„Wer sich heute ernsthaft die DDR zurückwünscht, hat ein kurzes Erinnerungsvermögen“
Welche Zukunft blüht dem Osten? Ein Bilanzgespräch mit dem letzten Ostbeauftragten im Kanzleramt, Carsten Schneider
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Als "Beauftragter der Bundesregierung für Ostdeutschland" amtierte der Erfurter Bundestagsabgeordnete Carsten Schneider von 2021 bis zum 6. Mai 2025 im Bundeskanzleramt. Seine Aufgabe war die Koordinierung der deutschen Bundesregierung in Bezug auf Ostdeutschland – der sogenannte Aufbau Ost mit dem Ziel, auf gleiche Augenhöhe mit dem Westen zu kommen. Die schwarzrote Bundesregierung hat die Funktion nun ins Finanzministerium geschoben, künftig geleitet von der Geraer Bundestagsabgeordneten Elisabeth Kaiser. An seinem letzten Arbeitstag gab der "Ostbeauftragte" dem Deutschlandarchiv ein Interview über seine Wahrnehmungen im Osten und über die Zukunft des unter seiner Regie projektierten "Zukunftzentrums Deutsche Einheit und Europäische Transformation", das 2030 in Halle eingeweiht werden soll, mit 200 Mio Euro vom Bund finanziert.
Deutschlandarchiv: Herr Schneider, Sie haben während Ihrer Amstzeit einmal gesagt: „Ich arbeite jeden Tag daran, dass der Job des Ostbeauftragten weniger notwendig wird.“ Ganz reüssiert sind Sie damit nicht, die Funktion gibt es auch in der neuen Bundesregierung noch, nur aus dem Kanzleramt herausgelöst. Das wirkt wie eine Abwertung.
Carsten Schneider: Es ist eine Veränderung. Die Position war im Kanzleramt gut aufgehoben. Dass es künftig im Finanzministerium angesiedelt ist, empfinde ich aber nicht als Rückschritt. Denn dort laufen die zentralen Entscheidungen zum Haushalt und zu Investitionen zusammen. Die Einflussmöglichkeiten einer Ostbeauftragten sind damit unverändert groß. Und die Position bleibt im Range einer Staatsministerin am Kabinettstisch erhalten. Für uns als SPD war es wichtig, das Amt weiterhin zu besetzen.
Braucht der Osten denn immer noch Finanzpakete oder nicht eher einen Psychotherapeuten?
Ganz Deutschland hatte in den letzten Jahren mit einer Vielzahl von Krisen zu kämpfen. Da wirkt die Corona-Pandemie noch nach, Russlands Krieg gegen die Ukraine, die Flüchtlingssituation, all das hat im ganzen Land zu starken gesellschaftlichen Verwerfungen geführt. Das spiegelt sich auch in den Wahlergebnissen wider. Aber die AfD hat nicht nur in Ostdeutschland Auftrieb. Auch im Ruhrgebiet hat die AfD bei der Bundestagswahl stark zu gelegt. Ähnliche politische Entwicklungen sehen wir in Frankreich, in den USA oder in Italien. Wir müssen darauf Antworten finden.
Sie haben einmal geschildert, dass Sie Anfang der 90er Jahre politisiert worden sind, und zwar nach den Ausschreitungen junger Neonazis in Rostock-Lichtenhagen und Hoyerswerda, als es einen regelrechten Boom des radikalen Rechtsextremismus gab, der sich damals in rechten Kameradschaften und der NPD organisierte. Trifft Sie das, dass 35 Jahre nach der Einheit diese Bewegung gerade unter jungen Leuten im Osten wieder wächst und Menschen verängstigt? Was ist da passiert?
Wir erleben leider in Ost und West brutale Gewaltakte von Menschen, die sich durch die Parolen rechtsextremistischer Parteien ermutigt fühlen. In Ilmenau wurden jüngst erst indische Studierende von einem 21-Jährigen mit Gummigeschossen aus einem Auto heraus beschossen. Acht Menschen wurden dabei verletzt. Zum Glück hatten die Schützen keine echte Munition. Rechtsextreme Gruppen, die es in Ost wie West gibt, müssen wir mit allen juristischen und geheimdienstlichen Möglichkeiten begegnen.
