Was bedeuteten Mauerfall und Wiedervereinigung für Migrantinnen und Migranten im Einwanderungsland Deutschland? Zunächst für nicht wenige eine Angsterfahrung. Nach dem Mauerfall wurde an vielen Orten massiv Gewalt gegenüber Menschen ausländischer Herkunft in Deutschland ausgeübt, und Neonazis proklamierten vor allem in ostdeutschen Regionen sogenannte national befreite Zonen. Einer der gewaltsamen Höhepunkte war das Pogrom von Rostock-Lichtenhagen Ende August 1992, das später Geborenen allerdings immer weniger präsent ist
1.) Damals hatten von Neonazis ideologisierte Jugendliche über mehrere Tage die Zentrale Aufnahmestelle für Asylbewerber (ZASt) und ein Wohnheim für ehemalige vietnamesische Vertragsarbeiter im sogenannten Sonnenblumenhaus in Rostock-Lichtenhagen belagert und mit Brandbomben angegriffen. Zugewanderte verängstigte und verunsicherte dies stark, aber Anschläge und Morde durch Rechtsextremisten gab es nicht nur nach 1989 und nicht nur im Osten. Doch sie gab es dort in ungeahntem Ausmaß sogar schon vor dem Niedergang der DDR 1989, ohne dass davon viel an die Öffentlichkeit gelangt wäre. Hier die Spurensuche eines Augenzeugen, des ehemaligen Ostberliner Kriminalkommissars Dr. Bernd Wagner:
Bernd Wagner: Externer Link: "Vertuschte Gefahr - Rechtsextremismus in der DDR"
Ingo Hasselbach (Bildmitte im Hintergrund) im Sommer 1990 mit weiteren Jugendlichen aus der Berliner Neonaziszene bei einem Interview im Mauerstreifen für das damalige ZDF-Magazin "Kennzeichen D"
Ingo Hasselbach (Bildmitte im Hintergrund) im Sommer 1990 mit weiteren Jugendlichen aus der Berliner Neonaziszene bei einem Interview im Mauerstreifen für das damalige ZDF-Magazin "Kennzeichen D"
2.) Wie leicht rechtsextrem gesinnten Jugendlichen damals die Beeinflussung Gleichaltriger fiel, berichtet der ehemalige Ostberliner Neonaziführer Ingo Hasselbach im Gespräch mit zwei niederländischen Journalistinnen, Marijke van der Ploek und Manon de Heus. Der ehemalige DDR-Punk war im Gefängnis an einen Altnazi geraten, der ihn ins rechtsextreme Lager zog, dort könne er den Staat doch noch viel mehr provozieren. Hasselbach wurde zum Kopf eines Neonazitreffs im Osten Berlins und beteiligte sich 1992 aktiv an den Krawallen in Rostock-Lichtenhagen, zeigte aber später Reue, legte sich ein Pseudonym zu und verließ die Rechtsaußenszene. Er gründete gemeinsam mit Bernd Wagner (s.o.) die Aussteigerinitiative für Neonazis, Externer Link: EXIT-Deutschland, die nach eigenen Angaben inzwischen über 500 Neonazis zum Ausstieg verhalf.
Noch immer wird Hasselbach deshalb auch 30 Jahre danach von einigen einstigen Weggefährten bedroht, zuletzt musste er im Frühjahr 2022 die Teilnahme an der Geschichtsmesse der Stiftung Aufarbeitung in Suhl absagen, weil ihm die regionale Neonaziszene mit einem Anschlag drohte:
Ingo Hasselbach: Externer Link: "Die Neonaziszene ist wie eine Sekte"
"Never Forgive". Erinnerungsplakat in Dresden 2019 an den von Neonazis am 6. April 1991 ermordeten ehemaligen DDR-Vertragsarbeiter Jorge Gomondai. (© Holger Kulick)
"Never Forgive". Erinnerungsplakat in Dresden 2019 an den von Neonazis am 6. April 1991 ermordeten ehemaligen DDR-Vertragsarbeiter Jorge Gomondai. (© Holger Kulick)
3.) Wie sich die Gewalt oder Gewaltandrohungen damals auf die Psyche von Menschen auswirkten, schildert eindrücklich die Filmwissenschaftlerin Angelika Nguyen, auch aus eigenen Erfahrungen. Anlass ihrer Betrachtung "Perspektiven, die ausgegrenzt und unterschlagen wurden", waren zunächst die Erlebnisse bei einer Filmproduktion 1991 mit ehemaligen vietnamesischen Vertragsarbeitern und Vertragsarbeiterinnen in der DDR, deren damals zunehmende Verängstigung immer spürbarer wurde angesichts des vielerorts zu beobachtenden Bagatellisierens sowie Ignorierens rechtsextremer Hassverbrechen - in Ost und West. "Es geht nicht darum, heute schlauer zu sein als gestern", schreibt sie in ihrem Beitrag aus dem 2021 veröffentlichten bpb-Band (Ost)Deutschlands Weg (SR 10676/I): "Es geht um die Einbeziehung bestimmter Perspektiven, von denen zu lernen wichtig ist. Es geht um jüdische, um migrantische, um queere Perspektiven und die der People of Colour, und, ja auch um ostdeutsche Perspektiven". Hier Angelika Nguyens Betrachtung:
Angelika Nguyen: Externer Link: "Film ohne Auftrag. Aus eigener Erfahrung - Perspektiven, die ausgegrenzt und unterschlagen wurden".
