Blauäugigkeiten?
Kontinuität und Wandel in der sozialdemokratischen Entspannungspolitik
Hermann Wentker
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Die Ostpolitik der SPD steht derzeit in der Kritik. Angesichts des Ukrainekriegs wird ihr eine lange Zeit zu einseitige Ausrichtung auf Russland vorgeworfen, ebenfalls das enge Verhältnis einiger ihrer führenden Persönlichkeiten zum dortigen Regime unter Wladimir Putin und die daraus resultierende Abhängigkeit von russischen Erdöl- und Gaslieferungen. Mit Recht? Und was künftig tun? Von Hermann Wentker.
Angesichts eines möglicherweise drohenden Angriffs auf die Ukraine zu Jahresbeginn 2022 sprach sich die seinerzeitige SPD-Führung, unter Berufung auf die sozialdemokratische Ostpolitik seit den 1970er- Jahren, noch dafür aus, Putin allein mit Mitteln der Diplomatie zu begegnen.
Demgegenüber hatten es die Verteidigungspolitiker und -politikerinnen der Partei in ihrem Drängen auf eine bessere Ausstattung der Bundeswehr sehr viel schwerer. Militärische Abschreckung spielte in der SPD nur noch eine untergeordnete, wenn nicht marginale Rolle.
Unmittelbar nach dem Angriff auf die Ukraine im Februar 2022 stellte der Inspekteur des Heeres, Generalleutnant Alfons Mais, fest, dass die Bundeswehr „blank“ dastehe, also in keiner Weise hinreichend gerüstet sei, um einer möglichen Aggression zu widerstehen. Aber weder die Energieabhängigkeit von Russland noch der marode Zustand der Bundeswehr sind allein der SPD anzulasten.
Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU), die lange Jahre einer Großen Koalition von CDU/CSU und SPD vorstand, trägt für diese Politik die gleiche Verantwortung, auch wenn ihr persönliches Verhältnis zu Putin sehr viel kühler und distanzierter war als das ihres Amtsvorgängers Gerhard Schröder (SPD). Zudem muss berücksichtigt werden, dass sich Deutschland im Zuge der Auflösung des Ostblocks sowie der Sowjetunion und des folgenden Nato-Beitritts der ostmitteleuropäischen Staaten „von Freunden umzingelt“ sah und es daher nicht länger für erforderlich hielt, Streitkräfte im selben Umfang wie im Interner Link: Kalten Krieg zu unterhalten.
Gleichwohl stellen sich, gerade weil sich heutige SPD-Politiker und -Politikerinnen gern auf die sozialdemokratische Tradition der Ostpolitik berufen, vor diesem Hintergrund (neue) Fragen an die Ost- und Entspannungspolitik der 1970er- und beginnenden 1980er- Jahre. Von welchen Voraussetzungen ging diese aus? In welchem Verhältnis standen damals Außen- und Verteidigungspolitik? Unter welchen Umständen war die Ostpolitik erfolgreich? Welche Kontinuitäten, aber auch welche Brüche lassen sich zwischen der Ostpolitik von damals und der Ostpolitik der vergangenen 20 Jahre feststellen?
I. Westbindung, militärische Stärke und Entspannung
Die Politik der Westintegration, die Bundeskanzler Konrad Adenauer (CDU) nach Gründung der Bundesrepublik forcierte, wurde anfangs von der oppositionellen SPD nicht geteilt. Denn trotz Ablehnung der Sowjetunion mit ihrem Herrschaftssystem und ihrer Ideologie stellte die SPD weiterhin die Wiedervereinigung Deutschlands in den Mittelpunkt ihres außenpolitischen Denkens und Handelns.
Das änderte sich zwar allmählich in der zweiten Hälfte der 1950er- Jahre, etwa mit der Zustimmung der SPD zu den Römischen Verträgen 1957. Einen grundlegenden Wandel markiert jedoch erst Herbert Wehners Bundestagsrede vom 30. Juni 1960. Darin bekannte er sich für die SPD zum europäischen und atlantischen Vertragssystem als „Grundlage und Rahmen für alle Bemühung der deutschen Außen- und Wiedervereinigungspolitik“; überdies sprach er sich für seine Partei „zur Verteidigung der freiheitlichen demokratischen Grundrechte und der Grundordnung [aus] und bejah[te] die Landesverteidigung“.
