Der Überläufer (Teil II)
Wahlhilfe für die Union? Und eine begrenzte Straffreiheitsformel. Die Affäre Schalck-Golodkowski im Spiegel von Akten des Bundesnachrichtendienstes BND. Mit Dokumenten.
Andreas Förster
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Was genau wollte Alexander Schalck-Golodkowski im Westen erreichen? Was wusste der ranghohe Stasi- und Wirtschaftsfunktionär über die wahre DDR-Verschuldung? Und über Stasi-IMs in der Volkskammer 1990? Und für wie vertrauenswürdig erachtete er seine Gesprächspartner im Westen? Beim Bundesnachrichtendienst (BND) suchte er auch Rat über den Zugang zu Medien. Neue Erkenntnisse aus BND-Akten über Aussagen des prominenten Überläufers aus den Führungsspitzen von SED und MfS in den Jahren 1990 und 1991.
„Operation Schneewittchen“ - Die Affäre Schalck-Golodkowski. Teil 2
Nachdem der DDR-Devisenbeschaffer Alexander Schalck-Golodkowski, der Anfang Dezember 1889 aus Angst vor Strafverfolgung in der DDR zunächst nach West-Berlin geflüchtet war, umfassende Aussagen über sein Wissen angekündigt und von sich aus signalisiert hatte, keine schmutzige deutsch-deutsche Wäsche waschen zu wollen [Interner Link: siehe "Der Überläufer", Teil 1], waren auch die Bundesregierung (damals) in Bonn und der Bundesnachrichtendienst (BND) in Pullach bereit, sich erkenntlich zu zeigen.
In einer Beratungsrunde im Bonner Kanzleramt Anfang Februar 1990 mit BND-Präsident Hans-Georg Wieck, an dem neben Geheimdienstkoordinator Lutz Stavenhagen auch Innenstaatssekretär Hans Neusel und Verfassungsschutzchef Gerhard Boeden teilnahmen, einigte man sich darauf, dass Justizstaatssekretär Klaus Kinkel (FDP) mit dem damaligen Generalbundesanwalt Alexander von Stahl „eine begrenzte ‚Straffreiheitsformel‘“ für Schalck festlegen solle.
Auch wollte man Hilfestellung bei der von Sigrid Schalck gewünschten Übersiedlung ihrer Geschwister aus der DDR in die Bundesrepublik leisten. Schließlich sollte mit Nachdruck im Bundesland Bayern darum geworben worden, dem Ehepaar Pässe auf den Namen Gutmann ausstellen zu lassen und sie einzubürgern. Dazu sollte Staatssekreär Neusel mit dem bayerischen Innenminister Edmund Stoiber Verbindung aufnehmen, wie es in einem Vermerk über das Treffen im Kanzleramt heißt. BND-Präsident Wieck habe zudem darauf gedrängt, dass all diese Maßnahmen noch vor den ersten freien Volkskammerwahlen in der DDR am 18. März 1990 abgeschlossen werden sollen, um Schalck unabhängig vom Wahlausgang „einen rechtssicheren Status in der Bundesrepublik Deutschland zukommen zu lassen“.
Unerwähnt bleiben in diesem Vermerk allerdings die Zweifel des Dienstes daran, dass Schalck lediglich aus Sicherheitserwägungen heraus auf Pässen bestehen könnte, die auf den Mädchennamen seiner Frau lauten. „Ansinnen ist aus Sicht des Dienstes auch mit der Zugangsmöglichkeit zu eventuellen Konten etc. verknüpft“, vermutete ein mit der „Operation Schneewittchen“ befasster Beamter.
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In der Tat fällt auf, dass Schalck in der Abwägung seiner Vorteile durch eine Kooperation mit dem BND offenbar sehr viel Wert auf die Ausstellung der Deckpapiere legte und dafür sogar auf eine Honorierung durch den Dienst und den Millionenvertrag mit dem Wochenmagazin Spiegel verzichtete.
