Der Überläufer (Teil III)
Chip-Klau und DDR-Milliardenschulden. Die Affäre Schalck-Golodkowski im Spiegel von Akten des Bundesnachrichtendienstes BND. Teil III mit Dokumenten.
Andreas Förster
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Spionage bei Siemens, die DDR-Staatsverschuldung, Machtkämpfe in Ost-Berlin und abwanderndes SED-Vermögen. Aus Berichten des SED-Devisenbeschaffers Alexander Schalck-Golodkowskis 1990 an den Bundesnachrichtendienst BND (Teil III). Recherchiert von Andreas Förster für das Deutschland Archiv.
„Operation Schneewittchen“ - Die Affäre Schalck-Golodkowski. Teil 3
Nein, er habe 1990 keine Schwierigkeiten damit gehabt damit, dem Bundesnachrichtendienst (BND) ausführlich Rede und Antwort zu stehen, schreibt Alexander Schalck-Golodkowski in seiner im Jahr 2000 erschienenen Autobiographie. „Die historische Situation war für mich eindeutig: Je mehr die Bundesregierung über den sich auflösenden Staat wusste, desto besser für die DDR.“
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Schalck tat wirklich sein Bestes, den Dienst und damit die Bundesregierung ins Bild zu setzen über wirtschaftliche und politische Zusammenhänge in der DDR, über die Verflechtungen - auch einzelner Entscheidungsträger in Ostberlin - mit der Sowjetunion, über Firmen und Arbeitsweise seiner auf Devisenerwirtschaftung programmierten Unternehmensholding Kommerzielle Koordinierung, über Entwicklungsprozesse und Vermögensverschiebungen in der SED/PDS, über den Staatssicherheitsdienst und Markus Wolfs Auslandsaufklärung HVA, über alte und neue Seilschaften, Embargoschmuggel, die Finanzierung der Sandinisten in Nikaragua und kommunistischer Parteien in Westeuropa durch die SED sowie über den geplanten Verkauf von Interner Link: KoKo-Firmen nach der Wende.
Dabei konnte der Überläufer nicht nur retrospektiv berichten, sondern auch wiederholt aktuelle Informationen und Dokumente abliefern. So übergab er zum Beispiel den Mitte Februar 1990 abgeschlossenen Prüfbericht über die KoKo durch das DDR-Außenwirtschaftsministerium, der eine Fülle interner Angaben über Konten und Firmen des Bereichs enthielt, den Schlussbericht der Ost-Berliner Militärstaatsanwalt über den DDR-Waffenhandel, Unterlagen der für die Überwachung der KoKo zuständigen Stasi-Arbeitsgruppe BKK und Dokumente aus seinem früheren Arbeitsbereich, die er sich konspirativ beschafft hatte, aber auch Informationen über verantwortlich handelnde Personen in der DDR, vor allem aus der Führungsspitze der ehemaligen Sozialistischen Einheitspartei (SED).
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„S. hat weiterhin gute und sich verstärkende Kontakte in die DDR, die zu wichtigen Informationen für die politische Führung genützt werden könnten“, steht in einem Treffbericht vom 21. Februar 1990.
Ein Beispiel dafür sind die von BND und Kanzleramt eingeforderten Auskünfte Schalcks über die Mitglieder der ostdeutschen Währungskommission, die sich im März 1990 zu Gesprächen über die anstehende Wirtschafts- und Währungsunion in Bonn aufhielt. Aus der 14-köpfigen, vom scheidenden Modrow-Kabinett berufenen Delegation hob „Schneewittchen“ sechs Mitglieder hervor: der Chef des DDR-Wirtschaftskomitees Karl Grünheid, Staatssekretär Wolfgang Rauchfuß, Finanzminister Walter Siegert, dessen Stellvertreterin Herta König, Horst Kaminsky, Präsident der DDR-Staatsbank, und sein Amtskollege von der Deutschen Außenhandelsbank, Werner Polze.
