„Leicht wär’s mit Narrheit sich befassen,/ Könnt‘ man auch leicht von Narrheit lassen,/ Doch wenn dies einer auch beginne,/ Wir der gar vieler Hindrung inne.“
Von der Kunst des Romans Anmerkungen eines Historikers zu Christoph Heins „Das Narrenschiff“. Und dessen Replik.
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Was Romanciers und Historiker unterscheidet wenn es um die Aufarbeitung von Geschichte geht. Eine Buchkritik des Historikers Ilko-Sascha Kowalczuk am neuen Bestsellerroman des Schriftstellers Christoph Hein (81) "Das Narrenschiff" über die Geschichte der DDR. Im Anschluss Heins prompte Entgegnung sowie ein Textauszug. Am Tag der Veröffentlichung erhielt der Autor dieser Buchbetrachtung, Ilko-Sascha Kowalczuk, in Berlin den Karl-Wilhelm-Fricke-Preis der Stiftung Aufarbeitung, der Engagierte auszeichnet, die sich beständig mit Zivilcourage gegen Diktaturen und für Demokratie einsetzen.
Der Schriftsteller Christoph Hein (81) und Autor des Romans "Das Narrenschiff" bei einer Lesung im Rahmen der jährlichen "Geisterstunde" auf dem Dorotheenstädtischen Friedhof in Berlin, hier aufgenommen am 15. Juni 2019 am Grab des 2001 verstorbenen Literaturwissenschaftlers Hans Mayer. (© picture-alliance, SZ Photo | Rolf Zöllner)
Anfang Januar 2019 publizierte Christoph Hein in der Süddeutschen Zeitung einen Essay, in dem er dem Erfolgsfilm „Das Leben der Anderen“ (2006) attestierte, Unsinn zu erzählen; er hatte sich bereits 2002 vom Filmprojekt distanziert. Belustigt berichtete er – und ich kann das bestätigen –, dass in so manchem Hochschulseminar dieser Spielfilm wie eine Dokumentation über das Leben in der DDR und das Wirken der Stasi behandelt wird.
Christoph Hein, den ich seit über 40 Jahren verehre und dessen Publikationen ich nahezu immer sofort nach Erscheinen verschlinge, gilt seit Jahrzehnten als „Chronist“ der DDR und Ostdeutschlands. Er widerspricht dieser Einschätzung nicht, befeuert sie sogar – und dabei gibt es nichts Unsinnigeres, als einen Künstler, einen Schriftsteller als Chronisten zu betiteln.
Ein Chronist geht faktologisch vor, er rekonstruiert nicht, sondern reiht Fakt an Fakt aneinander und versucht dabei, durch eine möglichst zurückhaltende und nicht wertende Sprache, durch möglichst objektive Begriffe die Ereignisse chronologisch anzuschließen.
Chronist oder Geschichtenerfinder?
Natürlich ist auch das keine Objektivität – welches Ereignis aufgenommen wird und welches nicht, welche Begriffe benutzt werden, all das sind auch subjektive Entscheidungen (Hein freilich glaubt an eine „subjektiv Objektivität“ seiner „Chronistenrolle“)
Hein erfindet hingegen Geschichten und ist damit seit Jahrzehnten erfolgreich wie kaum ein zweiter deutscher Gegenwartsautor: „Der fremde Freund“ („Drachenblut“) (1982), „Horns Ende“ (1985), „Der Tangospieler“ (1989), „Von allem Anfang an“ (1997), „Landnahme“ (2004), „Frau Paula Trousseau“ (2007), „Weiskerns Nachlass“ (2011), „Glückskind mit Vater“ (2016), „Verwirrnis“ (2018), „Ein Wort allein für Amalia“ (2020), „Guldenberg“ (2021), „Unterm Staub der Zeit“ (2023) sind einige Titel eines überaus beeindruckenden Oeuvres. Hinzu kommen Essays, viele davon intellektuelle Ereignisse, und Theaterstücke, darunter der für mich ultimative Abgesang auf die DDR, rechtzeitig im Frühjahr 1989 herausgekommen: „Die Ritter der Tafelrunde“ – das Beste, was ich zum Ende der DDR je aus einer dramatischen oder prosaischen Feder las. Damals elektrisierte mich der Text geradezu.
