"Eine tiefe Zäsur"
Ein skeptischer Rückblick auf die deutsche Geschichte. Von Heinrich August Winkler (84), der hofft, dass sich Deutschlands Demokratie auch in der Vertrauenskrise reformieren kann
Heinrich August WinklerDirk KurbjuweitKlaus Wiegrefe
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"Nur mit der mangelnden Vertrautheit der Deutschen mit der Idee der unveräußerlichen Menschenrechte lässt sich erklären, dass so viele am Holocaust mitwirkten", urteilt der Historiker Heinrich August Winkler im Blick zurück auf den Nationalsozialismus. Für die Gegenwart mahnt er: "Ich hoffe, dass Deutschland auch aus einer schweren Krise nicht wieder als Diktatur hervorgeht". Die Fragen stellten Klaus Wiegrefe und Dirk Kurbjuweit aus der SPIEGEL-Redaktion.
Klaus Wiegrefe und Dirk Kurbjuweit: Professor Winkler, Sie stammen aus einer Historikerfamilie und beschäftigen sich seit fast 70 Jahren mit Geschichte. Was haben Sie dabei über die Menschen gelernt?
Heinrich August Winkler: Das Studium der Geschichte stimmt skeptisch gegenüber allen Versuchen, einen neuen Menschen zu schaffen. Die katastrophalsten Beispiele für solche Versuche sind die totalitären Systeme des 20. Jahrhunderts, also Nationalsozialismus und Kommunismus. Man wird auch skeptisch gegenüber utopischen Zukunftsvisionen darüber, wie sich die Geschichte zu entwickeln hat. Man gelangt zu einem realistischen Menschenbild.
Auch mit Blick auf uns Deutsche?
Ja, soweit damit die Gefahr der politischen Verführbarkeit gemeint ist.
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Für die meisten Historiker meiner Generation war die Frage aller Fragen: Wie war die Katastrophe der Jahre 1933 bis 1945 möglich? Dass ein Land, das kulturell zum historischen Westen gehört und einen entscheidenden Anteil hat an der europäischen Aufklärung, sich so vielen Konsequenzen der politischen Aufklärung so lange verweigert hat – der Idee der unveräußerlichen Menschenrechte, der Volkssouveränität und der repräsentativen Demokratie. Warum bedurfte es erst des Absturzes in die Barbarei und der nationalen Katastrophe, um in der Bundesrepublik die vorbehaltlose Öffnung gegenüber der politischen Kultur des Westens zuwege zu bringen, wie es der Philosoph Jürgen Habermas genannt hat?
Die langjährige Kanzlerin Angela Merkel glaubt, dass die Demokratie in Deutschland nur stabil sei, wenn der Wohlstand bleibt. Wie sehen Sie das?
Es ist richtig, dass die Öffnung gegenüber der politischen Kultur des Westens einherging mit dem Wirtschaftswunder. Nach der Weimarer Republik hatten viele Demokratie und Wohlstand für unvereinbar gehalten. Die junge Bundesrepublik hingegen zeigte, dass auch in einer parlamentarischen Demokratie Prosperität möglich ist. Und ich hoffe, dass Deutschland auch aus einer schweren wirtschaftlichen Krise nicht wieder als Diktatur hervorgeht, sondern als reformierte Demokratie – so wie etwa die USA mit dem New Deal während der Großen Depression.
Für wie gesichert halten Sie denn unsere Demokratie?
Bedenken hinsichtlich der Stabilität müssen einem fast zwangsläufig kommen, wenn man sieht, wie Vorurteile gegenüber der westlichen Demokratie heute fortleben.
Sie meinen den Erfolg der AfD?
Ja. Ich kenne das aus Westdeutschland aus den Fünfzigerjahren. Als Geschichtsstudenten sind wir im Auftrag der baden-württembergischen Landeszentrale für politische Bildung in Schulen auf der Schwäbischen Alb gegangen, um auszugleichen, was am Geschichtsunterricht oder in den Elternhäusern fehlte, nämlich Aufklärung über die Weimarer Republik und die NS-Zeit. Nach der Wiedervereinigung zeigte sich, dass sich manche alte deutsche Vorbehalte gegenüber der westlichen Demokratie, auch gegenüber den USA, in den östlichen Bundesländern behauptet haben.
Die DDR nahm für sich in Anspruch, ein antifaschistischer Staat zu sein.