Schalck wollte nicht ausschließen, dass die Währungskommission von der de-Maizière-Regierung personell neu zusammengesetzt werde; die von ihm benannten Fachleute aber, „langjährige treue SED-Mitglieder, sind aufgrund ihres Sachverstandes … in Verhandlungen zu einer Währungsunion unentbehrlich“ und dürften zumindest in der „zweiten Reihe“ weiterverwendet werden.
Der frühere KoKo-Chef wies allerdings darauf hin, dass fünf der von ihm genannten Personen „schon seit Jahren Kontakt zum MfS“ haben. Ob die Kontakte derzeit noch weitergeführt werden, sei ihm nicht bekannt, räumte Schalck ein. „Insbesondere Frau König … sei vom MfS ‚gepflegt‘ worden“. Sie sei allerdings auch „fachlich am höchsten in der Währungskommission der DDR einzustufen“. Da einige der benannten Personen auch seit Jahren über Kontakte in die Sowjetunion verfügten, solle man stets davon ausgehen, „dass Moskau mithört“, gab „Schneewittchen“ noch zu bedenken.
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Nach dem Ende der „Operation Schneewittchen“ im Frühjahr 1991 war der BND voll des Lobes über seine Quelle: „Bei den Fachbefragungen zeigte sich Schalck-Golodkowski offen und kooperativ. Mentale Sperren, über gewisse Komplexe nicht oder nur zögernd sprechen zu wollen, konnten nicht festgestellt werden. Unterlagen oder Dokumente, welche von ihm nicht sofort vorgelegt werden konnten, wurden auf seinen Kanälen besorgt und dem BND zur Verfügung gestellt“, heißt es in einem zusammenfassenden Bericht über die „Operation Schneewittchen“ an das Kanzleramt vom 25. März 1991.
Insgesamt seien circa 100 Meldungen an die Auswertungsabteilungen des Dienstes angefallen, „die zur Hälfte aktuelle Verwendung fanden und als herausragend bewertet wurden“, fasst der BND in einer Dokumentation des BND zur „Angelegenheit Schalck-Golodkowski“ vom 11. Juni 1991 die Ergebnisse der Befragungen zusammen.
Auch weiterhin Verschwiegenes
Dass Schalck in seinen Befragungen ihn selbst belastenden Fakten ausgespart ließ, mag man beim BND geahnt, aber stillschweigend goutiert haben. Denn natürlich ließ der Überläufer - das geht aus den jetzt freigegebenen BND-Akten hervor - zum Beispiel seine konspirativen und oftmals privaten Kontakte zur verschwiegenen Westberliner Otto-Scheurmann-Bank und zu seinem „Privatbankier“ Max Moser bei der Zürcher Bank für Handel und Effekten (BHE) ebenso unerwähnt wie die erst Jahre später eher zufällig bekannt gewordene Liechtensteiner Anstalt Mondessa, über deren Konten Schalck persönlich in den 1980er Jahren diverse Bargeldgeschäfte abgewickelt hatte.
Der Dienst bohrte auch nicht nach, sondern gab sich mit der Auskunft von Schalcks Anwälten bei einem Zusammentreffen in der Strauß-Kanzlei am 16. Januar 1990 zufrieden, ihr Mandant verfüge „ihrer Einschätzung zufolge über keine (größeren) Finanzmittel im Westen“. Schalck selbst wurde den Akten zufolge nie dazu vom BND befragt.
Gegenüber dem Präsidenten des Dienstes informierte Verbindungsführer Burgdorf, dass „Schneewittchen“ nach eigenen Angaben über kein Einkommen verfüge. Seine Frau aber habe laut Schalck „von der Firma Marox eine Art Vorschuss erhalten … auf einen Vorvertrag als Beraterin“.