Im Fokus: "Narren" und "Historiker"
In vielen Büchern und Texten von Hein spielen zwei Gruppen, die – das kann ich aus eigener Anschauung durchaus so sagen – gewisse Überschneidungen aufweisen, eine große und immer wiederkehrende Rolle: „Narren“ und „Historiker“. Während sich die erste Gruppe ohne nähere Charakteristika durch das Schrifttum von Hein zieht, wohl darauf vertrauend, dass die Lesenden schon wissen, wer und wie es gemeint ist, kommen die der zweiten Gruppe zugehörigen Protagonisten – nicht nur, aber auch explizit als Historiker benannt – im literarischen Werk meist als gescheiterte, weithin allein wurstelnde, irgendwie durch Umstände, für die sie nichts können, und in Verfolgungskampagnen zu Außenseitern abgestempelte vor. Sie scheinen Abbilder jenes Lessings zu sein, dem der Autor Hein in den Mund legt:
„Denn so recht lieben kann ich die Menschen nur in meiner Stube, am Schreibtisch, allein. Oder vergraben in Bücher und die Einsamkeit der Bibliothek. Von Herzen liebte ich alle Menschen, als ich meine Stücke schrieb, früh um fünf Uhr, mit mir allein und in bester Gesellschaft.“
Die merkwürdige Hochachtung vor Historikern, die Hein mit vielen Menschen teilt, und die meist in lebensfremden Äußerungen wie „Aber, Sie als Historiker...“ oder „Als Historiker müssten Sie doch...“ selbst in wissenschaftsfernen Alltagsgebieten zu vernehmen sind, schlägt sich bei Hein zunächst in einer lebenslangen Befassung damit auseinander, was Geschichtsschreibung, was Historiker tun und tun sollten. Er schreibt der Geschichtswissenschaft zu, ungleich stärker als jede andere Wissenschaft Versuchen ausgesetzt zu sein, außerwissenschaftlicher Einflussnahmen zu unterliegen.
Hein geht so weit, zu schreiben: „Geschichtsschreibung ist als reine Wissenschaft nicht zu haben; sie war stets von ideologischen Prämissen abhängig, von ihrer Gesellschaft und dem politischen Umfeld.“ Ich will das nicht einmal in Abrede stellen – und mache mich damit in der „Zunft“ der Historiker vermutlich unmöglich. Nun hat Christoph Hein aber jüngst weiter zugespitzt und seine Position radikalisiert. In einem Interview sagte er:
„Aber ich meine ohnehin, dass nicht die Historiker für die Geschichtsschreibung zuständig sind, sondern seit 2000 Jahren, seit Homer bis zu Tolstoi und Dostojewski, allein die Romanciers. Die Historiker liefern uns hilfreiche Mittel, Anregungen, aber viel mehr nicht. Denn sie sind nur für die Hinterlassenschaften zuständig. Und die stimmen nicht immer mit der Geschichte überein. Sehr viele politisch wichtige Leute haben schon immer versucht, die Geschichtsschreibung in ihrem Sinne zu verändern. In meinem Buch erzähle ich sechs verschiedene Ereignisse, in denen die Hinterlassenschaften nicht mit der Geschichte übereinstimmen.“
Etwas erstaunlich ist diese Aussage schon. Ich hoffe doch sehr, dass auch Hein den Unterschied zwischen „Vergangenheit“ als die Totalität aller zurückliegenden Ereignisse und Vorgänge und „Geschichte“ als das später davon Rekonstruierte – Geschichte beinhaltet also die rekonstruierten Ausschnitte aus der gesamten Vergangenheit – kennt, so ganz sicher bin ich mir aber nicht. Ebenso könnte ich nach dieser Passage nicht mit Vehemenz behaupten, dass dem Autor die Unterschiede zwischen der Geschichtsschreibung in der DDR und der Bundesrepublik geläufig sind. Während in der DDR die Geschichtsschreibung als Legitimationswissenschaft mit einer einzigen Theorie (Marxismus-Leninismus) auch einige Produkte von höchster wissenschaftlicher Qualität lieferte, kommen in der Bundesrepublik geschichtswissenschaftliche Werke aus einem kaum überschaubaren pluralistischen Theorie- und Methodenpool heraus, unter denen sich auch einige Stücke befinden, die inhaltlich durch außerwissenschaftliche geschichtspolitische Beeinflussungen geprägt worden sind.