Aber wie an deren Zulaufpotenzial und Unterstützer herankommen? Der Schriftsteller Interner Link: Christoph Hein hat jüngst in einem Spiegel-Interview gesagt, das Wahlergebnis im Osten sei auch eine „Trotzgeschichte“. Aus Ihrer Sicht auch?
Diese Erklärung funktioniert nur teilweise. Denn bei vielen Wählern handelt es sich mittlerweile um feste Überzeugungen, etwa wenn es um die Ablehnung der Eliten geht, ähnlich wie bei den Trump-Anhänger und Anhängerinnen in den USA. Sicher ist auch unter den AfD-Wählern im Osten ein harter Kern mit einem geschlossen fremdenfeindlichem Weltbild. Die gewinnen wir nicht zurück. Aber viele fühlen sich von den aktuellen Krisen überfordert. Die glauben gerne dem Versprechen, wir könnten in eine einfachere Welt von früher zurückkehren, die es aber nie wirklich gegeben hat. Bei denen habe ich noch Hoffnung.
Gegen all sowas anzugehen, kamen Sie Sie sich da manchmal vor wie Don Quichotte im aussichtlosen Kampf gegen Windmühlenflügel?
Als der Krieg Russlands begann und die Preise für Energie anstiegen, war mir klar, dass das auch Auswirkungen auf die politische Stimmung haben wird, zumal die Menschen in Ostdeutschland weniger Geld auf dem Konto haben und ihnen die Rücklagen für Krisenzeiten fehlen. Kein Wunder, dass die die besorgten Stimmen dort lauter sind. Ich habe immer versucht, diejenigen zu stärken und sichtbar zu machen, die positiv in die Gesellschaft hineinwirken, die sich ehrenamtlich engagieren und für gesellschaftlichen Zusammenhalt, Fortschritt, Weltoffenheit und Demokratie eintreten. Dafür habe ich als Ostbeauftragter zum Beispiel auch den Engagementpreis „machen!“ verliehen. In diesem Kontext habe ich immer wieder inspirierende Menschen getroffen, die gesellschaftlich mehr Aufmerksamkeit verdienen. Es gibt mehr davon, als wir öffentlich wahrnehmen.
Inzwischen gibt es nicht wenige Lokalpolitiker und Politikerinnen, die schmeißen hin, weil die Stimmung zu aggressiv wird, im Herbst 2024 mit Marko Wanderwitz auch einer Ihrer Amtsvorgänger, der nicht mehr neu für den Bundesag kandidieren wollte: "Ich muss meine Familie und mich körperlich und seelisch schützen", sagte er in einer Stellungnahme. Haben Sie ähnliches erlebt?
Der gesellschaftliche Ton mag rauer geworden sein, aber in 30 Jahren politischer Tätigkeit kann ich mich zum Glück nur an ganz wenige Situationen erinnern, wo es eine konkrete Bedrohung gab. Aber ich höre von vielen Kommunalpolitikern, dass sie nicht mehr für ihre Ämter kandidieren, weil der gesellschaftliche Umgang giftig geworden ist. Das betrifft auch ganz viele Frauen. Wenn ich Vereine, Handelskammern oder Rotary Clubs besuche, werbe ich immer um Unterstützung für die Stadt-, Kreis- oder Gemeinderäte, damit sie in diesem Klima nicht alleine gelassen werden. Jeder kann froh sein, dass sie diese wichtigen Ämter für ihre Mitbürger übernehmen. Ich habe auch viele Kommunalpolitiker ins Bundeskanzleramt eingeladen, um mich mit ihnen auszutauschen und die angemessene Wertschätzung für ihre Arbeit zu zeigen.
Ist es also auch ein mediales Problem, dass manchmal eher über die Wutmenschen berichtet wird und nicht über die Mutmenschen aus der Zivilgesellschaft, vor allem im Netz?