Über die Höhe dieses Vorschusses machte er jedoch keine Angaben. In einem späteren Gespräch fragte Burgdorf nochmal unter vier Augen bei Schalcks Anwalt Khadjavi nach. Dieser sagte, dass auch er nichts Genaues wisse über diesen Vorschuss. „Ihm sei nur bekannt, dass die Frau von ‚S‘ eine Art Vertrag mit der Firma Marox habe und für Alt-Verträge, für die kein Adressat in der DDR vorhanden sei, Geld erhalte.“
Das klingt reichlich verworren: Sollte der März-Konzern seine aus der DDR erhaltenen Fleischtransporte etwa nicht mehr bei den Lieferanten bezahlt haben, sondern bei Sigrid Schalck? Über 30 Jahre später wird das nicht mehr aufzuklären sein.
Wenn man die Berichte über Schalcks Aussagen beim BND und die von ihm teils selbst verfassten Dossiers und Zusammenfassungen liest, erscheint aus heutiger Sicht vieles sehr bekannt. Mehr als drei Jahrzehnte nach der deutschen Wiedervereinigung, nach mehreren parlamentarischen Untersuchungsausschüssen und Gerichtsverfahren, unzähligen Büchern, Artikeln und historischen Analysen sind die politischen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Entwicklungsprozesse in der Endphase der DDR, das Agieren des Staatssicherheitsdienstes und die Mysterien um das KoKo-Imperium zu einem weit überwiegenden Teil aufgeklärt, wenn auch nicht in allen Details.
Viele subjektive Informationen – aus Kränkungen heraus
In der Zeit zwischen Januar und März 1990 aber, als die wesentlichen BND-Gespräche mit Schalck stattfanden, waren viele Angaben des Überläufers nicht nur im Westen völlig unbekannt.
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Schalck konnte dem BND einen bis dahin nie erreichten Blick in das DDR-System eröffnen, auf Meinungsbildungsprozesse im inneren Zirkel der SED, auf das komplizierte Machtgefüge von SED und Stasi, auf die wirtschaftlichen Lage des Landes, die daraus resultierenden Zwänge und die Persönlichkeitsstruktur wichtiger Funktionäre.
Letzteres war natürlich stark subjektiv geprägt, fühlte sich Schalck doch immer noch verletzt und gekränkt, weil ihn Partei und Stasi Anfang Dezember 1989 so eiskalt fallengelassen und schutzlos dem Zorn der DDR-Bevölkerung ausgesetzt hatten. Das registrierte allerdings auch der BND. In einem Bericht an den BND-Präsidenten vom 12. April 1990 über die Befragung Schalcks zu politischen Themen heißt es: „Bei der Bewertung der Aussagen von Sch. ist zu berücksichtigen, dass sie z.T. aufgrund persönlicher Beziehungen subjektiv gefärbt sind. Dies trifft insbesondere auf Krenz, Mittag und Modrow zu.“
Auch dem von „Schneewittchen“ vorgetragenen Klatsch und Tratsch von drüben schenkte der BND Aufmerksamkeit und notierte dies eifrig in seinen Berichten. So kann man nachlesen, dass Honeckers Enkel, der Halbchilene Roberto, angeblich zehn Computer gehabt habe, und dass Stasi-Minister Mielke persönlich die Masseuse Honeckers abschöpfte, die den SED-Chef zweimal die Woche massierte und ein intimes Verhältnis zu ihm unterhielt.
Nachlesbar ist nun auch, dass der DDR-Eiskunstlaufstar Katharina Witt ein von Egon Krenz persönlich beantragtes Konto über eine Million D-Mark und einen roten VW-Golf bekommen habe, den die KoKo beschaffen und bezahlen musste. Witts Trainerin Jutta Müller und deren Tochter Gaby Seyfert hätten sich demnach mit je einer halben Million DM zufrieden geben müssen.
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Zu Egon Krenz wusste Schalck zu berichten, dass der Oberbefehlshaber der Westgruppe der sowjetischen Streitkräfte und der sowjetische Botschafter den Honecker-Nachfolger „um Verzeihung dafür gebeten haben, dass Moskau ihn im Herbst letzten Jahres so rüde behandelt und leichten Herzens haben fallen lassen“. Doch Krenz, „der seinen Kummer mit reichlich Alkohol und Tabletten lindere“, habe die Entschuldigung nicht angenommen.