Drei Jahre später gab Egon Bahr (SPD) in der Evangelischen Akademie in Tutzing den Startschuss für die sozialdemokratische Ostpolitik, wie sie in den Folgejahren berühmt, geradezu legendenumrankt werden sollte
Die deutsche Frage, so führte der Pressesprecher des Berliner Regierenden Bürgermeisters, Willy Brandt, aus, sei nur mit der Sowjetunion und im Einklang mit der von US-Präsident John F. Kennedy einige Tage zuvor verkündeten „Strategie des Friedens“ zu lösen. Was die Verhältnisse in Deutschland betraf, so ging er davon aus, „daß die Zone dem sowjetischen Einflußbereich nicht entrissen werden kann“, woraus sich ergebe, „daß jede Politik zum direkten Sturz des Regimes drüben aussichtslos ist“.
Veränderungen seien daher „nur ausgehend von dem zur Zeit dort herrschenden verhaßten Regime erreichbar“, die Mauer sei „ein Zeichen der Schwäche […], der Angst und des Selbsterhaltungstriebes des kommunistischen Regimes“. Und er fuhr fort: „Die Frage ist, ob es nicht Möglichkeiten gibt, diese durchaus berechtigten Sorgen dem Regime graduell soweit zu nehmen, daß auch die Auflockerung der Grenzen und der Mauer praktikabel wird, weil das Risiko erträglich ist. Das ist eine Politik, die man auf die Formel bringen könnte: Wandel durch Annäherung.“
Den ungeliebten Status quo anzuerkennen, um so ein Klima zu schaffen, in dem dieser schrittweise in Richtung Wiedervereinigung geändert werden konnte – das war die Philosophie, die hinter dieser Formel stand. Zunächst war diese Formel allerdings noch nicht mehrheitsfähig – auch in der eigenen Partei regte sich Unmut dagegen. Wehner distanzierte sich davon und nannte sie privat „Bahrer Unsinn“.
Gleichwohl hatten Willy Brandt und Egon Bahr zutreffend erkannt, dass nach der Kuba-Krise von 1962 die Zeichen der Weltpolitik auf Entspannung standen und einen Kurswechsel auch in der Deutschlandpolitik erforderten. Auch die Nato reagierte auf diese „Zeitenwende“, indem sie am 14. Dezember 1967 den nach dem belgischen Außenminister Pierre Harmel benannten Harmel-Bericht verabschiedete. Dieser enthielt in Ziffer 5 die Aussage, dass das transatlantische Bündnis zwei Funktionen habe: Es müsse die militärische Sicherheit gewährleisten und Entspannungspolitik betreiben. Militärische Sicherheit und Entspannung bildeten dabei keinen Widerspruch, sondern ergänzten einander. Brandt, inzwischen Außenminister in der Großen Koalition, lobte den Bericht als „ein ganz gehaltvolles Dokument über die künftigen Aufgaben, gerade auch über die politischen Aufgaben der Allianz“.
Was die Umsetzung der Ostpolitik betraf, so waren Brandt und Bahr über die Regierungsbeteiligung der SPD seit 1966 diesem Ziel einen Schritt näher gekommen. Auch Bundeskanzler Kurt-Georg Kiesinger (CDU) sprach sich für eine Politik der Entspannung durch verstärkte Kontakte zum „Ostblock“ aus, die Große Koalition war sich darin grundsätzlich einig – auch wenn die Widerstände gegen einen Abschied vom bislang im Zeichen von Alleinvertretungsanspruch und „Hallstein-Doktrin“ stehenden Kurs in CDU und CSU stark blieben. Allerdings ging die sowjetische Führung auf die entsprechenden Signale der westdeutschen Seite zunächst nicht ein. Das änderte sich erst im Frühjahr 1969, als die Erklärung der Warschauer-Pakt-Staaten nach ihrem Budapester Treffen Entgegenkommen signalisierte.