Und doch gab es ausgerechnet mit diesen Gutmann-Pässen erhebliche Probleme. So weigerten sich die bayerischen Behörden, den Schalcks eine Namensänderung und entsprechende Papiere für eine Einbürgerung zu ermöglichen. „Bayern wolle mit dieser Angelegenheit nichts zu tun haben“, gab Schalcks Verbindungsführer beim BND, Burgdorf, nach einem Treff am 25. Januar 1990 zu Protokoll. Auch einen guten Monat später stellte sich das Innenministerium in München weiter quer, als Rechtsanwalt Khadjavi auf eine rasche und diskrete Durchführung des Übersiedlungsverfahrens und auf Hilfe bei der Ausstellung vorläufiger Papiere drängte. Dafür seien das Staatsministerium für Arbeit und Soziales und die örtlichen Behörden zuständig, blockte Innenstaatssekretär Günther Beckstein die Anfrage ab. Beckstein war kurz zuvor dem zum Landesentwicklungsminister aufgerückten Peter Gauweiler als Staatssekretär nachgefolgt.
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Schalck reagierte verärgert. „So zeigte S. sich insgesamt verwundert und enttäuscht darüber, wie schnell und leicht Politiker, mit denen er bekannt ist, von gegebenen Zusicherungen und Versprechungen abrücken“, notierte der BND nach einem Treff mit dem Ehepaar Schalck am 5. März 1990 im Arabella-Hotel am Spitzingsee. Auch Gauweiler, der dem KoKo-Chef bei der Anbahnung des BND-Kontaktes noch geholfen hatte und nun Minister war, ließ den Überläufer unerwartet im Regen stehen.
„Konkrete Hilfestellung, wie sie S. von ihm erwartet hatte, konnte und wollte G. nicht geben“, heißt es im Vermerk. Dafür habe Gauweiler Schalck ermutigt, seine Memoiren zu schreiben, „allerdings in der Absicht, Strauß von Vorwürfen im Zusammenhang mit dem der DDR gewährten Kredit reinzuwaschen“.
Selbst ein Telefongespräch des BND-Vizepräsidenten und CSU-Mitglieds Paul Münstermann mit Beckstein änderte an der starren Haltung der Bayern nichts. Schalck-Golodkowski war für die CSU offenbar eine zu heiße Kartoffel. Beckstein sehe sich „angesichts der politischen Dimension einer derartigen Exponierung nicht in der Lage, die gewünschte persönliche Einflussnahme beim zuständigen Landratsamt vorzunehmen (Gefahr des Aufplatzens/Einrichtung eines Untersuchungsausschusses etc.)“, heißt es in einem BND-Vermerk über das Telefonat. Der Staatssekretär schlug stattdessen vor, der BND solle selbst über das bayerische Landesamt für Verfassungsschutz an das Landratsamt herantreten. Davon aber hielt man wiederum in Pullach nichts. „Verfahrensvorschlag … ist geeignet, sowohl den Bundesnachrichtendienst zu exponieren als auch politische Implikationen hervorzurufen.“
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Die Einschätzung teilte auch Schalcks Verbindungsführer Burgdorf. „Die Befürchtung liegt nahe, dass die CSU-nahen Kreise diesen Vorgang benutzen werden, um dem BND in den Medien den schwarzen Peter zuzuschieben“, hielt Burgdorf in einem Vermerk an BND-Präsident Wieck fest und warnte: „Als Konsequenz daraus ist nicht mehr auszuschließen, dass ‚S‘ von seinen Anwälten ‚gedrängt‘ wird, sich an die Presse zu wenden. Damit könnten Fakten zur Sprache kommen, die für die Bundesregierung und Repräsentanten dieser Regierung im Hinblick auf die Wahl [in der DDR am 18. März 1990 - d.A.] keineswegs gewünscht wären.“
Gemeint waren damit zum einen die ausführlichen Auskünfte, die Schalck dem BND etwa über die Parteifinanzen der SED/PDS gegeben hatte, und seine Einschätzungen zu den politischen Kräfteverhältnissen in den Parteien, die in den anstehenden ersten freien Wahlen in der DDR um die Gunst der Wähler rangen. Gleichsam sorgten die Frustmomente Schalcks im Westen zunehmend für Sorgen.