Sind Historiker nur Hilfskräfte?
Doch die eigentliche, mich beschäftigende Aussage ist Heins Ansage, nur er als Romancier sei für Geschichtsschreibung zuständig, ja, überhaupt in der Lage, Geschichtsschreibung zu bieten. Historiker sind aus dieser Perspektive offenbar lediglich Hilfskräfte. Ich gebe gern zu, das hat mich auch persönlich gekränkt – vor 15 Jahren stellte Christoph öffentlich und überschwänglich mein Buch „Endspiel“ (2009) vor, vor wenigen Monaten äußerte er sich über meine beiden Bände zur Ulbricht-Biographie (2023/24) nicht weniger zurückhaltend positiv am Rande der Buchpremiere in der Berliner Akademie der Wissenschaften, wie auch geradezu euphorisch über mein Buch „Die Übernahme“ (2019); mit meinem „Freiheitsschock“ (2024) konnte er weniger anfangen.
Nun, vielleicht waren das auch nur höfliche Äußerungen, ich werde das künftig nicht mehr überbewerten, zumal ich nach der intensiven Lektüre seines neuesten Romans – „Das Narrenschiff“ – davon ausgehen muss, dass er sich weder mit dem „Endspiel“ noch mit „Walter Ulbricht“ noch überhaupt mit wissenschaftlicher Literatur ernsthaft befasst hat, dass ich von einer nachhaltigen Rezeption sprechen, eine solche in seinem „Narrenschiff“ erkennen könnte.
Hein bekennt wie viele andere Autoren gern, dass er – wenn er mit einem Manuskript fertig ist und es abgegeben hat, an neuen zu arbeiten beginnt –, und nun die Publikation des fertigen Manuskripts aus großer Distanz betrachtet. Der Text, so Hein, habe dann „mit mir nichts mehr zu tun“.
Seine bereits erwähnte Komödie „Die Ritter der Tafelrunde“, (1989) fasst eigentlich das „Narrenschiff“ ziemlich präzise zusammen: Der junge aufmüpfige Mordret ruft seinem Vater Artus zu: „Euer Gral ist ein Fantom, dem ihr ein Leben lang hinterhergejagt seid. Ein Hirngespinst, um das ihr euch die Köpfe blutig geschlagen habt. Sieh dir deine Gralsritter an. Verstörte, unzufriedene, ratlose Greise, die das Leben verklagen.“
Artus hält Mordret am Schluss vor, die Tafelrunde verstünde nicht, was er wolle. Mordret antwortet: „Das weiß ich selbst nicht. Aber das alles hier, das will ich nicht.“ Artus begreift, sein Sohn Mordret will ihn und seinen Tafeltisch ins Museum schaffen. Das erst schaffe Platz zum Atmen. „Ich habe Angst, Mordret. Du wirst viel zerstören. Mordret: Ja, Vater. ENDE.“
Das ist im Prinzip „Das Narrenschiff“ in einer „Annotation“ zusammengefasst. Allerdings schrieb Christoph Hein einmal 1978 vollkommen zutreffend, was Texte über Vergangenheit und Geschichte anbelangt: „Stücke, die in der Gegenwart geschrieben werden, sind Gegenwartsstücke.“
Christoph Heins großangelegte Roman „Das Narrenschiff“ behandelt auf über 700 Seiten die Geschichte der DDR anhand verschiedener, sich überwiegend überkreuzender Lebensverläufe.