Die zentrale Ursache für diesen „überraschenden Kurswechsel“ der Sowjetunion lag vor allem darin, dass sie sich in zunehmendem Maße von China unter Druck gesetzt fühlte, das zu Beginn des Monats militärische Zwischenfälle mit sowjetischen Grenztruppen am Ussuri provoziert hatte. Vor diesem Hintergrund hielt Moskau es für erforderlich, mit den westeuropäischen Staaten zu einem Modus Vivendi zu gelangen und dabei insbesondere das Verhältnis zu Bonn zu bereinigen.
II. Die „Neue Ostpolitik“: Von der Konzeption zur Umsetzung
Unter diesen Bedingungen lebten die westdeutsch-sowjetischen Kontakte auf. In Moskau wurden 1969 Delegationen der FDP und der SPD empfangen – die Parteien, von denen sich der Kreml das größte Entgegenkommen versprach. Am 3. Juli 1969 nahm die schwarz-rote Bundesregierung den offiziellen Gesprächsfaden über einen Gewaltverzicht wieder auf. Brandt und der SPD-Fraktionsvorsitzende Helmut Schmidt hatten dazu die Initiative ergriffen; trotz der 1968 zunehmend eskalierenden Streitigkeiten über die Ostpolitik innerhalb der Großen Koalition hatten sich die Unionsparteien und die SPD auf diesen Schritt einigen können.
Zur positiven sowjetischen Reaktion am 12. September mögen die prominenten Besucher der FDP und der SPD beigetragen haben; wichtiger war indes das übergeordnete sowjetische Interesse an einem besseren Modus Vivendi mit Westeuropa, vor allem mit der Bundesrepublik. Gegenüber seinem ostdeutschen DDR-Amtskollegen Otto Winzer ließ der sowjetische Außenminister Andrei Gromyko keinen Zweifel an seinem Verhandlungswillen:
„Bisher haben wir Dokumente ausgetauscht, und jetzt wollen wir zu Verhandlungen mit der westdeutschen Seite übergehen.“ Von diesem Verhandlungswillen war auch Bahr überzeugt, der darauf setzte, auch in einer Neuauflage der Großen Koalition nach den bevorstehenden Bundestagswahlen, seine Vorstellungen realisieren zu können. Infolge einer Einigung mit der Sowjetunion wollte er mit der DDR zu einem Rahmenvertrag gelangen, der einerseits der DDR „die volle Völkerrechtsfähigkeit“ brächte, andererseits aber ein Sonderverhältnis mit der Bundesrepublik begründete.
Bei all dem hielt Bahr noch an dem Gedanken fest, langfristig den Status quo überwinden zu können. Noch im Frühjahr legte dieser er amerikanischen und britischen Gesprächspartnern dar, dass das sowjetische Imperium nur vordergründig vor Macht strotzte, sich tatsächlich aber bereits in einem Erosionsprozess befand. Daher sah er „langfristig realistische Möglichkeiten, die ‚Desintegration des Ostblocks‘ und die ‚Befreiung Osteuropas‘ herbeizuführen“. Die bereits in der Formel „Wandel durch Annäherung“ enthaltene Strategie sollte damals laut ihren Protagonisten Bahr und Brandt auf eine „Transformation der anderen Seite“ hinauslaufen.
Als nach den Bundestagswahlen am 28. September 1969 entgegen den Erwartungen eine Koalition aus SPD und FDP gebildet werden konnte, verbesserten sich die Bedingungen für die Umsetzung von Bahrs Konzeption schlagartig. Denn auch die FDP plädierte inzwischen dafür, der Sowjetunion und den Ostblockstaaten stärker entgegenzukommen als bisher. In seiner Regierungserklärung vom 28. Oktober bot Bundeskanzler Brandt Ost-Berlin Verhandlungen an, „die zu vertraglich vereinbarter Zusammenarbeit führen sollen“.
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Eine völkerrechtliche Anerkennung der DDR schloss Brandt zwar aus, gestand aber erstmals zu, dass „zwei Staaten in Deutschland“ existieren. Nun konnte die ostpolitische Konzeption Bahrs und des Kanzlers verwirklicht werden.