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Der offiziell verordnete Antifaschismus hat keinen Bewusstseinswandel in der Breite der Bevölkerung bewirkt. Insofern haben die Westdeutschen mit ihren Besatzungsmächten sehr viel mehr Glück gehabt als die Ostdeutschen mit der Sowjetunion. Die westlichen Besatzungsmächte haben die Öffnung gegenüber der politischen Kultur der Demokratie ermöglicht. In der DDR war das bis zum Mauerfall und zur Wiedervereinigung nicht möglich, und danach ist viel versäumt worden, um es gerade auch in der schulischen Bildung nachzuholen.
Und die AfD profitiert davon?
Die AfD ist ein gesamtdeutsches Phänomen. Aber dass sie in den östlichen Ländern stärker vertreten ist als im Westen, lässt sich wesentlich dadurch erklären, dass die politischen Kulturen in West und Ost sich nach 1945 so unterschiedlich entwickelt haben. Die tiefe Spaltung in zwei politische Kulturen wirkt bis heute nach.
Sie selbst kommen aus einem national-konservativen Elternhaus, wieso haben apologetische Geschichtsdeutungen bei Ihnen nicht verfangen?
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In meiner Schulzeit in Ulm gab es ein Schlüsselerlebnis: die leidenschaftlichen Debatten im Bundestag über die Wiederbewaffnung 1952. Wir haben fast auf Anhieb gelernt, was für ein fantastisches System die parlamentarische Demokratie ist, in der solche Auseinandersetzungen möglich sind. Wir haben dann in unseren Schüler-Arbeitskreis Politiker eingeladen, etwa den SPD-Abgeordneten Karl Mommer, einen Ex-Kommunisten. Er sagte nach einem Vortrag, wenn es solche Schüler-Arbeitskreise in der Weimarer Republik gegeben hätte, wäre diese nicht gescheitert. Wenn man überlegt, welche fatale Rolle Hochschulen und Gymnasien bei der geistigen Zerstörung der Weimarer Republik gespielt haben, lässt sich das nachvollziehen. Die Nationalsozialisten hatten dort enormen Zulauf. Wenn Politiker heute an die Schulen gehen, dann tun sie etwas, was nachhaltige Wirkung haben kann.
Sind Sie auch den Tätern des NS-Regimes begegnet?
Nicht wissentlich. Ich habe die Nähe zu Remigranten gesucht, etwa zu dem Politologen Ernst Fraenkel, der aus dem Exil nach Deutschland zurückgekehrt ist. Von ihm habe ich gelernt, dass zu einer funktionierenden Demokratie beides gehört: Raum für die politische Kontroverse. Aber dann auch ein Bereich, der nicht mehr infrage gestellt werden sollte, eine Art Verfassungskonsens.
Eine Theorie mit aktuellen Bezügen.
Die Krise der Demokratie ist in manchen europäischen Ländern weiter gediehen als bei uns, wie man an den Erfolgen von Rechtspopulisten und Nationalisten feststellen kann. Verglichen damit ist der nichtkontroverse Sektor im Sinne von Fraenkel bei uns noch relativ stabil.
Die AfD eilt gerade von Wahlerfolg zu Wahlerfolg.
Argumenten ist vermutlich nur ein Teil, aber immerhin ein erheblicher Teil der AfD-Anhänger zugänglich. Auch bei uns gibt es den verbreiteten Eindruck, dass »die da oben« in anderen Sphären schweben und kein Verständnis für die Alltagsprobleme haben.
Sie spielen auf die Debatte über die Zuwanderung an.
Wir müssen uns ehrlich machen. Wir dürfen nicht mehr versprechen, als wir halten können. Die westlichen Demokratien sind nicht in der Lage, alle Menschen aufzunehmen, die vor Krieg und Not fliehen. Und wir müssen uns über den nichtkontroversen Sektor verständigen.
Die politische Kultur des Grundgesetzes. Voraussetzung für eine Verleihung der Staatsbürgerschaft muss die vorbehaltlose Anerkennung der Grundrechte sein, einschließlich der Gleichberechtigung von Mann und Frau und der Religionsfreiheit. Schon das setzt der Integration Grenzen. Erlauben Sie noch eine historische Bemerkung.
Gerne.