Das liegt leider oft an der Mechanik der Medien und den Algorithmen. Schlechte und emotionale Nachrichten werden schneller geteilt. Dabei müssten wir viel mehr von den Menschen erfahren, die Gutes tun und für die Gemeinschaft Dinge voranbringen. Sonst entsteht schnell das Gefühl eines schwindenden gesellschaftlichen Zusammenhalts. Dafür muss die engagierte Mitte der Gesellschaft auch lauter werden, sonst nutzen die extremen Ränder diesen Diskursraum.
Der AfD-blau gefärbte Osten. Als wären Wählende auf dem Gebiet der ehemaligen DDR mehrheitlich auf der Suche nach einer eigenen politischen Ost-Identität. Aber auch im Westen sind zum Teil starke AfD-Zuwächse zu verzeichnen. Zeitungsberichte über die Erststimmenverteilung nach der Bundestagswahl vom 23. Februar 2025 in Berliner Zeitung und Süddeutscher Zeitung.
Ärgert es Sie, dass im Netz inzwischen Witze kursieren, wie „Reisen nach Ostdeutschland heißen jetzt Fahrt ins Blaue“?
Mein Ziel bleibt es, dass Ostdeutschland nicht auf wenige Stereotype reduziert wird.
Nun soll es für den Osten ein Hoffnungszeichen geben. In Halle (Saale) soll das 200 Mio. Euro teure Interner Link: Zukunftszentrum Deutsche Einheit und Europäische Transformation entstehen. Bislang kennt man dank eines Architektenwettbewerbs aber nur die Form, jedoch nicht den Inhalt. Wozu soll das Zentrum gut sein?
Das Zukunftszentrum eröffnet der Stadt Halle und der Region die Möglichkeit, kulturellen und wissenschaftliche Impulse zu setzen, die in das ganze Land und auch ins europäische Ausland ausstrahlen. Zugleich soll das Zukunftszentrum auch niederschwellig Menschen vor Ort begeistern. Der Bund hat als Empfehlung der Einheitskommission eine neue Gesellschaft gegründet, die dialogisch orientiert ist, Bildungsarbeit macht und Forschenden gute Arbeitsbedingungen bietet. Die Herausforderungen der Transformation werden dabei mit einem europäischen Blick betrachtet. Hier werden der künftige Gründungsdirektor und sein Team vielfältige Akzente setzen. Zunächst mussten wir die Mittel für die Gründung und den Aufbau des Hauses und der Gesellschaft bereitstellen. Dass das Zukunftszentrum realisiert wird, ist nun auch im schwarz-roten Koalitionsvertrag abgesichert. Im Jahr 2030 soll es fertig sein.
Zeitweise herrschte aber der Eindruck, dem Projekt sind die Lobbyisten abhanden gekommen, die es stärker pushen könnten.
Nein, das Gegenteil ist richtig. Auch die Tatsache, dass das Amt der Beauftragten der Bundesregierung für Ostdeutschland nun im Bundesfinanzministerium angesiedelt ist, stärkt das Projekt. Damit kann nun in aller Ruhe die Person gesucht werden, die das Projekt als Programmgeschäftsführung auch inhaltlich zum Leben erweckt. Die Grundlagen sind gelegt. Ich bin auf jeden Fall überzeugt, dass wir das Zukunftszentrum finanziell und in seinen Strukturen sehr gut auf den weiteren Aufbau und die inhaltliche Arbeit vorbereitet haben.
Fertig werden soll das Zukunftszentrum 2030. Das ist genau 40 Jahre nach der Deutschen Einheit. Kommt das nicht viel zu spät?
Tatsächlich ist es interessant, dass das Interesse an der Zeit der Transformation nach 1989 erst jetzt so groß geworden ist. Auch die Ostdeutschen hatten dafür lange keinen Kopf, viele hatten deutlich mehr mit den Herausforderungen ihres eigenen Lebens und des Alltags zu tun. Dazu kommt, dass sich auch die Bundesrepublik im Wandel befindet und mit neuen Brüchen und Widersprüche konfrontiert ist. Blicken wir nach vorn: Das Zukunftszentrum kann ein Raum sein, wo wir uns auch mit den Chancen von Umbrüchen auseinandersetzen. Zum Beispiel hätte sich vor 40 Jahren niemand vorstellen können, dass in Europa eine Gemeinschaft von friedlichen Nachbarn entstehen würde, Russland einmal ausgenommen. Darüber müssen wir mehr sprechen.