Die Gespräche in Moskau, die ab Ende Januar 1970 Bahr als neuer Staatssekretär im Bundeskanzleramt persönlich mit Gromyko führte, mündeten am 7. August 1970 in den Moskauer Vertrag – einen Gewaltverzichtsvertrag auf der Basis des Status quo. Bahr setzte sich darin weitgehend durch: Friedliche Grenzänderungen und die Wiedervereinigung wurden durch den Vertrag nicht ausgeschlossen, die Bundesregierung sicherte sich ein inoffizielles Mitspracherecht bei den damals laufenden Berlin-Verhandlungen zwischen den ehemaligen vier Siegermächten, und Moskau gestand Bonn zu, weitere Verträge, vor allem mit Polen, der Tschechoslowakei und der DDR abzuschließen.
Es ist hier nicht der Ort, um auf die Details der nun folgenden Verhandlungen und Abkommen einzugehen. Genannt seien der am 7. Dezember 1970 unterzeichnete Warschauer Vertrag, das Berlin-Abkommen vom 3. September 1971, das Transit-Abkommen vom 17. Dezember 1971, der deutsch-deutsche Verkehrsvertrag vom 26. Mai 1972 und der deutsch-deutsche Grundlagenvertrag vom 21. Dezember 1972. Notwendige Voraussetzung für das Zustandekommen der deutsch-deutschen Verträge – im Wesentlichen zu westdeutschen Bedingungen – war vor allem der Umstand, dass die ostdeutsche Führung, der die sowjetischen Zugeständnisse zu weit gingen, über einen äußerst geringen Handlungsspielraum verfügte:
Denn Moskau waren die Beziehungen zu Bonn so wichtig, dass es Ost-Berlin stets am kurzen Zügel führte. Das war Bahr durchaus bewusst, so dass er bisweilen, wenn die deutsch-deutschen Verhandlungen stockten, in Moskau intervenieren und Ost-Berlin auf diese Weise zu Konzessionen veranlassen konnte.
Zwar entsprach dies polnischen Interessen; der Umstand, dass hier die Bundesrepublik und die Sowjetunion über ein Kernelement polnischer Interessen entschieden hatten, konnte indes Erinnerungen an Rapallo und den Hitler-Stalin-Pakt wecken. Der Grundsatz, zunächst mit Moskau zu einer Vereinbarung zu kommen, die auch die anderen Ostblockstaaten betraf, musste diese hart treffen, da ihnen damit signalisiert wurde, dass sie auch für die Bundesrepublik Mächte von minderer Bedeutung waren.
Wenngleich die Ostpolitik der sozial-liberalen Koalition im Rampenlicht stand, vernachlässigte sie darüber nicht die Sicherheitspolitik. Helmut Schmidt, der unter Bundeskanzler Brandt das Verteidigungsministerium übernahm, veröffentlichte 1969 das Buch „Strategie des Gleichgewichts. Deutsche Friedenspolitik und die Weltmächte“. Darin hielt er fest: „Grundlage jeglicher Sicherheitspolitik ist die Aufrechterhaltung des europäischen militärischen Gleichgewichtes. Die Sicherheit Westeuropas und die Erfolgsaussichten unserer Entspannungspolitik hängen von der Erhaltung des Gleichgewichts der in Europa wirksamen und von außen auf Europa wirkenden politischen, wirtschaftlichen und militärischen Kräften ab.“
Als Verteidigungsminister ließ er keinen Zweifel daran, dass Bonn weiterhin bereit war, auch im Rahmen der Nato erhebliche Kosten zu schultern. Als etwa das „European Defense Improvement Program“ auf der Nato-Ratstagung im Dezember 1970 beschlossen wurde, das über die folgenden Jahre zusätzliche 3,5 Milliarden DM vorsah, trug die Bundesrepublik die Hälfte der Kosten.