Dass wir ein individuelles Recht auf Asyl haben, geht zurück auf eine Entscheidung im Parlamentarischen Rat, der das Grundgesetz ausgearbeitet hat. Dem Ausschuss für Grundsatzfragen lag am 23. September 1948 ein Entwurf vor mit dem Satz: "Politisch Verfolgte genießen Asylrecht im Rahmen des allgemeinen Völkerrechts". Auf Antrag des SPD-Abgeordneten Carlo Schmid wurden die letzten fünf Worte aus redaktionellen Gründen gestrichen. Die Väter und Mütter des Grundgesetzes waren sich damals nicht bewusst, dass sie mit der Streichung ein Recht begründeten, das es in keiner anderen westlichen Demokratie gibt, nämlich ein individuelles, subjektives Recht auf Asyl.
Was wollten die Verfassungsschöpfer denn?
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Die Verfassungsschöpfer wollten das Asylrecht als eine Pflicht des Staates verankern, politisch Verfolgte nicht in Verfolgerstaaten zurückzuschicken. Mehr war nicht beabsichtigt. Aber die Kürzung hat zu einer Interpretation des Artikels 16 geführt, wonach es ein Recht auf Zutritt zum Gebiet der Bundesrepublik gibt.
Sie kommen aus Ostpreußen. Auch Sie haben als Kind Ihre Heimat verloren. Wie sind Sie damit umgegangen?
Ich habe als Schüler damit gehadert, als Student ist mir klar geworden: Wenn es eine Lösung der deutschen Frage geben sollte, dann nur in den Grenzen von 1945. Das war einer der Gründe, warum ich die Ostpolitik Willy Brandts unterstützt habe. Ich sollte hinzufügen: Als Schüler war ich in der CDU, bin aber 1961 ausgetreten wegen der Kampagne gegen den unehelich geborenen Emigranten Brandt. Seit 1962 bin ich Mitglied der SPD.
Deutschland war damals geteilt.
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ich empfand die ungleiche Verteilung der Lasten der Geschichte als ungerecht. Die deutsche Frage war für mich so lange ungelöst, solange ein Teil Deutschlands frei und der andere unfrei war. Da stand nicht die Idee der staatlichen Einheit im Vordergrund, sondern die Chancengleichheit für alle Deutschen, die ja in gleicher Weise schuld waren an der Katastrophe. Insofern war aus meiner Sicht die Freiheit für die Menschen in der DDR wichtiger als die staatliche Einheit. Einen Nationalstaat nach Art des Deutschen Reiches hielt ich für obsolet. Das war aus meiner Sicht Europa nicht zumutbar.
Erinnern Sie sich an den 13. August 1961, den Tag des Mauerbaus?
Ich hörte die Nachricht im Transistorradio und habe meinen Campingurlaub an der französischen Atlantikküste abgebrochen in der Annahme, dass ich einberufen werde. Als ich in Tübingen anlangte, hatte sich die Krise so weit entschärft, dass damit nicht mehr zu rechnen war. Aber ich habe das als tiefe Zäsur empfunden.
Die Sechzigerjahre gelten als Zeit des Aufbruchs.
Das deckt sich mit meiner Erinnerung. Ich war ab 1964 Assistent an der Freien Universität Berlin. West-Berlin war damals ein brisantes politisches Pflaster, Stichwort Studentenbewegung.
Waren Sie selbst von der Radikalisierung der Studenten betroffen?
Ich hatte 1972 einen Ruf der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg angenommen und bei meiner Antrittsvorlesung 1973 die Revolutionstheorie von Marx zu entkräften versucht. Daraufhin wurden meine Vorlesungen gesprengt. Wir haben dann von der Studentenbewegung gelernt und mit einer Art Professorenstreik erreicht, dass die Störungen aufhörten.
War die Spaltung der Gesellschaft damals größer als heute?
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Politische Spaltungen hat die alte Bundesrepublik viele erlebt, etwa beim Streit um die Wiederbewaffnung und um die Brandtsche Ostpolitik. Aber noch nie ist die liberale Demokratie von so vielen infrage gestellt worden wie heute.
Sie waren einer der Wortführer im Historikerstreit 1986/87, in dem es um die Einzigartigkeit des Holocaust ging. Heute wird dessen Bedeutung durch AfD-Politiker wieder kleingeredet.
National apologetische Denkmuster im Umkreis der radikalen Rechten sind nichts Neues, das gab es damals auch bei der Partei der Republikaner. Im Historikerstreit hat der Berliner Geschichtswissenschaftler Ernst Nolte versucht, die Einzigartigkeit des Holocaust durch die Konstruktion angeblicher Parallelen und Kausalitäten zum Stalinismus zu entsingularisieren. Habermas hat dann eine Gegenoffensive eingeleitet.