Wertvolle Informationen vor der Wahl am 18. März 1990 erhofft
Schalcks Aussagen waren wertvoll für den Geheimdienst und die Bundesregierung, da der ehemalige KoKo-Chef auch in seinem bayerischen Exil noch regen Kontakt zu Vertrauten in Ost-Berlin hielt und regelmäßig Besucher aus der DDR empfing, die ihn mit brisanten Informationen und Unterlagen aus dem Regierungsapparat versorgten. Manches davon landete in der westdeutschen Presse, um damit Einfluss auf den Wahlkampf im Osten zu nehmen.
Von Bedeutung waren für das Kanzleramt von Helmut Kohl aber auch Schalcks Informationen über aktuell noch handelnde Politiker in der DDR. Diese betrafen etwa Ministerpräsident Hans Modrow, dem er unter anderem eine enge Beziehung nach Moskau nachsagte, PDS-Chef Gregor Gysi und den im Januar 1990 aus der SED ausgetretenen Dresdner Oberbürgermeister Wolfgang Berghofer. Berghofer, der als Reformpolitiker großes Ansehen in der DDR genoss, schätzte Schalck als kommenden Mann in der DDR-SPD ein. Er verriet aber nicht, dass auch Berghofer mit der Stasi verbunden war. „S. bot an, mit Berghofer, mit dem er ‚gut könne’, Kontakt aufzunehmen und fragte an, ob wir daran Interesse hätten. Die Frage wurde bejaht“, heißt es in einem Treffbericht vom 5. März 1990. Ob das Gespräch zwischen Berghofer und Schalck zustande kam und ob vielleicht sogar ein Treffen des Ostpolitikers mit dem BND stattfand, geht aus den jetzt freigegebenen Akten jedoch nicht hervor.
Wäre nun durch Aussagen des ehemaligen Interner Link: KoKo-Chef auf einer Pressekonferenz kurz vor der DDR-Wahl dessen Kooperation mit dem BND und seine Informationen über ostdeutsche Politiker bekannt geworden, hätte das möglicherweise den Wahlausgang in Ostdeutschland zuungunsten der von Kanzler Helmut Kohl unterstützten „Konservativen Allianz“ aus Ost-CDU, DSU und Demokratischer Aufbruch beeinflussen können.
Also entschied man im BND trotz der in Pullach befürchteten „politischen Implikationen“, die offenbar bereits im Februar 1990 auf Betreiben des Dienstes auf den Namen Gutmann ausgestellten Reisepässe und Führerscheine dem Ehepaar Schalck auszuhändigen. Des Risikos einer solchen Entscheidung war man sich in Pullach bewusst: Denn die „vorläufigen Ausweispapiere“ seien zwar vom Kreisverwaltungsreferat München ausgestellt worden, informierte BND-Abteilungsleiter Volker Foertsch am 28. Februar 1990 seinen Präsidenten; eine „strenge Nachprüfung“ würde aber letztlich dazu führen, „dass diese Papiere auf Antrag des BND ausgestellt wurden“.
Die Schalcks hatten nun ihre Deckpapiere auf den Namen Gutmann und konnten damit sogar ins Ausland fahren, zum Beispiel nach Österreich und in die nahe Schweiz. Und das auch ohne Wissen des BND, denn das Ehepaar hatte zum 1. März ihrem vom Dienst vermittelten „Sicherheitsbeauftragten“ und ehemaligen BND-Oberst Joachim Philipp gekündigt. Man verstehe sich nicht, es fehle das Vertrauen, und außerdem habe sich Philipp „verwunderlich“ verhalten gegenüber den Schalcks und der zu Besuch weilenden Schwester von Sigrid Schalck, beschwerten sich die Überläufer. Und sowieso könne man sich die Dienste der Philipp-Firma Securicon nicht mehr leisten, da sie sie aus eigener Tasche zahlen müssten.
Über die Frage, ob man die Schalcks nun so gänzlich ungesichert - und vor allem auch unbeobachtet - lassen könnte, gab es unterschiedliche Meinungen im BND. Aus Sicht von Abteilungsleiter Foertsch würde der Dienst „nicht mehr umhin komme(n), sich um die Sicherheit des Ehepaares ‚S’ zu kümmern“. Dies sei eine „Verpflichtung“. Präsident Wieck aber lehnte den Vorschlag von Foertsch „kategorisch" ab. Ein Schutz der Schalcks sei bestenfalls Aufgabe der Polizei, aber nicht des Dienstes.