Auch als Schmidt schon nach zwei Jahren die Bonner Hardthöhe verließ, änderte sich nichts an dieser grundsätzlichen Orientierung westdeutscher Sicherheitspolitik. Die sozialdemokratischen Verteidigungsminister Georg Leber (1972-1978) und Hans Apel (1978-1982) vertraten – unter ausdrücklicher Unterstützung durch die sozialdemokratischen Bundeskanzler Brandt und Schmidt – die gleiche Linie wie ihr Vorgänger und erfüllten stets die Nato-Vorgabe, drei Prozent des westdeutschen Bruttosozialprodukts für Verteidigungszwecke bereitzustellen.
III. Erdgasröhrengeschäft, Zweiter Kalter Krieg und „Nebenaußenpolitik“ der SPD
Wenngleich mit dem Wechsel von Brandt zu Schmidt das deutsch-deutsche Verhältnis schwieriger wurde, hielt auch der neue Bundeskanzler an der Ostpolitik fest – sowohl gegenüber der DDR als auch gegenüber der Sowjetunion und den anderen osteuropäischen Staaten.
Auch zur Multilateralisierung der Entspannungspolitik, die in der Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE) und der Unterzeichnung der KSZE-Schlussakte am 1. August 1975 kulminierte, trug die Bundesrepublik unter Schmidt und Außenminister Hans-Dietrich Genscher wesentlich bei.
Die Normalisierung der Beziehungen der Bundesrepublik zur DDR und zu den Ostblockstaaten zahlte sich für die Deutschen insofern aus, als dadurch die Kommunikation insbesondere zwischen West- und Ostdeutschen sowie die zwischenmenschlichen Kontakte intensiviert werden konnten. Überdies wurde der westdeutsche Wirtschaftsaustausch mit dem Ostblock, insbesondere mit der Sowjetunion, infolge der Ostverträge – allerdings von einem sehr niedrigen Niveau aus – erheblich ausgeweitet; erste Erdgas-Röhren-Geschäfte kamen zwischen 1970 und 1972 zwischen der sowjetischen Staatswirtschaft und westdeutschen Großunternehmen zustande.
Seit dieser Zeit bezog die Bundesrepublik – in stetig wachsendem Umfang – Erdgas aus der Sowjetunion, was in späteren Zeiten vermehrter Spannungen zwischen Ost und West vor allem zu US-amerikanischer Kritik führte. Allerdings konnte man in den 1970er- und 1980er- Jahren noch nicht von einer Abhängigkeit sprechen: 1982 betrug der Anteil sowjetischen Erdgases am westdeutschen Verbrauch gerade einmal 20 Prozent. Außerdem war sich die Bundesregierung damals des Problems bewusst: Im Mai 1980 hatte sie eine Obergrenze von 30 Prozent für sowjetisches Gas beschlossen.
Als ab 1975 westliche Experten eine massive sowjetische Rüstung bei Nuklearwaffen mittlerer Reichweite, insbesondere bei SS-20-Raketen, beobachteten, schrillten in Bonn die Alarmglocken. Denn diese Waffensysteme wurden von den amerikanisch-sowjetischen Rüstungsbegrenzungsvereinbarungen für nukleare Langstreckenwaffen nicht erfasst, und sie bedrohten lediglich Westeuropa, nicht aber die USA. Aus westdeutscher Sicht bestand daher die Gefahr einer „Abkopplung“ Westeuropas vom amerikanischen Atomschirm; die Gefahr der Erpressbarkeit für die dort gelegenen Nato-Staaten wuchs.
Helmut Schmidt, der in Gleichgewichtskategorien dachte, machte auf dieses Problem am 28. Oktober 1977 in einer Rede in London aufmerksam und forderte, dass die Nato weder bei den konventionellen, noch bei den taktischen, noch bei den strategischen Nuklearwaffen die Entstehung von Disparitäten hinnehmen dürfe. Daher müsse der Westen entweder im Mittelstreckenbereich aufrüsten, oder, was von ihm bevorzugt wurde, der Osten zur Abrüstung bewegt werden.