Also eine Erfolgsgeschichte, an der es nichts zu korrigieren gibt?
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Ich habe damals geschrieben, dass die NS-Diktatur das menschenfeindlichste Regime der Geschichte gewesen sei. Richtiger wäre es gewesen zu sagen, es wurde von keinem Regime je an Menschenfeindlichkeit übertroffen. Niemand wird im Ernst behaupten, dass Stalin, Pol Pot in Kambodscha oder Idi Amin in Uganda menschenfreundlicher gewesen seien. Das habe ich schon vor Jahren eingeräumt.
Postkoloniale Historikerinnen und Historiker kritisieren, dass die Deutschen auf den Holocaust fixiert seien und dabei übersehen hätten, was die Kolonialherren den Menschen in Afrika, Asien oder Lateinamerika angetan haben.
Es ist keine Frage mehr, dass der erste Völkermord im 20. Jahrhundert von Deutschen im damaligen Deutsch-Südwestafrika an den Herero und Nama verübt wurde. Nun gab es auch koloniale Verbrechen anderer Mächte, aber das ist kein Grund, einer selbstkritischen Aufarbeitung auszuweichen. Wenn dann allerdings argumentiert wird, dass der Holocaust als koloniales Verbrechen zu sehen sei, übersehen die Befürworter dieser These, dass zwar der deutsche Ostkrieg Züge eines Kolonialkrieges trug. Hitler hat von Belarussen, Ukrainern und Russen als »unseren Indianern« gesprochen. Aber der Entschluss, die Juden Europas auszurotten, steht auf einem ganz anderen Blatt. Er ergab sich aus den Gelegenheiten, die der Ostkrieg nach 1941 bot, und aus der Logik der nationalsozialistischen Rassenideologie.
Können Sie das präzisieren?
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Der Holocaust ist ein einzigartiges Verbrechen. Die totale, unterschiedslose, mit industriellen Mitteln betriebene Liquidierung des europäischen Judentums liegt auf einer anderen Ebene. Die Kolonialmächte zielten nicht auf die Ausrottung einer vermeintlichen Rasse, einschließlich einer großen Gruppe von Menschen, die zum eigenen Volk gehörten.
Von Friedrich Schlegel stammt das Bonmot, Historiker seien rückwärts gekehrte Propheten. Haben Sie den Mauerfall kommen sehen?
Nein, aber ich habe im Juni 1989 einen Vortrag an der Karl-Marx-Universität Leipzig gehalten. Schon die Einladung hatte mich verblüfft, weil ich in meinen Büchern die Mitverantwortung der Kommunisten für den Untergang der Weimarer Republik herausgearbeitet hatte.
In den Gesprächen stellte ich fest, wie sehr bis in die Kreise der SED-Intelligenz Gorbatschow der Held der Stunde war. Glasnost und Perestroika sollten auch in der DDR verwirklicht werden. Und da gewann ich das Gefühl, hier bahnt sich eine Umwälzung an. Ich habe dann einen Bericht an einige Politiker geschickt, vor allem in der SPD, und argumentiert, es gehe nicht an, dass man mit der DDR immer nur auf der Ebene von Staats- und Parteiführung spricht, denn in der DDR bahne sich eine tiefe Krise an. Ich habe sehr viele Reaktionen darauf bekommen, unter anderem vom damaligen Ministerpräsidenten von Nordrhein-Westfalen Johannes Rau, der mich einlud, ihn auf einer Reise nach Polen zu begleiten.
Die deutsche Einheit hat Ihrer Karriere einen enormen Schub gegeben.
Ich war überglücklich, als ich aufgefordert wurde, mich um einen Lehrstuhl an der Humboldt-Universität zu Berlin zu bewerben. Und in der Tat, ich kann mir schwer vorstellen, dass ich meine deutsche Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts – »Der lange Weg nach Westen« – anderswo hätte schreiben können als in Berlin. Da sind so viele Gespräche eingeflossen mit Akteuren.
In den vergangenen Jahren kam vermehrt Kritik auf an Ihrem Werk. Die Historikerin Hedwig Richter etwa moniert, Deutschland sei »ein recht gewöhnlicher Fall der Demokratiegeschichte« gewesen, vergleichbar anderen westlichen Ländern. Einen langen Weg nach Westen habe es daher nicht gegeben.