Ein weiteres Beispiel für die persönliche Abrechnung mit seinen einstigen Genossen war der Eifer, mit dem Schalck den Geheimdienst über seine Erkenntnisse zum Parteivermögen sowie die versuchten und vollzogenen Geldverschiebungen der SED/PDS informierte. So erzählte er in einem vom BND-Präsidenten persönlich angewiesenen Treff am 7. Juni 1990 seinem Verbindungsführer, dass viele Gästehäuser der früheren SED an die Hotel-Gesellschaft Belvedere verkauft worden sei, hinter der die PDS stehe, „was aber nach außen nicht zu erkennen ist“. Ohnehin sehe er die Hauptschwierigkeit an das SED/PDS-Vermögen heranzukommen darin, dass „große Teile dieses Vermögens völlig legal umgeschichtet wurden und in neutrale Unternehmen eingebracht worden sind, die nur für eingeweihte Kenner der PDS als eigentliches PDS-Vermögen noch erkennbar sind“.
Tatsächlich wurde später bekannt, dass die PDS im Frühjahr 1990 damit begonnen hatte, an besonders vertrauenswürdige Parteikader hohe Darlehen auszureichen. Angeblich sollten diese Kredite dem Aufbau mittelständischer Firmen und der damit verbundenen Schaffung von Arbeitsplätzen für ausscheidende hauptamtliche Parteifunktionäre dienen. Offenbar war aber wohl geplant, das auf diese Weise ausgereichte Parteivermögen außerhalb der PDS zu parken.
Einer 1991 von der Unabhängigen Kommission zur Sicherung des Interner Link: Parteivermögens (UKPV) erstellten Übersicht zufolge hatte die PDS in dieser Zeit in mehr als 200 Einzeldarlehen insgesamt rund 366 Millionen DDR-Mark (fast 185 Millionen D-Mark) an Personen und Firmen ausgereicht. Auch die von Schalck erwähnte Belvedere GmbH gehörte dazu. Weil ein Teil der Darlehensnehmer später Insolvenz anmeldete, konnte die UKPV nicht mehr die gesamte Kreditsumme zurückholen.
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Eine Woche später sandte Schalck ein zweiseitiges Schreiben an Bundesinnenminister Schäuble - „nur persönlich“ - mit weiteren Hintergrundinformationen über KoKo- und SED-Firmen und deren aktuelle Gesellschafterstruktur. Eine Kopie des mit Maschine geschriebenen Briefes und ein handschriftlicher Entwurf davon finden sich in der BND-Akte.
Für die UKPV und die Treuhandanstalt dürften das damals wertvolle Informationen gewesen sein. So warnte der ehemalige KoKo-Chef auch vor einem überhasteten Verkauf der Schweizer Firma Intrac, die in Lugano domiziliert war, knapp zur Hälfte in KoKo-Besitz war und vom Schweizer Schalck-Vertrauten Ottokar Hermann geführt wurde. „Diese Gesellschaft könnte, wenn sie nicht vor 1991 verkauft wird, einen Erlös von 80 - 100 Millionen DM einbringen“, schrieb Schalck.
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Schalcks Informationen wurden aber offenbar weder von Schäuble noch vom BND an die UKPV oder die Treuhandanstalt weitergegeben.
„Angesichts des persönlichen Charakters des Briefentwurfs hat der Dienst darauf verzichtet, ihn an andere Stellen/Ressorts weiterzuleiten“, begründete BND-Präsident Konrad Porzner dies in einem Schreiben vom 3. Februar 1992 an Innenstaatssekretär Hans Neusel.