Aus Samern im Alpenvorland über München nach Rottach-Egern
Das Ehepaar aus der DDR genoss seine neue Freiheit. Die Schalcks hatten inzwischen die von dem Ex-BND-Mann Philipp vermittelte Berghütte am Samerberg im Alpenvorland nahe der österreichischen Grenze verlassen, weil sie ihnen zu wenig komfortabel war. Dank ihrer guten Beziehungen zur Familie des 1988 verstorbenen Fleischgroßhändlers und Strauß-Freundes Josef März konnten sie ab Ende Februar 1990 eine Wohnung in der Straße Am Blütenring, am nördlichen Ende des Englischen Gartens, nutzen. Wenig später zogen sie in ein von der März-Familie vermitteltes möbliertes Anwesen am Weißachdamm in Rottach-Egern, zunächst zur Miete. Später erwarben es die Schalcks.
Um den 20. März herum meldeten sich die Schalcks unter ihrem richtigen Namen polizeilich in Rottach-Egern an und erhielten entsprechende bundesdeutsche Pässe. Am 29. März gaben sie ihre vom BND erhaltenen Deckpapiere auf den Namen Gutmann wieder zurück.
Mit dem Umzug änderten sich auch die Trefforte Schalcks mit seinem Verbindungsführer Burgdorf und dessen BND-Kollegen. Hatten sie sich bis dahin im VIP-Bereich des Münchner Flughafens und in gesicherten Räumen des Hotels Holiday Inn getroffen, reiste der Überläufer ab Ende Februar stets mit dem eigenen Wagen zu den Treffs im Hotel Arabella am Spitzingsee in Schliersee an und empfing seine Gesprächspartner vom Dienst auch mal daheim in Rottach-Egern oder quasi um die Ecke im Hotel Walter’s Hof.
Mit der ersehnten Ruhe für den ehemaligen KoKo-Chef und Stasi-Oberst aber war es auch in Rottach-Egern schnell vorbei. Ende März 1990 wurde die neue Adresse bekannt, Fernsehbilder zeigten den gewichtigen Überläufer hinter der Hecke seines Gartengrundstücks und beim Brötchenholen im Ort. Nun belagerten Fernsehteams und Journalisten das Anwesen am Weißachdamm, sogar „auch schon Presseleute aus der DDR“, wie Verbindungsführer Burgdorf bei einem Gespräch mit BND-Vize Münstermann am 5. April 1990 berichtete. „Wegen dieses permanenten ‚Belagerungszustandes‘ von Medienvertretern sei es Schneewittchen unmöglich, sein Haus - ohne belästigt zu werden - zu verlassen.“
Das Interesse der Medien und die Versuche einer Einflussnahme durch den Geheimdienst auf Schalck, nur ausgewählten Redaktionen und Journalisten Auskunft zu erteilen, nahm im Jahr 1990 einen großen Raum bei der Betreuung des Überläufers ein. Seit Schalcks Übersiedlung nach Bayern gingen kontinuierliche Anfragen bei ihm ein, insbesondere von den Springer-Medien, Bunte, Quick, Spiegel und Süddeutscher Zeitung, heißt es in einem Vermerk vom 15. März 1990 mit dem Betreff: „Zur Beratung von S. hinsichtlich seiner Pressevermarktung“.