Deutschland hat kulturell zum Westen gehört und hat auch, siehe Immanuel Kant, einen markanten Anteil gehabt an der europäischen Aufklärung. Aber die Konsequenzen, die daraus in den Vereinigten Staaten und in Frankreich politisch gezogen wurden, die hat Deutschland nur zum Teil übernommen. Diese Unterscheidung macht Frau Richter nicht.
Geht es konkreter?
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Die Grundidee der allgemeinen unveräußerlichen Menschenrechte, der Volkssouveränität und der repräsentativen Demokratie wurde von Deutschland nicht rezipiert. Im Ersten Weltkrieg haben deutsche Kriegsideologen den westlichen Demokratien die sogenannten Ideen von 1914 entgegengestellt, die auf Ordnung, Zucht und Innerlichkeit hinausliefen und als Gegenposition gedacht waren zur westlichen Trias von Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit. Aus meiner Sicht war der Nationalsozialismus der Höhe- oder besser Tiefpunkt der deutschen Auflehnung gegen diese universalistische, individualistische Ausdeutung der Aufklärung in den klassischen westlichen Demokratien. Nur mit der mangelnden Vertrautheit der Deutschen mit der Idee der unveräußerlichen Menschenrechte lässt sich erklären, dass so viele am Holocaust mitwirkten.
Leidet die deutsche Geschichte nicht eher daran, dass es hier nie eine echte Revolution gab?
Ich bezweifle die Annahme, konsequente Revolutionen verbürgten immer eine demokratische Nationalgeschichte. Die Französische Revolution mündete bekanntlich im republikanischen Terror. Eine parlamentarische Demokratie wurde Frankreich erst sehr viel später.
Warum scheiterten alle deutschen Revolutionen?
Es ist eine Ironie der Geschichte, dass nicht die Reaktion, sondern der Fortschritt einer erfolgreichen Revolution in Deutschland entgegenstand. Die Erfahrung mit dem aufgeklärten Absolutismus, etwa Friedrichs II. von Preußen, hat die Erwartung befördert, dass man durch Reformen Probleme lösen könne und keine gewalttätige Revolution benötige. Als es 1848 in der Märzrevolution zu massenhaften Erhebungen kam, haben die Liberalen von Anfang an versucht, den Ausgleich mit reformwilligen Obrigkeiten zu finden. Die große Mehrheit der Deutschen wollte nicht die Republik, sondern eine konstitutionelle Monarchie mit Beteiligung des Volkes in Parlamenten und mit gesicherten Bürgerrechten.
Und das war kein Einzelfall?
In der Revolution 1918/19 haben wir eine ähnliche Konstellation. Die Mehrheit wollte eine Ausdehnung des bereits vorhandenen Wahlrechts, also mehr Demokratie, und nicht etwa den radikalen Umsturzversuch einer linksradikalen Minderheit, die eine Diktatur des Proletariats errichten wollte. Auch hier war es eine gewisse Fortschrittlichkeit der Institutionen, die genau dieses Ergebnis zeitigte.
Wir haben jetzt viel über den Westen gesprochen. US-Präsident Joseph Biden oder auch Kanzler Olaf Scholz behaupten, mit dem russischen Angriff auf die Ukraine werde auch der Westen angegriffen.
Ich sehe das auch so.
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Mit dem Angriff auf die Ukraine 2014 und in verschärfter Form seit 2022 hat Putins Russland die KSZE-Charta von Paris vom November 1990 zerrissen, die allen Unterzeichnerstaaten das Recht auf nationale Souveränität, territoriale Integrität und freie Bündniswahl zusichert. Putin hat darüber hinaus eine ganze Völkerrechtsepoche für erledigt erklärt, die 1945 mit der Gründung der Vereinten Nationen und deren Charta begonnen hat. Die Charta sieht ausdrücklich das Verbot eines Angriffskrieges vor. Das ist eine tiefe Zäsur. Das große Dilemma des Westens liegt nun darin, dass man nur mit Staaten verhandeln kann, die vertragsfähig und -willig sind. Ich kann bei Putins Russland beides nicht erkennen. Und deswegen muss die Ukraine weiter unterstützt werden. Denn hätte Putin dort Erfolg, müsste man davon ausgehen, dass die Ukraine nicht das letzte Angriffsobjekt gewesen ist.
In Ihrem historischen Werk kommt Russland eine meist problematische Rolle zu.
Russland spielt seit dem 18. Jahrhundert eine Schlüsselrolle in der deutschen Geschichte. Preußen und Österreich haben zusammen mit Russland Polen geteilt. In den Zwanzigerjahren unterhielt die Reichswehr geheime Verbindungen zur Roten Armee mit dem Ziel, Polen von der Landkarte zu tilgen.