Tatsache ist, dass die Treuhand trotz der Warnung des ehemaligen KoKo-Chefs die Intrac Lugano samt zweier mit ihr verbundener Berliner Unternehmen am 15. Dezember 1992 für gerade mal zwölf Millionen Schweizer Franken an Ottokar Hermann veräußerte, das sind umgerechnet etwas mehr als zwölf Millionen D-Mark. Ein Schleuderpreis. Ob das etwas damit zu tun hatte, dass der BND seit Jahren eine wertvolle Quelle in der Geschäftsführung der Intrac Lugano und ihrer Tochterunternehmen sitzen hatte?
Die erste Befragung Schalcks durch den BND dauerte knapp drei Stunden und fand am Abend des 22. Januar 1990 in der Kanzlei des Münchner Rechtsanwalts Khadjavi statt. Die Stichpunkte des Gesprächsinhalts füllen zwei Seiten. Demnach gab Schalck Einschätzungen zu ehemals führenden DDR-Politikern ab, aber auch zu dem Dresdner Oberbürgermeister Wolfgang Berghofer (wird laut „Schneewittchen“ in die SPD wechseln und dort einen starken Flügel aufbauen, der Interessen der SED/PDS vertritt ) und Modrow (enge und gute Kontakte nach Moskau, will aber trotzdem Ablösung des jetzigen sowjetischen Botschafters durchsetzen, weil der ein Vertrauter von Egon Krenz ist, den Modrow nicht leiden kann).
Infos über DDR-Geheimdienst-Interna
Schwerpunkt von Schalcks Aussage waren aber Aktivitäten der DDR-Geheimdienste: So habe der militärische Nachrichtendienst des DDR-Verteidigungsministeriums, die Verwaltung Aufklärung, die Wende unbeschadet überstanden.
Er benannte zudem DDR-Wirtschaftsministerin Christa Luft, Außenhandelsminister Gerhard Beil und Rechtsanwalt Wolfgang Vogel als Inoffizielle Mitarbeiter der DDR-Auslandsspionage HVA, bezifferte die Zahl der getarnten Stasi-Mitarbeiter im Apparat des DDR-Ministerrates mit rund 400 und warnte davor, dass die HVA weiter arbeite und dazu viele Mitarbeiter in Handelsfirmen auslagern werde. Durchweg zutreffende Informationen, wie sich später herausstellen sollte.
Immense Staatsverschuldung
Aber den BND elektrisierten vor allem zwei weitere Aussagen Schalcks besonders. Die eine betraf die aktuelle Verschuldungslage der DDR, die andere den Technologieklau bei Siemens durch die Stasi. Zur Netto-Verschuldung der DDR erklärte Schalck, dass diese Ende 1989 rund 50 Milliarden Valutamark (VM) betrage, was umgerechnet 22,7 Milliarden US-Dollar entsprach.
Bis 1995 werde sich diese Summe auf vermutlich 72 Milliarden VM - rund 39 Milliarden US-Dollar - erhöhen.
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Nach 1996 werden laut Schalck sämtliche Kredite fällig, ein Schuldentilgungsplan existiere nicht. Von Bedeutung sei zudem, dass drei Viertel der DDR-Kredite aus Japan stammen. „‚Schneewittchen‘ warnt vor der Situation, dass die Bundesrepublik Deutschland vermeintlich an die DDR bezahlt. Während der eigentliche Eigentümer bereits Japan heißt“, steht in einem BND-Bericht über die Gespräche mit Schalck vom 12. Februar 1990.
Ausschnitt aus einem Aussageprotokoll Schalck-Golodkowskis über die Verschuldungslage der DDR 1989/90
Die von Schalck genannte Höhe der Schulden verwirrte die Wirtschaftsexperten im Geheimdienst. Sie verwiesen auf westliche Schätzungen, wonach die Bruttoverschuldung der DDR zwischen 18 und 20 Mrd. US-Dollar betrage, der laut der Bank für Internationalen Zahlungsausgleich (BIZ) Devisenguthaben in Höhe von rund 9,5 Mrd. US-Dollar gegenüberstehen würden. Rechnerisch würde demnach also die Nettoverschuldung nur bei etwa 9 bis 11 Mrd. US-Dollar liegen. Schalck stellte auf Nachfrage jedoch Guthaben der DDR in dieser Höhe in Abrede. Seines Wissens nach betrage die Devisenreserve der DDR nur knapp vier Milliarden Dollar, hielt BND-Präsident Wieck in einer Information an das Kanzleramt und die Fachministerien vom 26. Februar 1990 fest.