QuellentextTextbeispiel von Christoph Hein: Himmlischer Frieden
Nachfolgend ein Auszug aus dem 2025 von Christoph Hein in Berlin erschienenen Roman "Das Narrenschiff" (S. 692-695) als Leseprobe. Mit freundlicher Genehmigung des Autors und des Suhrkamp-Verlags:
In Leipzig kam es nach wie vor an jedem Montag zu Demonstrationen, an denen sich von Mal zu Mal mehr Menschen beteiligten. Die riesigen Demonstrationszüge liefen den Innenstadtring entlang, am Hauptbahnhof vorbei und am zentralen Gebäude der Staatssicherheit. Vergebens versuchten uniformierte und zivile Sicherheitskräfte den Zug aufzulösen oder aus der Innenstadt in einen Außenbezirk umzuleiten. Auch willkürliche Verhaftungen einiger Demonstranten hielten die Menschen nicht davon ab, entschlossen und gemeinsam ihre Rechte einzufordern. Wie im ganzen Land war der Unmut über die regierenden Politiker zu groß, um sich weiterhin einschüchtern zu lassen, jedoch fürchteten viele, dass die Unruhen im Land mit einer chinesischen Lösung beendet werden würden, da Honeckers Stellvertreter Tage vorher nach China gereist war und die blutige Niederschlagung des Studentenaufstandes in Peking öffentlich unterstützt und gelobt hatte.
Anfang Oktober verdichteten sich die Gerüchte, dass am kommenden Montag die Sicherheitskräfte mit aller Gewalt gegen die Demonstranten vorgehen werden. Aus den Krankenhäusern war zu hören, die Ärzte seien von den örtlichen Behörden aufgefordert worden, Patienten nach Möglichkeit frühzeitig zu entlassen, um Betten frei zu bekommen, auch seien größere Mengen von Blutkonserven angefordert worden. Die Eltern sollten ihre Kinder bis fünfzehn Uhr aus den Kindergärten abholen, um diese Zeit würden auch die Geschäfte in der Innenstadt schließen. Die Polizei und die Armee sei in Alarmzustand versetzt worden, und es gab Gerüchte, dass Panzer der Nationalen Volksarmee in der Stadt gesehen worden waren.
Am frühen Nachmittag wurde vom Stadtfunk Leipzig mehrmals ein Aufruf zur Besonnenheit und Gewaltlosigkeit verbreitet, den sechs Persönlichkeiten verfasst hatten, drei Politiker der Bezirksleitung, ein Pfarrer und zwei Künstler, ein Aufruf, der sich an beide Seiten wandte, an die Demonstranten wie die Sicherheitskräfte. Die Bahnverbindungen nach Leipzig wurden seit dem Vormittag verstärkt kontrolliert, und einige Reisende wurden genötigt auszusteigen. Auch die nach Leipzig fahrenden Autos wurden von der Verkehrspolizei gestoppt, man durch suchte sie nach mitgeführten Transparenten und Spruchbändern, und viele ihnen besonders verdächtige Personen, zumal Jugendliche, wurden an einer Weiterfahrt gehindert. Dennoch versammelten sich am späten Nachmittag fast einhunderttausend Menschen in der Innenstadt, um wieder über den Ring zu ziehen.
An jenem neunten Oktober waren auch Kathinka und Rudolf Kaczmarek mit ihren Kindern Jonathan und Priska – trotz der Warnungen von Jonathans Sektionsleiter und der Drohungen der Schulbehörde – in die Innenstadt gefahren, um zur Nicolaikirche zu gelangen. Bereits in der Straßenbahn sahen sie ihnen bekannte Gesichter, und auf dem Nicolaikirchhof trafen sie Freunde und Arbeitskollegen. Die Stimmung war erregt und angespannt, die Gerüchte über den Einsatz der Armee, den Schießbefehl für die Polizei und über in der Stadt gesichtete Panzer ließen keine gelöste oder fast heitere Stimmung aufkommen wie an den vorangegangenen Montagen.