Das war, wenngleich dies damals noch nicht erkannt wurde, der erste Schritt zum Nato-Doppelbeschluss vom 12. Dezember 1979. Darin drohte die Nato mit der Stationierung eigener nuklearer Mittelstreckenwaffen in ausgewählten Ländern, einschließlich der Bundesrepublik, in den folgenden Jahren; gleichzeitig wurde deren Umfang vom Erfolg vorheriger Abrüstungsverhandlungen zwischen den USA und der Sowjetunion abhängig gemacht. Zweifellos hätte Schmidt eine gleichmäßige Abrüstung in Ost und West bevorzugt, um die Entspannungspolitik fortzusetzen; er war aber gleichzeitig bereit, „nachzurüsten“, wenn die Verhandlungen nicht zum Erfolg führen sollten.
Die Zeichen für Entspannung standen jedoch schlecht: Denn die Sowjetunion intervenierte am 25. Dezember 1979 militärisch in Afghanistan, wodurch sich die Ost-West-Spannungen weiter verschärften. In den Vereinigten Staaten war der Gewinner der Präsidentschaftswahlen vom Herbst 1980, der Republikaner Ronald Reagan, entschlossen, sich der Sowjetunion entgegenzustellen, und betrieb ein massives Aufrüstungsprogramm.
Die Bundesregierung setzte sich, trotz grundsätzlicher Unterstützung für Washington, weiter für Verhandlungen ein. So gelang es Schmidt und Genscher nach Gesprächen in Moskau Ende Juni 1980, die Sowjetunion an den Verhandlungstisch zu holen.
Gleichzeitig entstand in Westeuropa eine Friedensbewegung, die zu genereller Abrüstung aufrief und die Spirale von Rüstung und Gegenrüstung stoppen wollte. Gerade die Friedensbewegung in der Bundesrepublik stellte den Nato-Doppelbeschluss in Frage und wollte die drohende Nachrüstung verhindern.
In dieser Situation zerbröckelte in den Regierungsparteien der sicherheitspolitische Konsens. Während die FDP weiter zum Nato-Doppelbeschluss in beiden Teilen stand, zeichnete sich in weiten Teilen der SPD wachsende Kritik an der US-Politik und Sympathie für die Position der Friedensbewegung ab. Außerdem leiteten der Parteivorsitzende Brandt und SPD-Bundesgeschäftsführer Bahr mit Reisen nach Moskau beziehungsweise. Ost-Berlin eine „Nebenaußenpolitik“ ein: Beide hielten zwar am Doppelbeschluss der Regierung fest, brachten aber viel Verständnis für die sowjetische Seite auf, der sie auch in aller Öffentlichkeit einen ernsthaften Verhandlungswillen attestierten.
Auch Brandt schien sich auf die Seite der Friedensbewegung zu schlagen, als er am 3. November 1981 öffentlich formulierte: „Frieden ist nicht alles, aber ohne den Frieden ist alles nichts.“ Schmidt (und Genscher) konnten nur mit Mühen die Reihen geschlossen halten, indem sie im Mai 1981 ihren Fraktionen mit Rücktritt drohten, wenn diese nicht ihrer Linie mit Blick auf den Doppelbeschluss folgten.
Am 3. Februar 1982 stellte Schmidt sogar die Vertrauensfrage im Bundestag, und die Regierungsfraktionen sicherten ihm eine deutliche Mehrheit. Jedoch war dieser Triumph nur von kurzer Dauer: Am 1. August 1982 musste Schmidt infolge eines erfolgreichen konstruktiven Misstrauensvotums sein Amt an den Oppositionsführer Helmut Kohl (CDU) abgeben. Hintergrund war ein Seitenwechsel der FDP, die vor allem aus Gründen der Wirtschaftspolitik nicht länger mit den Sozialdemokraten zusammenregieren wollten.
Da die Abrüstungsverhandlungen der Supermächte in Genf im Herbst 1983 scheiterten, musste die christlich-liberale Koalition die Gegenstationierung neuer westlicher Atomraketen durchsetzen, was mit dem Bundestagsbeschluss vom 22. November 1983 gelang. Kurz zuvor, am 19. November, hatte sich die SPD auf einem Sonderparteitag in Köln mit nur 14 Gegenstimmen fast einstimmig gegen die Nachrüstung ausgesprochen. Helmut Schmidt war im Wesentlichen an seiner eigenen Partei gescheitert.