In weiteren Befragungen konkretisierte Schalck seine Angaben noch. Danach würde die DDR ihre Guthabenposition bis zum Jahresende völlig abgebaut haben. „Er begründet dies mit den drastisch sinkenden Westexporterlösen und den (insbesondere zur Aufrechterhaltung der Versorgung) steigenden Westimporten“, heißt es in einem BND-Vermerk. „Unter diesen Bedingungen wäre tatsächlich sehr wahrscheinlich, dass die DDR zum Jahresende 1990 ihren laufenden Zahlungsverpflichtungen nicht mehr nachkommen kann.“ „Das Hauptproblem in der Zahlungsfähigkeit der DDR besteht in der Liquidität … Nach dem Stand von November 1989 beträgt der jährliche Neubedarf 4 - 5 Mrd. VM in frei konvertierbaren Devisen. Dabei wird unterstellt, dass die Außenhandelsbank einschließlich der Handelsbank jährlich Neuaufnahmen von 6 - 7 Mrd. VM frei konvertierbarer Devisen sichern kann.“
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Schalcks Fazit: „Die von Herrn Teltschik (Horst Teltschik war 1990 Vizechef im Kanzleramt und einer der engsten Berater von Helmut Kohl - d.A.) dargestellte unmittelbar bevorstehende Zahlungsunfähigkeit der DDR besteht zu Recht. Dabei ist völlig unwesentlich, ob sie einen oder vier Monate später erfolgt. … Ohne eine offene und ehrliche Darlegung der finanziellen Lage ist eine wirksame Hilfe durch die Bundesrepublik - und das trifft vor allen Dingen auch für die notwendigen Maßnahmen für eine Wirtschaftsreform und Währungsunion zu - unmöglich.“
Technologieklau bei Siemens
Der zweite Knüller in diesem ersten Treff im Januar 1990 betraf den Siemens-Konzern. „Bei Siemens muss eine NDV [nachrichtendienstliche Verbindung - d.A.] des MfS sitzen, welche die Unterlagen für den Mega-Bit geliefert hat“, gab Schalck seinem Verbindungsführer vom BND zu Protokoll.
Mit dem „Mega-Bit“ war der 1-MBit-Speicherschaltkreis U61000 gemeint, der ab 1986 im VEB Forschungszentrum Mikroelektronik Dresden (ZMD) entwickelt worden war. Ein erstes Muster wurde am 12. September 1988 öffentlichkeitswirksam an SED-Generalsekretär Erich Honecker übergeben (siehe das Titelfoto dieses Beitrags). Die Unterlagen zur Fertigungstechnologie waren tatsächlich zuvor vom Sektor Wissenschaft und Technik (SWT) beschafft worden, einer auf Technologieschmuggel und -spionage spezialisierten Abteilung der HVA, wie mehrere Jahre nach der Wiedervereinigung herauskam.
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Schalcks Aussage über einen Stasi-Spion bei Siemens schreckten den BND auf. Präsident Wieck wies an, „den Sicherheitsbeauftragten von Siemens darüber (zu informieren), dass dem Bundesnachrichtendienst Angaben über Lieferungen von CoCom betroffener Siemens-Technologie in den Ostblock vorliegen“.
Siemens musste sich aber auch noch aus einem anderen Grund ernsthaft mit der Schalck-Information befassen. Ende Februar 1990 ging bei der Firmenleitung ein anonymes Schreiben ein, das unterzeichnet war mit „Einige ehrliche ZMD-Mitarbeiter“. Die Mikroelektronikexperten aus der Elbestadt informierten die Siemens-Spitze darin, dass der 1-MBit-Chip aus Dresden „vollständig nach Ihren Unterlagen entwickelt“ worden sei.