Das heißt, ein stärkeres mitteleuropäisches Bewusstsein ist überfällig?
Die Europäische Union orientiert sich stark nach Westeuropa. Die osteuropäischen Länder bekommen dabei zu wenig Raum und Stimme. Die Balten und die Polen haben zum Beispiel immer auf die Gefahr eines imperialistischen Russlands hingewiesen. Wir Deutschen, auch ich, haben das nicht ernst genug genommen, auch beim Streit um die Ostsee-Pipeline Nord Stream 2. Inzwischen arbeiten mehr als 5 Millionen Menschen aus anderen Ländern bei uns und haben dieses Land verändert, die meisten davon stammen aus Mittel- und Osteuropa. Das dürfen wir nicht vergessen und sollten es als Chance begreifen.
Wie unabhängig kann eigentlich das Zukunftszentrum agieren? Es gibt Wissenschaftler, die befürchten, dass eher oben herab politische Erwartungshaltungen vorgeschrieben werden, worauf die Forschung hinauslaufen soll.
Wissenschaft muss immer frei sein. Auch am Zukunftszentrum. Im Mittelpunkt steht das Ziel, Wissen über und Denkanstöße für die deutsche und europäische Transformation zu generieren. Das betrifft die Auswirkungen des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine und letztlich den Westen, aber auch den weltweiten Trend hin zu Autoritarismus und Rechtspopulismus. Die Transformationsforschung muss daher in Zukunft auch über Deutschlands Grenzen, auch über Osteuropa hinausschauen. Ferner muss das Zukunftszentrum zu einem Ort der Inspiration, des freien Denkens und der freien Rede werden. Ein Ort, an den Hallenser und ihre Gäste gerne kommen, wo sie sich wohlfühlen, wo es Impulse durch Ausstellungen und Debatten gibt, die man anderswo so nicht findet.
Gibt es dafür ein Vorbild?
Ja, in Danzig steht seit 2014 das Solidarność-Zentrum. Das ist genau so ein vielfältiger Ort. Da besuchen manche die Bibliothek, manche die Ausstellungen, manche nehmen an wissenschaftlichen Veranstaltungen und Diskursen teil, und andere Besucher nutzen den Ort, um gemütlich Kaffee zu trinken. Und es ist ein zentraler Anlaufpunkt der liberalen und demokratischen Bewegung in Polen und Europa, allen zeitweisen politischen Widerständen zum Trotz.
Weil Sie Danzig erwähnen, bedauern Sie, dass dessen bisheriger Leiter Basil Kerski, der auch als Berater für das Zukunftszentrum tätig war, nun das in Planung befindliche Haus der Geschichte Nordrheinwestfalens leiten wird? Wäre er ein kluger Kopf für das Zentrum gewesen?
Ich schätze Basil Kerski sehr. Wir waren gemeinsam in der Auswahlkommission für den Standort des Zukunftszentrums, er ist ein polyglotter Freigeist mit spannenden deutschen Wurzeln. Es gibt nicht viele wie ihn, die Ost- und Westeuropa gleich gut verstehen. Wir reden ja viel über die Verbindungen des „alten“ Westens, insbesondere zwischen Frankreich und Deutschland. Aber die Brücke zwischen Polen und Deutschland muss mindestens genauso selbstverständlich werden. Polen gehört zu den dynamischsten und spannendsten Ländern Europas. Ich finde es bewundernswert, wie sie das geschafft haben.
Ärgert Sie, dass die westdeutsche Gesellschaft so lange eher desinteressiert war, was im Osten passiert?
Natürlich finde ich es schade, wenn die Neugier für Ostdeutschland fehlt, etwa für Chemnitz als Kulturhauptstadt oder viele andere Städte im Osten, die in ihren Zentren noch Individualität ausstrahlen und nicht so uniform von austauschbaren Ladenketten geprägt sind. Nachdenklich stimmt mich auch, dass Sie im intellektuellen Diskurs bundesweit nur wenige ostdeutsche Stimmen hören. Die Schriftstellerin Juli Zeh ist eine der stärksten, die ja eine West- und Ostbiografie hat und oft und sehr genau den Puls der Zeit trifft. Dass sie dann immer wieder so scharf angegriffen wird, finde ich absurd.