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Der Hitler-Stalin-Pakt von 1939 war das krasseste Beispiel eines Zusammengehens von Deutschland und Russland auf Kosten der Völker zwischen ihnen. Und es gibt da eine Denkfigur, die in erstaunlicher Weise auch die Wiedervereinigung überlebt hat, und zwar parteiübergreifend. Sie finden das bei Horst Teltschik, dem außenpolitischen Berater Helmut Kohls, oder dem Sozialdemokraten Klaus von Dohnanyi: Wenn Deutschland und Russland sich vertragen, ist das gut für Europa. Die Interessen der Polen, Ukrainer, Moldauer oder Balten spielen offenbar keine Rolle.
Wie lautet Ihr Einwand?
Wir sind mit Balten und Polen verbündet, im Rahmen der Nato und der Europäischen Union. Ihre Interessen können nicht einer isoliert nationalen Interpretation vermeintlicher deutscher Interessen untergeordnet werden, wie das in der Vergangenheit allzu häufig der Fall war.
Der Diplomat Rolf Nikel, einst stellvertretender Sicherheitsberater von Merkel, hat eine Enquetekommission des Bundestages gefordert , um die Russlandpolitik aufzuarbeiten.
Ich halte eine solche Aufarbeitung für dringend erforderlich, und zwar unter Einbeziehung aller Denkmuster, die aus der Zeit vor der Wiedervereinigung nachwirken.
Sie leiden erkennbar an der Geschichte dieses Landes. Lieben Sie Deutschland?
Ja, in der Form, wie es der dritte Bundespräsident Gustav Heinemann in seiner Antrittsrede 1969 ausgedrückt hat: »Es gibt schwierige Vaterländer. Eines davon ist Deutschland. Aber es ist unser Vaterland.« Das klingt etwas altmodisch. Aber einen aufgeklärten, selbstkritischen Patriotismus halte ich für legitim und notwendig.
Herr Winkler, wir danken Ihnen für dieses Gespräch.
Zitierweise: Heinrich August Winkler, „Eine tiefe Zäsur", in: Deutschland Archiv, 15.11.2023, Link: www.bpb.de/542678. Die Erstveröffentlichung erfolgte im SPIEGEL vom 4.11.2023 unter dem Titel: "Ich hoffe, dass Deutschland auch aus einer schweren Krise nicht wieder als Diktatur hervorgeht", https://www.spiegel.de/panorama/heinrich-august-winkler-ueber-lehren-der-geschichte-der-bundesrepublik-deutschland-a-669f5741-7bab-4a1a-afa7-233825e8b0da. Alle Beiträge im Deutschland Archiv sind Recherchen und Sichtweisen der jeweiligen Autoren und Autorinnen, sie stellen keine Meinungsäußerung der Bundeszentrale für politische Bildung dar. (hk)
Der Historiker Prof. Dr. Heinrich August Winkler (Jahrgang 1938) lehrt seit 1991 an der Berliner Humboldt-Universität, er studierte Geschichte, Philosophie, Öffentliches Recht und Politische Wissenschaft in Münster, Heidelberg und Tübingen, wo er promovierte. Sein Lehrgebiet ist die Geschichte des Westens, seine Forschungsfelder sind Liberalismus, Nationalismus, Sozialismus, Faschismus und Nationalsozialismus. Hier seine Externer Link: Publikationsliste. Sein Werk "Der lange Weg nach Westen" über die deutsche Geschichte im 19. und 20. Jahrhundert und seine daran anschließende mehrbändige "Geschichte des Westens" gelten als Standardwerke. Als jüngstes Buch ist erschienen: „Die Deutschen und die Revolution. Eine Geschichte von 1848 bis 1989“, München 2023.
Jahrgang 1962, studierte Volkswirtschaft und arbeitete von 1990 bis 1999 bei der »Zeit«. War danach beim SPIEGEL Reporter, Autor, Leiter des Hauptstadtbüros und stellvertretender Chefredakteur bis 2018, danach wieder im Hauptstadtbüro. Seit Mai 2023 SPIEGEL-Chefredakteur.
Geboren 1965, für den SPIEGEL seit 1995 tätig, heute als Autor im Ressort Deutschland/Panorama. Der promovierte Historiker schreibt über Politik und Zeitgeschichte.
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