BND-Informationen über die Folgen der Schalck-Aussagen über Siemens 1990
Den Entwicklern im ZMD hätten „Entwurfsdatenträger, detaillierte Verfahrensvorschriften, Scheiben mit Chips und Teststrukturen mit Ihrer Firmenbezeichnung“ vorgelegen. Die gesamte Leitung des ZMD, mit der Siemens gerade Gespräche führe über eine Kooperation, „besteht noch aus den gleichen SED-Leuten, die den Betrug zu verantworten haben … Wir möchten, dass Sie dies wissen und bei Ihren Gesprächen berücksichtigen“, schließt der Brief.
Nach Eingang des Schreibens suchte der Sicherheitsbeauftragte von Siemens den BND-Vizepräsidenten Münstermann auf. Siemens suche die undichte Stelle im Konzern und bitte um eine weitere Detaillierung der von Schalck gemachten Angaben. „Weiterführende Erkenntnisse sind der Firma ein Honorar in Höhe von bis zu 100.000,- DM wert, (das) an den Informanten … zu zahlen“ sei. Münstermann sagte eine „wohlwollende Prüfung“ zu, verwies aber gleichzeitig darauf, „dass Schneewittchen zwar über globale Informationen, nicht aber über die Abwicklungsdetails verfüge“.
Nach einer Rücksprache mit den Verantwortlichen der „Operation Schneewittchen“ und Verbindungsführer Burgdorf entschied der Vizepräsident, „die Siemens-Anfrage an die Anwälte Schneewittchens mit dem Vorschlag auf eine direkte Kontaktaufnahme zur Firma weiterzugeben“. Ob das auch geschah, Siemens mit Schalck verhandelte und der Überläufer sich die Kopfprämie auf den Stasi-Spion im Konzern verdiente, geht aus den BND-Akten jedoch nicht hervor.
Weitere „Umgehungsgeschäfte“
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Welche politischen Implikationen der Dienst befürchtete, sollte die Information von Schalck über Siemens öffentlich werden, lässt ein für das Archiv des Dienstes gedachte, recht allgemein gehaltene offizielle Unterrichtung des BND-Präsidenten vom 1. Februar erkennen. „Bereits das erste tastende Gespräch mit der Quelle ließ erkennen, dass Informationen anfallen werden, die die aktive Beteiligung deutscher Firmen an den Umgehungsgeschäften zeigen. Diese Informationen betreffen auch Großkonzerne“, heißt es darin.
Hieraus könne sich für die Leitung des Dienstes „Entscheidungsbedarf“ bei der Verwendung dieser Information gegenüber den Ressorts, Partnerdiensten und der Industrie ergeben. „Nicht auszuschließen ist eine negative Rückwirkung auf die deutschen Liberalisierungsbemühungen im CoCom, wenn diese Erkenntnisse in vollem Umfang und/oder an der falschen Stelle bekannt werden.“
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Mit anderen Worten: Die Verwicklung von Siemens und den anderen deutschen Technologiekonzernen sollte vom BND vorerst besser unter der Decke gehalten werden.
Nachdem Schalck weitere Kenntnisse über den von westdeutschen Unternehmen mitgetragenen Embargoschmuggel ausgepackt hatte, kam die BND-Spitze nicht mehr umhin, das Kanzleramt zu informieren.
In einem Schreiben an den Geheimdienstkoordinator im Kanzleramt, Lutz Stavenhagen, vom 26. Februar 1990 nannte BND-Präsident Wieck die Firmen Siemens in München und Berlin, Leybold Heraeus in Hanau, Philipps in Hamburg, IBM in Berlin, Tektronix in Köln, Rohde & Schwarz in München und Wacker Chemie in Burghausen, von denen Technologie und Anlagen durch Stasi und KoKo illegal in die DDR geschafft worden sind. „Die Firmen bzw. deren Vertreter sollen äußerst aktiv im Anbieten und Verkaufen von Hochtechnologie gewesen sein. Die Beteiligung, auch der Leitung dieser Firmen, wird von ihm (Schalck) vermutet, sie kann jedoch nicht nachgewiesen werden“, schrieb Wieck weiter.