Fazit
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Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass die „Neue Ostpolitik“ gegenüber der Sowjetunion sowie dem Ostblock insgesamt ab 1969 und in den 1970er- Jahren sinnvoll und notwendig war als „aktive Anpassung“ (Werner Link) an die weltweite Politik der Detente, wie sie gerade auch andere Verbündete Bonns im Westen längst betrieben. Sie ermöglichte es der Bundesrepublik, im Einklang mit der westlichen Entspannungspolitik zu handeln, und gleichzeitig die eigenen Interessen gegenüber der Sowjetunion und vor allem gegenüber der DDR weitgehend durchzusetzen.
Allerdings konnte dies nur unter zwei Voraussetzungen gelingen: Zum einen agierte die Bundesrepublik dabei als eine fest in das westliche Bündnis eingebundene Macht, die darin auch militärisch ihren maßgeblichen Beitrag leistete.
Das Bekenntnis Wehners zur Nato war folglich das Fundament für diese im Wesentlichen von Sozialdemokraten formulierte Ostpolitik. Zum anderen war die damalige sowjetische Führung an einem Modus Vivendi genauso interessiert wie die westdeutsche: Ohne die Verständigungsbereitschaft Moskaus wären die Vorhaben Bahrs und Brandts zum Scheitern verurteilt gewesen.
Die Ergebnisse der Neuen Ostpolitik – die Normalisierung des Verhältnisses zur Sowjetunion und den anderen Ostblockstaaten sowie die Begründung eines innerdeutschen Verhältnisses, das Kommunikation und Kontakte zwischen West- und Ostdeutschen wesentlich verbesserten – entsprachen im Wesentlichen den westdeutschen Erwartungen. Zwar blieb Ostpolitik – insbesondere im Verhältnis zur DDR – ein mühsames Geschäft, da die ostdeutsche Führung immer wieder versuchte, die menschlichen Kontakte einzuschränken und ihr Maximalziel, die völkerrechtliche Anerkennung durch die Bundesrepublik, durchzusetzen. Ost-Berlin hielt aber aufgrund der wirtschaftlichen Vorteile, die ihm aus der Kooperation mit Bonn erwuchsen, ebenfalls an dem durch die Entspannung erreichten Status quo fest.
Vor diesem Hintergrund knüpfte auch die Regierung Kohl hier an die sozialdemokratische Ostpolitik an: Im innerdeutschen Verhältnis herrschte somit weitgehende Kontinuität. Die „Milliardenkredite“ für die DDR 1983/84 – mitten in der Hochzeit des Nachrüstungsstreits – waren dafür eine besonders augenfällige Manifestation.
Als problematisch sollte sich jedoch dreierlei herausstellen: die sozialdemokratische „Nebenaußenpolitik“, das Prinzip „Moskau zuerst“ und die Fixierung auf die Herrschenden in den Ostblockstaaten.
Erstens: die „Nebenaußenpolitik“ begann, wie gesehen, schon in der Amtszeit Helmut Schmidts und wurde nach dem Regierungswechsel von 1982 fortgesetzt und intensiviert. Problematisch war sie nicht nur, weil sie die Politik der neuen Bundesregierung bewusst zu konterkarieren suchte, sondern vor allem, weil sich die darin involvierten führenden Sozialdemokraten von der Prämisse verabschiedeten, dass Ostpolitik nur aus einer festen Einbindung in das westliche Verteidigungsbündnis heraus möglich war.
Indem sie sich nicht mehr bereit zeigten, auch die Nachrüstungskomponente des Doppelbeschlusses mitzutragen und – vereinzelt, wie Oskar Lafontaine – sogar den Austritt aus der Nato forderten, gaben sie zu erkennen, dass sie militärische Abschreckung für weniger wichtig erachteten als Verhandlungen und politisch-wirtschaftliche Kontakte.
In dieser Geringschätzung des Militärischen, die sich in den letzten vergangenen Jahrzehnten in einem mangelnden Eintreten für die Belange der Bundeswehr ausdrückte, liegt ein weiterer, bis in die unmittelbare Vergangenheit reichender Kontinuitätsstrang. Es handelt sich dabei allerdings um ein Verständnis von Entspannungspolitik, das mit dem seiner „Erfinder“ in den 1960er- Jahren nicht mehr viel gemein hat.