4.) Die Publizistinnen Esther Dischereit und Heike Kleffner setzen diese Betrachtung in einem Essay aus der Sicht von Gewaltopfern fort und verfolgen die Spuren des Rechtsextremismus in Deutschland vom Mauerfall bis in die Gegenwart. Dabei beschreiben sie auch die zögerliche Untersuchung rassistischer und antisemitischer Netzwerke und ihrer Rolle bei Terroranschlägen, wie 2019 in Halle und Kassel oder 2020 in Hanau, die in der Regel schnell "Einzeltätern" zugeschrieben würden. Spätestens seit den Morden des nationalsozialistischen Untergrunds (NSU) seien "viele Jahre vertan" worden, in denen "es darum hätte gehen müssen, genau und schärfstens hinzusehen" um effektivere Gegenstrategien abzuleiten:
Esther Dischereit und Heike Kleffner: Externer Link: "Vor aller Augen: Pogrome und der untätige Staat".
Eins der improvisiertes Aufnahmelager für Asylbewerber 1991 im Osten Deutschlands, hier in Eisenhüttenstadt. Dort wurde die Zentrale Ausländerbehörde für Asylbewerber des Landes Brandenburg in einer ehemaligen Polizeikaserne eingerichtet. Da die geplante Kapazität von 600 Plätzen rasch überschritten wurde, kamen im Sommer 80 Wohncontainer für weitere 200 Personen hinzu, die aus 32 Nationen stammten, der größte Teil nach dem Fall des Eisernen Vorhangs aus Rumänien. (© picture-alliance, ZB / Rainer Weisflog)
Eins der improvisiertes Aufnahmelager für Asylbewerber 1991 im Osten Deutschlands, hier in Eisenhüttenstadt. Dort wurde die Zentrale Ausländerbehörde für Asylbewerber des Landes Brandenburg in einer ehemaligen Polizeikaserne eingerichtet. Da die geplante Kapazität von 600 Plätzen rasch überschritten wurde, kamen im Sommer 80 Wohncontainer für weitere 200 Personen hinzu, die aus 32 Nationen stammten, der größte Teil nach dem Fall des Eisernen Vorhangs aus Rumänien. (© picture-alliance, ZB / Rainer Weisflog)
5.) Während die fünf ersten AutorInnen als ZeitzeugInnen und VertreterInnen der "Erlebnisgeneration" berichten, vertritt der nachfolgende Autor eine deutlich andere Sichtweise. Der Doktorand der Universität Rostock, Tilman Wickert, hält migrantische und publizistische Perspektiven auf den Einheitsprozess für überzogen, die die Jahre nach 1989 vor allem als eine politische Ausgrenzung und Marginalisierung von MigrantInnen beschreiben, mit dem die innere Einheit nur der Deutschen in Ost und West ermöglicht werden sollte. Faktisch habe es damals aber große Fortschritte im Ausländer- und Asylrecht gegeben, und die Neonaziszene habe mit ihrer Gewalt nicht den Einfluss gehabt, der ihr heute nachgesagt wird:
Tilman Wickert: Externer Link: "Wiedervereinigt auf dem Rücken von Migranten und Migrantinnen?"
6.) Ergänzend einige Links zu lehrreichen Video-Zeitreisen in die Jahre 1992 und 1993, die derzeit in den Mediatheken mehrerer öffentlich-rechtlicher Fernsehanstalten angeboten werden. Hier eine aktuelle Auswahl:
NDR-Dokumentation Externer Link: „Verharmlost und Vergessen - Rechte Gewalt vor Rostock-Lichtenhagen“
RBB-Dokumentation: Externer Link: „Baseballschlägerjahre“
ZDF-Bericht vom 22.8.2022: Externer Link: Rostock-Lichtenhagen 30 Jahre danach.
ARD-Audio-Kommentar vom 22.8.2022: Externer Link: Geschah der Asylkompromiss von 1993 als Reaktion auf Lichtenhagen?
Und: Externer Link: Gedenken an Rostock-Lichtenhagen 30 Jahre danach. Rede des Bundespräsidenten vom 25. August 2022