Das Interesse an Informationen des Überläufers über den illegalen Technologieschmuggel von West nach Ost blieb anhaltend hoch beim BND, weshalb sich Schalck Ende Februar mit Gerhard Ronneberger traf, einem alten Freund und Geschäftspartner aus Ostberlin.
Die Erschließung weiterer Quellen
Ronneberger war in der DDR stellvertretender Generaldirektor im Außenhandelsbetrieb Elektronik gewesen und leitete dort den „Handelsbereich 4“, eine streng abgeschirmte Abteilung, die im engen Zusammenwirken mit Stasi und KoKo für den Embargoschmuggel zuständig war. Der BND versprach sich viel von diesem Mann, und so bedrängte der Dienst „Schneewittchen“, Ronneberger „an Land zu ziehen“, nachdem sich dieser per Brief bei dem ehemaligen KoKo-Chef gemeldet hatte.
Am 21. Februar beantwortete Schalck das Schreiben und lud den Freund nach München ein. Zwischen den Zeilen - eine Kopie des Briefes hatte „Schneewittchen“ dem BND zu den Akten gegeben - lässt sich deutlich herauslesen, dass Schalck den „lieben Gerhard" zu einem Kontakt mit dem BND bewegen wollte. „Neubeginn für alle heißt natürlich auch Vergangenheitsbewältigung“, schrieb Schalck. „Es ist sicherlich auch für Dich wichtig, dass man sachlich, ohne Emotionen dazu, soweit Du es mit Deinem Gewissen vereinbaren kannst, Auskunft erteilst. … Ich wäre Dir auch dankbar, wenn Du klare Vorstellungen über die Zukunft hättest, denn wir müssen alle darüber nachdenken, wie wir durch ehrliche Arbeit ehrliches Geld verdienen.“
Nach dem Zusammentreffen mit Ronneberger am 28. Februar in der Kanzlei von Anwalt Khadjavi in München berichtete Schalck, die beiden hätten „Möglichkeiten einer künftigen Zusammenarbeit erörtert". Für die Beantwortung von Fragen, die ihm zuvor der BND übergeben hatte, habe „Schneewittchen“ seinem Besucher aus Ostberlin 5.000 D-Mark „gegen Unterschrift ‚aufgedrängt‘“, heißt es im Treffbericht des BND vom 7. März 1990. Anfang Mai brachte Schalck Ronneberger dann zum ersten Mal zu einem Treff mit seinem BND-Verbindungsführer mit.
Danach gab es weitere Gespräche zwischen dem ehemaligen Chef des Handelsbereichs 4 mit dem BND, ohne dass Schalck noch zugegen sein musste. Offenbar sprudelte die von ihm geworbene Quelle auch so. (hk)
Zitierweise: Andreas Förster, "Der Überläufer (Teil III) - Chip-Klau und DDR-Milliardenschulden“, in: Deutschland Archiv, 21.07.2023, Link: www.bpb.de/523101. Belegdokumente liegen vor. Bereits erschienen sind Interner Link: Teil I, Interner Link: Teil II und jüngst Interner Link: Folge IV der Serie. Alle Beiträge im Deutschland Archiv sind Recherchen und Meinungsbeiträge der jeweiligen Autorinnen und Autoren, sie stellen keine Meinungsäußerung der Bundeszentrale für politische Bildung dar und dienen als Mosaikstein zur Erschließung von Zeitgeschichte..
Andreas Förster ist Journalist und Publizist. Er schreibt unter anderem für die Berliner Zeitung als Experte für Rechtsterrorismus, Rechtsextremismus und Sicherheitspolitik.
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