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Es sei jedoch davon auszugehen, „dass diese Medien in erster Linie an … reißerisch-aufgemachter Berichterstattung interessiert sind“. Von einer Pressekonferenz mit „handverlesenen seriösen Medienvertretern zum Aufbau eines positiven Bildes in der Öffentlichkeit“, wie sie Schalck offenbar damals vorschwebte, hielt der BND wenig. Eine solcher Auftritt würde die „Vermarktbarkeit“ des Überläufers nicht abbauen, sondern eher „Auftakt für eine Menschenjagd durch die Sensationspresse“ sein. „Das Interesse an Person und Geschichte wird nur abgebaut, wenn S. sich an ein oder mehrere Medien verkauft“, hält der BND fest und favorisiert dabei Springer und Spiegel. „Für einen solchen Schritt könnte S. Beratung durch den Dienst erfahren.“
Unterstützung sagte auch die Bundesanwaltschaft zu. Die Karlsruher Behörde hatten am 14. März 1990 ihren damaligen Pressesprecher, Förster, zum BND geschickt, damit dieser an einem Treff mit „Schneewittchen“ teilnehmen und ihm ins Gewissen reden kann. „Dr. Förster, der als Pressesprecher des GBA über umfangreiche Erfahrungen im Umgang mit der Presse verfügt, (gab) S. den dringenden Rat, vom bislang geplanten Gespräch vor einem Kreis von Journalisten abzusehen“, heißt es im Treffbericht. „Wenn S. das Interview nutzen wolle, um der gegen ihn stattfindenden Kampagne entgegenzutreten, gebe es nur ein Medium und das sei der Spiegel, wobei die Absprachen direkt mit R. Augstein stattfinden sollten. … F. sei bei Bedarf zur Kontaktvermittlung bereit, insbesondere auch im Hinblick auf eine Stellungnahme der Generalbundesanwaltschaft zum Fall.“
Bindung an den Springer-Verlag
Der ehemalige KoKo-Chef ließ sich überzeugen und sah von der geplanten Pressekonferenz ab. Mit dem Spiegel kam er dann aber doch nicht ins Geschäft, offenbar hatte die Konkurrenz ein deutlich besseres finanzielles Angebot vorgelegt. „Schalck-Golodkowski hat sich zur ‚Pressevermarktung’ vertraglich ein Jahr an den Springer-Verlag gebunden“, heißt es in einem Sprechzettel für den BND-Präsidenten Wieck für eine anstehende Sitzung des Parlamentarischen Kontrollgremiums vom 18. April 1990.
Erster Ausfluss dieses Vertrages mit Springer sei ein Interview Schalcks in der Tageszeitung Die Welt Anfang April gewesen. Seine Angaben in dem Interview „korrespondieren weitestgehend mit den in der BND-Befragung gewonnenen Informationen“ und gehen lediglich in Einzelfragen wie zum Beispiel zum Milliardenkredit von 1983 und zur Rolle von Strauß dabei darüber hinaus, weil diese Themen bei den Treffs ausgespart wurden, heißt es in dem BND-Dokument.
Umstrittenes Gespräch mit Volkskammerabgeordnetem
Aufschlussreich ist in den BND-Akten zur „Operation Schneewittchen“ ein nur wenige Seiten umfassender Vorgang über einen Besuch des ostdeutschen Volkskammerabgeordneten Ralf Geisthardt (CDU) am 7. September 1990 bei Schalck in München. Eingefädelt hatte das ungewöhnliche Treffen das Bundeskanzleramt in Bonn. Rudolf Seiters (CDU), damaliger Chef des Kanzleramtes, setzte sich persönlich dafür bei BND-Präsident Wieck ein, nachdem Schalck dem Gesprächswunsch des Abgeordneten aus Sachsen-Anhalt zunächst ablehnend gegenüberstand. Das Treffen war gut ein Jahr später, im November 1991, auch Thema im damaligen Schalck-Untersuchungsausschuss des Bundestages, ohne dass allerdings die Hintergründe des Vorgangs umfassend aufgeklärt werden konnten.
Auch die BND-Akten liefern zwar keine umfängliche Erklärung, aber dafür einige interessante und bislang unbekannte Details. Demnach hatte Seiters Ende August, Anfang September 1990 Wieck darum ersucht, Geisthardt ein Gespräch mit Schalck zu ermöglichen. Der DDR-Abgeordnete war damals stellvertretender Vorsitzender des Volkskammer-Sonderausschusses zur Kontrolle der Stasi-Auflösung. Das Gremium hatte sich auf Beschluss des letzten DDR-Parlaments am 21. Juni unter Leitung von Joachim Gauck gegründet und sollte vor allem die Arbeit des Staatlichen Auflösungskomitees, das DDR-Innenminister Peter-Michael Diestel unterstellt war, demokratisch kontrollieren. Eine Überprüfung von Abgeordneten und DDR-Politiker auf eine mögliche Stasi-Vergangenheit gehörte hingegen nicht zur vordringlichen Aufgabe dieses Ausschusses.