Die Leipziger Montagdemonstration vom 9. Oktober 1989, heimlich vom Kirchturm der Reformierten Kirche aus gedreht. (© Aram Radomski, Siegbert Schefke und Roland Jahn)
Kathinka erblickte ihren Chef, August Koppelreuther, und winkte ihm zu, der nur verstohlen die Hand hob und immer wieder versuchte, mit besorgter Miene die Ansammlung zu überblicken. Halbstündlich wurde über eine improvisierte Lautsprecheranlage der Aufruf zur Gewaltlosigkeit der Leipziger Sechs verlesen. Priska tippte ihrem Bruder auf die Schulter: »Sieh mal nach rechts, da stehen zwei Lehrer von unserer Schule, die Frau mit dem gelben Kleid und der Mann mit dem Schnauzer.« »Alle Achtung. Wenn sich solche Leute hierher trauen, dann ist der Staat wohl endgültig am Ende.«
Als der Demonstrationszug in Bewegung kam, um wieder die Innenstadt auf dem Ring zu umkreisen, musste die Familie Kaczmarek an einer Abteilung Soldaten vorbei, die mit MPis und Schutzschilden am Rand der Straße stand. Es waren sehr junge Männer, kaum älter als zwanzig, sie wirkten verschüchtert und ängstlich, einige schauten zu Boden, um nicht erkannt zu werden oder keinen Bekannten ausmachen zu müssen. Neben den aus anderen Kasernen angeforderten Soldaten mussten auch Leipziger Armisten unter ihnen sein, die besonders verzweifelt waren, hatten sie doch nun den Befehl, gegen ihre Mitbürger vorzugehen, unter denen vermutlich auch ihre Eltern, ihre Geschwister und Freunde waren. »Sie haben Angst und sie fürchten sich, diese armen Schweine.«
»Was sollen sie machen? Wenn sie sich weigern, machen sie sich strafbar und kommen nach Schwedt. Und das Militärgefängnis dort soll kein Zuckerschlecken sein.« »Wohl wahr, aber wenn die heute wirklich den Schießbefehl kriegen und dem Folge leisten, werden sie uns hier einen Platz des Himmlischen Friedens bereiten, da würde ich an ihrer Stelle lieber ein Jahr Schwedt kassieren.« Als der Demonstrationszug den Hauptbahnhof erreichte, wurden plötzlich die uniformierten und zivilen Sicherheitskräfte zurückgezogen, die Spannung, die alle Teilnehmer erfasst hatte, ließ nach, und die Demonstranten zündeten ihre mitgebrachten Kerzen an und stellten sie auf den Stufen des Runden Ecks ab, des Hauptsitzes der Leipziger Staatssicherheit. Dass dieser Montagabend nicht in dem befürchteten Blut-bad endete, sondern die Demonstrierenden unbehelligt nach Hause gehen konnten, führte dazu, dass im ganzen Land, in den großen, aber auch in vielen kleinen Städten, zu wöchentlichen Demonstrationen aufgerufen wurde, an denen sich Hunderte oder auch Tausende beteiligten.
Kurz nach zwanzig Uhr stieg die Familie Kaczmarek in die völlig überfüllte Straßenbahn, um nach Hause zu fahren. Die Stimmung war heiter bis ausgelassen, als feiere man einen großen Sieg, nur zwei ältere Männer, die sich gegenübersaßen, blickten finster auf die von der Demonstration heimgekehrten Menschen. Einer der beiden murmelte immer wieder: »Ihr wisst nicht, was ihr tut. Ihr wisst nicht, was ihr tut.« Und sein Gegenüber erwiderte halblaut: »Da waren welche dabei, die hatten kleine Kinder bei sich.« »Ja«, sagte der andere, »kleine Kinder dabei, aber kein Tröpfchen Verstand.« »Was ist das nur für ein Volk!«, knurrte der Ältere. »Viele Menschen sind noch kein Volk«, erwiderte der andere laut, »viele Menschen können auch bloß eine Menge sein.«
Copyright Christoph Hein / Suhrkamp-Verlag Berlin 2025
Wie bei ihm üblich, liest sich das geschmeidig, die Seiten purzeln beim Lesen nur so, die einzelnen Protagonisten haben schnell Profil gewonnen, allerdings solche, dass sich bereits mit ihrer Romaneinführung auch ihr Ende antizipieren lässt. Das muss kein Nachteil sein, zumal der Autor sagt, alle Figuren seien an realen Personen orientiert beziehungsweise seien von ihm aus verschiedenen realen historischen Personen zusammengesetzt worden. Mit etwas historischer Kenntnis lassen sich fast alle Haupthelden tatsächlich auf reale Personen im Geschichtsablauf zurückführen.