Christoph Hein hat im Spiegel prognostiziert, von der DDR werde nichts bleiben. Sehen Sie das auch so kommen?
Keineswegs. Denn die DDR hat ja ganz viele Menschen geprägt, auch mich. Das bleibt. Zum Beispiel wurde auch das Selbstbild und Berufsbild vieler arbeitstätigen Frau im Osten davon bis heute beeinflusst. Das hat auch das Familienbild im Westen verändert. Was von der DDR leider auch bleibt, und das finde ich absolut nicht gut, ist das Verschwinden der Religion. In Polen gab es das nicht. Ich sage Ihnen als Agnostiker, das hat nicht zu einem gesellschaftlichen Fortschritt beigetragen, sondern zu einer gewissen Härte geführt. Auch auf diese Weise sind in den jüngeren Generationen bestimmte gesellschaftliche Werte abhanden gekommen.
Der Berliner Soziologe Interner Link: Daniel Kubiak diagnostiziert eine derzeit wieder einsetzende Abwanderung vor allem gut ausgebildeter junger Menschen aus Ostdeutschland gen Westen, insbesondere von Frauen. Woran liegt denn das?
Der starke Geburteneinbruch liegt daran, dass die Frauen, die bereits seit den 90ern gegangen sind, heute im Osten keine Kinder bekommen. Selbst in Erfurt und Weimar, müssen Kitaplätze abgebaut werden, weil wir dort nicht genügend Nachwuchs haben. Seit 2017 gab es - bis auf die letzten beiden Jahre - wieder einen Wanderungsüberschuss. Also mehr Menschen wanderten bis dahin nach Ostdeutschland, als weggezogen sind. Klar ist, die westdeutschen Bundesländer profitieren stärker von internationaler Zuwanderung.
Weil das politische Klima für Zuwanderer im Osten zu problematisch ist?
Diese demografische Entwicklung ist zu einem unserer größten Probleme geworden. In Ostdeutschland brauchen wir mehr gesteuerte Zuwanderung, von Rückkehrern, aber eben auch aus dem Ausland, damit Wirtschaft und Gesellschaft sich weiterhin positiv entwickeln können.
Was könnte einen gesellschaftspolitischen Klimawandel im Osten bewirken, der zu einer Umkehr führt? Denn auf der anderen Seite spekuliert die ja eher fremdenfeindlich eingestellte AfD jetzt schon auf die Wahl 2029, dann noch stärker abzuschneiden, als jüngst bei der Bundestagswahl. Glauben Sie, die AfD entwickelt sich eher Richtung einer identitätsstiftenden Art Ost- CSU oder eher einer Ost-NPD?
Als Mitglied der Bundesregierung möchte ich nicht über die Entwicklung einer anderen Partei spekulieren. Ich wünsche mir aber, es würden sich mehr Menschen, die sich der politischen Mitte angehörig fühlen, auch in einer zweifelsfrei demokratischen Partei engagieren, um sie zu stärken. Demokratie ist keine Selbstverständlichkeit.
Warum wachsen aber so wenig aktive Demokraten und Demokratinnen nach?
Weil diese Tradition im Osten fehlt. Die Mitgliedszahlen der Parteien sind nach wie vor niedrig. Viele Ostdeutsche sagen, ich musste mal Mitglied in einer Partei oder Gewerkschaft sein, ich trete in keine mehr ein.
