", der nur missverstanden werden konnte, auch wenn es sich hierbei nicht um den real existierenden Sozialismus handelte. Im Aufruf war deutlich gesagt worden, "daß die Ära des Staatssozialismus zu Ende geht. Unser Land bedarf der friedlichen demokratischen Erneuerung".
"Demokratie jetzt" als außerparlamentarische Opposition
Die Arbeits- und Denkweise von "Demokratie jetzt" hatte sich gegenüber der von "Absage an Praxis und Prinzip der Abgrenzung" im Grunde auch später kaum verändert. Dazu hieß es in der zweiten Ausgabe der in unserem radix-Verlag herausgegebenen eigenen Zeitung Demokratie jetzt – Zeitung der Bürgerbewegung vom Oktober 1989: "Das Nachdenken über Weg und Ziel ist unsere Sache, ist Bürgerpflicht." Hatte die Gruppe nach der Kommunalwahlfälschung Ende Mai noch die Kirchen aufgefordert, Gespräche am runden Tisch zu vermitteln, bedeutete Dialog jetzt aber auch: "Friedliche Demonstrationen mit konstruktivem Ziel können ein Mittel des Dialogs sein." Mit dem Synodalantrag war es 1987 noch um die innere Öffnung der DDR-Gesellschaft gegangen, aus der die äußere Öffnung des Landes zwangsläufig folgen sollte. "Demokratie jetzt" wollte nun eine kompromisslos demokratisch verfasste DDR. Nicht die Kirchen wurden jetzt angesprochen, sondern der Bürger, und Dj benannte in derselben Ausgabe die Strategie:
"Nur über den Dialog kommen wir zur Demokratie, und der muß zuerst und vor allem in der Gesellschaft geführt werden und dann zwischen beauftragten Sprechern sowie Vertretern des Staates."
Die erste Auflage der Zeitung
"Wir lehnen den Führungsanspruch der SED ab und streben hierzu Verfassungsänderungen gemäß Artikel 106 der Verfassung an. […] Wir wollen ein Verfassungsgericht und eine entwickelte Verwaltungsgerichtsbarkeit […]. Wir wollen, daß die Mauer abgetragen wird. Wir sind zur kritischen Mitarbeit in allen Gesellschaftsbereichen bereit."
Für "Demokratie jetzt" galt:
"Wir stehen in keinem Konkurrenzverhältnis zu anderen Gruppierungen. Gemeinsam wollen wir Demokratie lernen und politische Mündigkeit erwerben."
Auch deshalb wurde auf Vorschlag von "Demokratie jetzt" am 4. Oktober eine Kontaktgruppe der Opposition gegründet, mit der schließlich nach dem Mauerfall das über ein halbes Jahr nachhaltig verfolgte Ziel der Gruppe, die Einberufung des Runden Tisches, erreicht wurde. Obwohl von den "Altparteien" nur die Liberal-Demokratische Partei Deutschlands (LDPD) die ihr von "Demokratie jetzt" überbrachte Einladung zum Runden Tisch öffentlich angenommen hatte, konnten die anderen Parteien einschließlich der SED, nachdem die evangelische Kirche angeboten hatte, den Runden Tisch im Dietrich-Bonhoeffer-Haus tagen zu lassen, sich dieser Einladung nicht mehr verweigern. Mit diesem Akt war die SED bereits der Grundlagen ihrer Herrschaft beraubt, allein über Inhalt, Form und Partner der gesellschaftlichen Kommunikation zu bestimmen. Mit den Beschlüssen an den Runden Tischen wurde ihre Macht weiter beschnitten, die ihr mit den Volkskammerwahlen vom 18. März 1990 schließlich ganz genommen wurde.
Zitierweise: Gerhard Weigt, Ein ungewöhnlicher Sommer in der DDR. Die stille Revolution im Vorfeld der friedlichen Revolution des Herbstes 1989, in: Deutschland Archiv, 19.5.2016, Link: www.bpb.de/227738
Dr. rer. nat., Jahrgang 1938, studierte Physik, war beruflich tätig in der mathematisch-physikalischen Grundlagenforschung und schrieb Veröffentlichungen zu Problemen der theoretischen Elementarteilchenphysik. Daneben war er Mitbegründer der Bürgerbewegung Demokratie jetzt, Mitinitiator des Zentralen Runden Tisches und Mitautor des Verfassungsentwurfs des Runden Tisches.