Zweitens bedeutete das Prinzip „Moskau zuerst“, das von der zutreffenden Überlegung ausging, dass ein Wandel im Verhältnis zur DDR nicht ohne sowjetische Zustimmung möglich war, letztlich eine Hintansetzung Polens und anderer „kleiner“ osteuropäischer Staaten. Die Fixierung auf die östliche Hegemonialmacht unter Vernachlässigung der ehemaligen Ostblockstaaten setzte sich auch nach 1990 fort – nicht nur bei den Sozialdemokraten, sondern auch bei CDU-geführten Bundesregierungen. Die Illusion, mit Russland eine Sicherheitspartnerschaft pflegen, dabei aber über die Interessen der russischen Nachbarn hinweggehen zu können, geht ebenfalls auf die sozialdemokratische „Neue Ostpolitik“ zurück.
Drittens erwies sich die Fokussierung auf die Machthaber in den Ostblockstaaten als problematisch. Hier stand ursprünglich die Idee der ostpolitischen „Vordenker“ im Vordergrund, dass Veränderungen in Ostmitteleuropa nur als Reformen „von oben“ denkbar waren, da jegliche Ansätze zur Modifikation des Systems „von unten“ zum Scheitern verurteilt seien.
Hinzu kam spätestens mit Ausbruch des „Zweiten Kalten Kriegs“ 1979 die Vorstellung, dass die Unterstützung von Oppositionellen in den Ostblockstaaten potenziell auch die dortigen Krisen anheizen und den Frieden gefährden könnten. Das war auch der Hintergrund etwa für das Verhalten Brandts 1985 in Polen, als dieser zwar mit Vertretern des Regimes sprach, aber auf eine Einladung von Lech Wałęsa (von 1980 bis 1990 Vorsitzender der Gewerkschaft Solidarność) nach Danzig ausweichend reagierte, so dass ein Treffen der beiden Friedensnobelpreisträger nicht zustande kam. Damit verkannte er „die Erwartungen der großen Mehrheit des polnischen Volkes“.
Auch hier lassen sich Kontinuitätslinien zu der sich auf die Machthaber konzentrierenden Russlandpolitik der vergangenen 20 Jahre ziehen. In allen drei Punkten hat spätestens seit dem russischen Angriffskrieg auf die Ukraine vom Februar 2022 ein Umdenken eingesetzt. Die Mittel, die die Bundesrepublik für die Bundeswehr ausgeben will, sind massiv angehoben worden, Deutschland (und die Nato) setzen auf der Suche nach Sicherheit nicht mehr auf Russland, sondern auf die ostmitteleuropäischen Staaten, und die Opposition in Putins Reich wird als politischer Faktor stärker wahrgenommen.
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Solange der Krieg andauert, kann man es dabei belassen, aber nach dessen Ende muss sich die Bundesregierung, gemeinsam mit ihren Nato-Partnern, auch wieder um eine Neugestaltung des Verhältnisses zu Russland kümmern – ohne Blauäugigkeit und mit einem Blick für die politischen Realitäten.
Zitierweise: Hermann Wentker, "Kontinuität und Wandel in der sozialdemokratischen Entspannungspolitik", Deutschland Archiv vom 10.07.2023. www.bpb.de/deutschlandarchiv/522939. Alle Beiträge sind Recherchen und Sichtweisen der jeweiligen AutorInnen, sie stellen keine Meinungsäußerung der Bundeszentrale für politische Bildung dar (hk).
Der Historiker Prof. Dr. Hermann Wentker leitet die Forschungsabteilung Berlin des Instituts für Zeitgeschichte München-Berlin. Er lehrt als Professor für Neuere und Neueste Geschichte an der Universität Potsdam, u.a. mit den Forschungsschwerpunkten Staat und Kirche in der DDR; Geschichte der Ost-CDU; Geschichte der Justiz in der SBZ/DDR und Außenpolitik der DDR.