Das Cover des neuen Romans von Christoph Hein, "Das Narrenschiff", fotografiert vor dem 1989 verschwundenen Grenzübergang Checkpoint Charlie zwischen Ost- und Westberlin. Der 750-seitige Roman ist zur Leipziger Buchmesse 2025 im Suhrkamp-Verlag erschienen, er gleicht einem literarischen Geschichtsbuch über die Gesamtgeschichte der DDR. "Ein Staat - wie alle Staaten - gegründet für alle Ewigkeit und verschwindet nach 40 Jahren nahezu spurenlos. Sind die Menschen, die dort einmal lebten dem Vergessen anheimgefallen und ihre Träume nur ein kurzer Hauch im epochalen Wind der Zeitläufe?", heißt es in der Buchbeschreibung. Viele der Ursachen für den Untergang des "Narrenschiffs" DDR legt Christoph Hein offen, angefangen mit den Umständen ihrer Gründung. (© bpb / Kulick)
Ein Scheitern, das vereint
Überraschend für mich war letztlich, dass alle Hauptfiguren gleichermaßen, so unterschiedlich sie auch erscheinen mögen, am Ende für das Scheitern einer Idee, eines Staats, eines Experiments stehen. Die Motivationen der Helden zum Mitmachen waren ganz verschiedene, ihr Scheitern vereint sie. Dass der einzige Hauptheld, der fanatisch vom SED-Sozialismus überzeugt war bis zuletzt, ein Alt-Nazi ist, dessen Biografie auch noch verheimlicht wird, ist vielleicht der Höhepunkt der Klischees, die Hein literarisch ausbreitet. Der Titel „Das Narrenschiff“ ist ein wirklich starker.
Das Titelblatt der 1494 in Basel gedruckte Moralsatire "Daß Narrenschyff" von Sebastian Brant. (© wikipedia.org/wiki/Bild:Narrenschiff.jpg)
Das Titelblatt der 1494 in Basel gedruckte Moralsatire "Daß Narrenschyff" von Sebastian Brant. (© wikipedia.org/wiki/Bild:Narrenschiff.jpg)
Ob Hein eine bewusste Anspielung auf Sebastian Brants „Narrenschyff“ von 1494 vornahm, ist mir nicht klar geworden. Die Vermutung ist nicht abwegig, beweisen kann ich es nicht. Bei Brant kommen 112 Narren vor, die nach Narragonien aufbrechen. Hein begnügt sich mit sechs Hauptprotagonisten (Benaja Kuckuck geb. 1901, Karsten Emser geb. 1901, Johannes Goretzka geb. 1903, Rita Emser geb. 1920, Yvonne Goretzka geb. 1921, Kathinka Lebinski geb. 1944), aber als Nebendarsteller tauchen weitere „Narren“ auf.
Im Buch wird auf den Titel mehrfach zurückgekommen. Wie stark Hein seinen Roman als eine Art Dokumentarliteratur versteht, zeigt sich in der Vorrede zu einem Kapitel – es geht um Ulbrichts Tochter Beate und ich kann versichern, obwohl Hein es hätte besser wissen können, stimmt hier fast gar nichts
Wenn ein KPD-Professor 1935 noch in Kassel eine Professur hatte (es gab bis 1933 überhaupt keinen einzigen KPD-Professor in den Wirtschafts-, Sozial-, Geschichts- und Kulturwissenschaften in Deutschland, in Kassel gab es auch keine Universität) und dieser Mann dann aus unerfindlichen Gründen von Moskau aus die gesamte KPD-Arbeit in der Emigration anleitete, dann steht dahinter so ein krasses Missverständnis, ja, Unwissen über die Abläufe in der KI- und KPD-Organisation, dass die Bereinigung einzelner faktischer Fehler auch nicht weiterhilft.
Die Westkritik Heins – empirisch ohne jede Basis?