Noch einmal ein Exkurs zum geplanten Zentrum für Deutsche Einheit und Europäische Transformation in Halle. Eingeweiht werden soll es 40 Jahre nach Mauerfall und Wiedervereinigung als Nachdenkort. Genau 40 Jahre hat zuvor auch die DDR existiert, das Jahr 1989 markierte dann so eine Art Midlife- Crisis mit anschließendem Zusammenbruch. Die Ostberliner Rockband City textete damals ein Lied mit dem Titel Halb und Halb:
"An manchen Tagen sage ich mir, die Hälfte ist rum und du bist immer noch hier,…Halb und Halb. Im halben Land und der zerschnittenen Stadt, halbwegs zufrieden mit dem, was man hat. Halb und Halb.“
Damit wurde soziologisch ziemlich präzise analysiert, was viele Leute, die ab 1949 mit der DDR aufgewachsen waren, nach 40 Jahren SED-Diktatur als persönliche Bilanz zogen. Die SED wollte feiern, aber viele dachten: haben wir eigentlich Grund mitzufeiern oder nicht? Ist heute nach bald 40 Jahren Vereinigung die nächste Generation nach dem Mauerfall genauso weit und stellt sich eventuell die gleiche Frage, hat die Einheit mir und meinen Eltern eigentlich das gebracht, was ich mir vorgestellt habe oder nicht? Kann das auch einer der Psychofaktoren sein, der da im Moment eine Rolle spielt, dass Deutschland zwar vereint, aber immer noch nicht geeint scheint?
Sicherlich gab es wenige Menschen, vor allem aus der alten Führungsklasse der DDR, für die war der friedliche Sturz des Systems und die Wiedervereinigung ein persönlicher Verlust. Aber wer sich heute ernsthaft die DDR zurückwünscht, hat ein kurzes Erinnerungsvermögen. Ein Land, in dem keine Meinungsfreiheit herrscht, wo man wirklich eingesperrt wird, wenn man sich politisch gegen die Regierung engagiert, wo es keine Reisefreiheit gibt, wo die Medien vom Staat gelenkt werden und wo man seinen Beruf nicht frei wählen kann, das kann niemand ernsthaft wollen. Auch wenn man sich den Zustand der Infrastruktur anschaut oder noch wichtiger, den der Natur, so sind wir heute weit gekommen. Ja, das Leben ist deutlich komplizierter geworden. Und es heißt auch nicht, dass die Menschen nicht persönlich im DDR-Alltag gut gelebt haben können. Und an einigen Punkte konnte der Westen ja gut vom Osten lernen: zum Beispiel beim Ausbau der Kinderbetreuung, dem Anteil von erwerbstätigen Frauen oder bestimmten Aspekten der Gesundheitsversorgung, wie den Polikliniken. Aber, dass Menschen in der DDR grundsätzlich heute an der Wiedervereinigung zweifeln, habe ich so nicht erlebt. Allerdings beschreiben noch immer viele das Gefühl, Bürger zweiter Klasse zu sein. Das abzubauen, daran müssen wir arbeiten.
Politisch ist seit der Bundestagswahl die Situation eingetreten, dass aus dem Osten im Bundestag fast nur direkt gewählte AfD- Kandidaten vertreten sind und nur ganz wenige direkt gewählte aus den beiden Regierungsparteien. Wird das zu einer zusätzlichen Bürde werden?
Absolut. Sowohl die CDU als auch die SPD haben im Osten unterdurchschnittlich abgeschnitten. Deswegen ist der Osten in den Fraktionen der demokratisch geprägten Parteien auch nur unterdurchschnittlich präsent und wir müssen umso aktiver sein, um unsere Heimat-Regionen angemessen vertreten zu können. Die Leute haben nun mal die AfD gewählt. Und die ist nicht in der Regierung. Dementsprechend ist der Einfluss Ostdeutschlands auf die Regierungspolitik strukturell gesunken.
Fürchten Sie, dass das zu einer Verhärtung des AfD-Milieus führen könnte und bei vielen wieder zu einer stabilen Vorurteilsmauer im Kopf, letztendlich auch geprägt von einem Feindbild Demokratie?
Nein, das Feindbild ist nicht die Demokratie. In Ost und West sind die Menschen grundsätzlich von der Demokratie überzeugt, nur mit der konkreten Umsetzung sind sie nicht zufrieden. Ich würde mich freuen, wenn mehr Menschen das sehen, was wir in den vergangenen 35 Jahren gemeinsam erreicht haben, anstatt nur dahin zu gucken, wo es noch nicht so läuft. Und man darf nicht vergessen, wir leben in einem Land, um das uns die Mehrheit der Weltbevölkerung beneidet.