Geisthardt allerdings - das sollte sich später herausstellen - hatte sich genau zu diesem Zweck auf den Weg nach Bayern gemacht, ohne ein Mandat des Ausschusses dafür zu haben und auch ohne die Abgeordnetenkollegen vorab darüber zu informieren.
Der misstrauische Schalck war zunächst zurückhaltend, als ihm sein Verbindungsführer den Gast aus der DDR ankündigte. „Zu dem vom Chef BK [Bundeskanzleramt - d.A.] übermittelten Gesprächswunsch wollte sich S. erst nach Überlassung konkreter Fragen äußern“, heißt es in einem vom BND-Mitarbeiter Falbe verfassten Bericht über das Gespräch. Am 4. September 1990 übermittelte Ministerialdirigent Peter Staubwasser im Auftrag Seiters ein Schreiben mit den „Interessenkomplexen“, die Geisthardt angeblich ansprechen wollte: „Informationssicherung und Suchmöglichkeiten hinsichtlich VIP; politische Connection-Struktur; internationaler Terrorismus - Finanzierung; rückführbare Mittel für den Aufbau der Länder in der DDR“.
Schalck überzeugten diese teils kryptisch formulierten Angaben nicht. „Da der Fragenkomplex sehr allgemein gehalten war, erklärte S. sich am 5.9.90 zwar zu einem Gespräch bereit, wollte es jedoch nicht als Vier-Augen-Gespräch führen“, heißt es in dem BND-Bericht. Die von ihm gewünschte Teilnahme seines Verbindungsführers Burgdorf lehnte die BND-Spitze jedoch ab. Stattdessen wurde auf Anraten von Schalcks Anwalt Khadjavi der Präsident des Collegium Augustinum, Pfarrer Markus Rückert, als eine Art unbeteiligter Zeuge für das Treffen nominiert. Rückert war Schalck ja noch aus seinen ersten Wochen in München als Gastgeber in guter Erinnerung. Das Gespräch zwischen Schalck und Geisthardt fand schließlich am 7. September in Rückerts Amtsräumen am Stiftsbogen statt. Die Rahmenbetreuung - Empfang Geisthardts am Münchner Flughafen sowie Transport zum Collegium und zurück - übernahm der BND.
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Sechs Tage später berichtete Schalck bei einem Treff mit dem BND ausführlich über das Gespräch. Dabei sei es keineswegs „um die übermittelten Interessenkomplexe gegangen“, heißt es in dem BND-Treffbericht vom 14. September 1990. „Vielmehr teilte G[eisthardt] mit, dass der VK-Ausschuss zur Auflösung des MfS über begründete Verdachtsmomente gegen Ministerpräsident de Maizière sowie Innenminister Diestel verfüge und dass beide auch heute noch von ehemaligen MfS-Kadern, die entweder aus dem Untergrund operierten oder zu den Sowjets übergelaufen seien, feindgesteuert seien.“
Zudem hätten laut Geisthardt PDS-Chef Gregor Gysi und de Maizière zu einem früheren Zeitpunkt Einblick in die Stasi-Akten des jeweilig anderen genommen und darüber gemeinsames Stillschweigen vereinbart.
Geisthardt habe nun das Gespräch mit Schalck gesucht, um zu diesem Komplex zusätzliche Informationen zu erhalten. „Von dem Gespräch hätten auf DDR-Seite nur sieben Personen Kenntnis, darunter vor allem StS Krause“, habe Geisthardt Schalck noch mitgeteilt. Mit Krause war der CDU-Fraktionsvorsitzende Günther Krause gemeint, der Parlamentarischer Staatssekretär beim Ministerpräsidenten Lothar de Maizière (CDU) war und in dieser Funktion als Verhandlungsführer auf ostdeutscher Seite zusammen mit Wolfgang Schäuble den deutsch-deutschen Einigungsvertrag aushandelte.
Schalck konnte Geisthardt nicht weiterhelfen, „jedoch habe er ein Vielzahl von Interdependenzen zwischen staatlichem Apparat und dem MfS erläutern können, … die G. neu gewesen seien. In diesem Sinne sei das Gespräch mit G. fruchtbar gewesen“, heißt es abschließend in dem BND-Treffbericht. Beide Gesprächspartner hätten sich vom Ergebnis „mehr als befriedigt“ geäußert und weitere direkte Kontakte ohne Einschalten des BND vereinbart.