Über die vergleichsweise schlechtere Laune im Osten haben Sie ja auch mit dem Publizisten Interner Link: Dirk Oschmann gestritten, der sein Buch über die Erfindung des Ostens durch den Westen inzwischen in der 13. Auflage verkauft. Haben Sie den Eindruck, dessen ausschließliche Zuspitzung negativer Erfahrungen im Osten hat Klischees voneinander eher gefestigt als abgebaut?
Es war jedenfalls kein aufklärerisches, sondern ein wütendes Buch. Es spricht auch eher zu einer älteren Generation, die in den vergangenen Jahrzehnten Demütigungen erlebt hat. Also ehemalige DDR-Bürger und Bürgerinnen, die zur Wende 25 Jahre und älter waren. Und deren Berufsleben und Berufsabschlüsse zum Großteil erstmal nichts gegolten haben. Auch jeder aus meiner Familie musste nach der Wiedervereinigung einen neuen Beruf finden. Und für keinen der Älteren wurde es ein Aufstieg. Das wirkt in vielen Bereichen nach, insbesondere im Universitätsbereich unter Professoren, die sich komplett neu bewerben mussten. Vielleicht ist da der Elitenaustausch Anfang der 90er zu vehement forciert worden. Das kränkt einige Betroffene bis heute.
Als Sie 2021 das Amt des Ostbeauftragten übernommen hatten, ahnten Sie, wie weit das zu beackernde Feld Ostdeutschland noch reicht?
Ich bin ja seit vielen Jahren Bundestagsabgeordneter und kenne die Menschen in meiner Region. Aber Ostdeutschland ist auch sehr vielfältig, das Land wie auch die Menschen. Die Sächsische Schweiz unterscheidet sich dann doch sehr vom Brandenburger Umland. Nicht nur geografisch, sondern auch politisch. Mir hat es immer geholfen, wenig in der Vergangenheit zu kleben, sondern eher offen positiv an die Dinge ranzugehen. Eher mit der Haltung: „Da ist die Welt, die steckt voller Möglichkeiten lasst uns daraus etwas machen.“ Natürlich ist in der Geschichte auch viel schiefgelaufen, aber lasst uns daraus lernen, um diese Fehler nicht noch einmal zu machen.
Ist für Sie die DDR eigentlich ausgeforscht?
Nein. Die Geschichte der DDR bleibt ein ebenso relevantes Thema wie die Beschäftigung mit den gesellschaftlichen Umbrüchen der Zeit.
Überrascht steht es, dass an der FU Berlin der Forschungsverbund SED-Staat im Januar sang und klanglos abgewickelt worden ist, in Berlins alter Stasizentrale in Lichtenberg, das geplante Forum der Havemann-Gesellschaft für Opposition und Widerstand aus der Politik kaum Rückendeckung erfährt, auch die geplanten Einheitsdenkmäler in Leipzig und Berlin nicht richtig vorankommen. Liegt das daran, weil für das Thema DDR-Aufarbeitung mittlerweile eine politische Lobby fehlt?
Das ist in der Tat ein Dilemma. Diejenigen, die die Friedliche Revolution und die Wiedervereinigung 1989/90 noch persönlich mit vorangetrieben haben, gehen allmählich in Rente und kaum einer von ihnen ist noch im Bundestag vertreten. Beispiele dafür sind Arnold Vatz, Katrin Budde, Stefan Hilsberg, Markus Meckel und viele andere. Sie sind inzwischen aus den Parlamenten ausgeschieden und politisch weniger aktiv. Eine Nachfolgegeneration mit diesen politischen Wurzeln in der Vergangenheit ist aber nicht sozialisiert worden. Dafür merke ich bei einer jungen Generation heute ein neues Ostbewusstsein, eine Ostidentität, die ihre Herkunft nicht als Makel begreift, sondern als Chance für einen anderen Blick auf die Gesellschaft. Die haben in ihren Familien gesellschaftliche Umbrüche erlebt und sind deshalb dafür gewappnet, auch die nächsten Herausforderungen mit anzupacken. Das macht mir Mut.