Angst vor Stasi-Enttarnungen in Bonn?
Über das Gesprächsergebnis wurde das Kanzleramt in Person von Peter Staubwasser umgehend vom BND informiert, wie es in einer handschriftlichen Notiz in den Akten heißt. Das spricht dafür, dass Helmut Kohl zumindest von dem eigentlichen Anliegen Geisthardts vorab informiert gewesen ist, denn Kanzleramtsleiter Seiters hätte einen solchen delikaten Besuch sicher nicht ohne Wissen seines Chefs abgesegnet. Wenn die Spitze der West-CDU nicht sogar den Volkskammerabgeordneten indirekt selbst in die Spur gesetzt hatte, um Klarheit über mögliche Stasi-Verwicklungen hochrangiger Parteifreunde aus dem Osten zu bekommen.
Schließlich stand die deutsche Wiedervereinigung vor der Tür, in dessen Nachgang der Bundestag um die Volkskammerabgeordneten erweitert und ausgewählte ostdeutsche Politiker - darunter de Maizière und Krause - als Minister ohne Geschäftsbereich in die Kohl-Regierung übernommen werden sollten. Diestel wiederum sollte als Spitzenkandidat der Union im Landtagswahlkampf in Brandenburg gegen den SPD-Kandidaten Manfred Stolpe antreten. Mögliche Enthüllungen über eine angebliche IM-Tätigkeit wollte man da im Kanzleramt nicht riskieren.
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Bereits im Februar 1990, als erste Verdachtsmomente gegen de Maizière und die Parteispitzen der anderen von Helmut Kohl für die Volkskammerwahl am 18. März gezimmerten konservativen Allianzparteien DSU und Demokratischer Aufbruch die Runde machten, hatte sich das Kanzleramt um entsprechendes Wissen des BND bemüht. In einer“ Besprechung im Kanzleramt fragte Geheimdienstkoordinator Stavenhagen damals „nach Erkenntnissen des BND zu Funktionären der Ost-CDU, DSU und Demokratischer Aufbruch bezüglich Zusammenarbeit mit dem MfS … zu Ost-SPD-Funktionären wurde ebenfalls gefragt. Präsident BND trug dazu einige Erkenntnisse über Verwicklungen der Ost-CDU zum MfS vor“, heißt es in dem Bericht über das Gespräch im Kanzleramt.
Im Schalck-Untersuchungsausschuss des Bundestages hatte Ministerialdirigent Staubwasser im November 1991 lediglich erklärt, Geisthardt habe sich in Bonn als Vizevorsitzender des Volkskammerausschusses zur Stasi-Auflösung eingeführt, weshalb man ihm den Weg zu Schalck ebnete. Mit dem Gegenstand des Gesprächs habe das Kanzleramt aber nichts zu tun gehabt.
Die nun freigegebenen BND-Akten lassen Staubwassers Aussagen jedoch fragwürdig erscheinen. Es spricht demnach viel mehr dafür, dass Geisthardt seinerzeit nicht in seiner Eigenschaft als Mitglied des Volkskammer-Ausschusses Schalck in München aufsuchte, sondern eher in parteipolitischer Mission und in Abstimmung mit der westdeutschen CDU-Spitze unterwegs war. (hk)
Zitierweise: Andreas Förster, "Der Überläufer (Teil II) - Wahlhilfe für die Union? Und eine begrenzte Straffreiheitsformel“, in: Deutschland Archiv, 18.07.2023, Link: www.bpb.de/523100. Belegdokumente liegen vor. Hier zuInterner Link: Folge I, Interner Link: Folge III und Interner Link: Folge IV der Serie. Alle Beiträge im Deutschland Archiv sind Recherchen und Meinungsbeiträge der jeweiligen Autorinnen und Autoren, sie stellen keine Meinungsäußerung der Bundeszentrale für politische Bildung dar und dienen als Mosaikstein zur Erschließung von Zeitgeschichte.
Andreas Förster ist Journalist und Publizist. Er schreibt unter anderem für die Berliner Zeitung als Experte für Rechtsterrorismus, Rechtsextremismus und Sicherheitspolitik.