Aber war Ihr Abgang als Ostbeauftragter nicht eigentlich auch ein Stück Resignation?
Carsten Schneider: Nein, ich habe alle vier Jahre etwas Neues gemacht und so ist es auch diesmal. Als Bundesumweltminister bleibe ich auch ein Anwalt des Ostens. Außerdem bin ich weiterhin gewählter Abgeordneter im Bundestag für meinen Wahlkreis in Thüringen.
Deutschlandarchiv: Herr Schneider, wir danken für das Gespräch.
Die Fragen stellte Holger Kulick, Zitierweise: „Der letzte Ostbeauftragte aus dem Kanzleramt. Ein Interview mit Carsten Schneider“, in: Deutschland Archiv, 22.05.2025, Link: www.bpb.de/561948. Alle Beiträge im Deutschland Archiv sind Recherchen und Sichtweisen der jeweiligen Autoren und Autorinnen, sie stellen keine Meinungsäußerung der bpb dar. (hk)
QuellentextWie sich der bzw. die Ostbeauftragte definiert
Die genaue Bezeichnung und Zuordnung der Ostbeauftragten hat sich im Lauf der Zeit mehrfach gewandelt. Bis 2002 lautete der Titel "Beauftragte/r der Bundesregierung für die neuen Bundesländer" und von 2002 bis 2021 "Beauftragte/r der Bundesregierung für die Angelegenheiten der Neuen Länder". Etwas mehr als 40 Mitarbeitende gehören aktuell dem Arbeitsstab an.
Zur Funktion heißt es gegenwärtig (Stand Mai 2025) auf der Homepage der neuen "Beauftragten der Bundesregierung für Ostdeutschland", der Staatsministerin Elisabeth Kaiser mit Sitz im Finanzministerium (Ausschnitt):
"....Ostdeutschland verfügt über viele liebenswerte regionale Eigenheiten. Im Vergleich zu Westdeutschland existieren aber leider noch immer strukturelle Ungleichheiten. Die Bundesregierung hat sich vorgenommen, die sozialen, wirtschaftlichen, demografischen und gesellschaftspolitischen Unterschiede zur Chefsache zu machen.
Erfahrungen der Ostdeutschen nutzen
Denn die Themen, Chancen und Herausforderungen Ostdeutschlands sind Angelegenheiten unseres ganzen Landes. Die Bundesregierung will unser Land mit Respekt und einer Modernisierungsoffensive voranbringen. Dazu müssen wir die Fähigkeiten, die Kompetenzen und den Erfahrungsschatz der Ostdeutschen nutzen – beispielgebend für die anstehenden Transformationsprozesse im ganzen Land. Die Einheit auf Augenhöhe zu vollenden bleibt eine dauerhafte Aufgabe.
Mehr Ostdeutsche in Führungspositionen
Dabei wird es zentral sein, dass gesellschaftliche Miteinander zu stärken. Drei Jahrzehnte nach der friedlichen Revolution und der Wiedervereinigung werden wir dafür sorgen, dass die Lebensleistungen der Ostdeutschen sichtbarer und besser anerkannt werden. Dafür ist es entscheidend, dass in den öffentlichen Institutionen unseres Landes an entscheidender Stelle mehr Menschen aus Ostdeutschland vertreten sind. Nur so können wir das Vertrauen in unsere Demokratie und ihre Institutionen wieder stärken.
Mehr Wachstum in Ostdeutschland
Unsere Ziele sind gleichwertige Lebensverhältnisse in ganz Deutschland. Zugleich geht es darum, auf spezifischen Feldern einen Vorsprung Ost zu entwickeln. Vonnöten sind dafür eine vorausschauende Struktur- und Industriepolitik, die Verbindung der Wachstumsregionen mit den ländlichen Regionen sowie eine kluge Infrastruktur-, Innovations-, Wohnungs- und Arbeitsmarktpolitik. Dann kann die wirtschaftliche Dynamik der Wachstumsregionen in alle ostdeutschen Landesteile ausstrahlen....".