Wie Hein darauf kommt, dass Ulbricht gegen die Abtretung der deutschen Ostgebiete war, und wie er das begründet – nämlich sowohl im Buch als auch in mehreren Interviews gar nicht; er behauptet es nur und sagt, die westdeutsche Geschichtsschreibung schweige das bewusst tot –, ist hanebüchen, empirisch ohne jede Basis, in keinerlei Hinsicht auch nur ansatzweise seriös. Ulbricht hat die auf die deutschen Ostgebiete bezogene sowjetische Politik bereits 1945 so vehement verteidigt wie kaum ein anderer deutscher Funktionär.
Dass er Markus Wolf als Kronzeugen für das Märchen in der Hinterhand hat, wie Honecker mit Stasi-Soldaten Ulbrichts Amtssitz in Groß-Dölln 1971 vorsorglich umzingelte und so den „Putsch“ erfolgreich umsetzte, zeugt davon, dass er nicht weiß, dass Markus Wolf mit dieser Stasi-Arbeit gar nichts zu tun hatte, also: wirklich gar nichts, überhaupt nichts – und es zeigt, dass er die Machtkämpfe 1969/71 nicht kennt und offenbar auch den Gesundheitszustand Ulbrichts nicht.
Der Schriftsteller Christoph Hein am 4. November 1989 bei einer Protestdemonstration in Ostberlin, veranstaltet von Kunst- und Kulturschaffenden der DDR für Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und für weitere politische Reformen. Bis zu einer Million Menschen nahmen daran teil. "Es war ein Traum, ein nicht zu verwirklichender Traum", äußerte damals der Romancier, die Wende in der DDR werde nun "unumkehrbar gemacht". (© picture-alliance/akg, Nelly Rau-Haering )
Der Schriftsteller Christoph Hein am 4. November 1989 bei einer Protestdemonstration in Ostberlin, veranstaltet von Kunst- und Kulturschaffenden der DDR für Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und für weitere politische Reformen. Bis zu einer Million Menschen nahmen daran teil. "Es war ein Traum, ein nicht zu verwirklichender Traum", äußerte damals der Romancier, die Wende in der DDR werde nun "unumkehrbar gemacht". (© picture-alliance/akg, Nelly Rau-Haering )
Was Hein dann zu 1989 und dem entsprechenden Herbst erzählt, macht mich dann aber wirklich sprachlos. Hein war damals ein viel bewunderter Akteur, der großartige Reden und wirkmächtige Essays und Interviews publizierte. Er sprach auch am 4. November 1989 auf dem Ostberliner Alexanderplatz – eine der besten Reden, die dort damals gehalten wurden. Jetzt jedoch verbreitet er das Märchen, dort seien fast eine Million Menschen dabei gewesen.
Nun erinnert er einen Umbruch, der mit den Ereignissen von damals kaum mehr etwas konkret zu tun hat. Die offenkundige Gegenwartsenttäuschung verleitet den Gegenwartsautor zu einer historischen Gegenwartsdarstellung, die wenig über die damalige Gegenwart, aber sehr viel über die heutige Gegenwartswahrnehmung sagt. Das korrespondiert mit einer Erzählung, in der auf eine merkwürdige Weise kein Widerstand, keine Opposition, keine Kirche, kein Westen und vieles andere schlichtweg nicht vorkommt. Um Wolf Biermann in der „Chronik“ nicht erwähnen zu müssen, werden die schicksalhaften Jahren um 1976 kurzerhand übersprungen.
Es geht in dem Roman allein um die Nomenklatura unterschiedlicher Ebenen und Einstellungen, es ist wie ein Blick durchs Schlüsselloch – ein Ausschnitt wird gewährt, den die einen für die ganze Wirklichkeit halten, den andere jedoch als das benennen, was er ist: ein kleiner Ausschnitt, der weder Rückschlüsse auf das große Ganze noch die Vielheit und die Größe auch nur erahnen lässt, die eben durchs Schlüsselloch unerkannt bleiben müssen. (Leider funktioniert das in der „Chronik“ auch nicht, weil die Rolle der verschiedenen Parteiebenen so durcheinandergebracht werden, dass es zumindest halbwegs Kundige immer wieder zum Kopfschütteln animieren dürfte.)
Das alles zeigt sich dann auf eine geradezu groteske Art auf den letzten Seiten des Romans: Hier stimmt auch chronologisch gar nichts mehr. War es schon zuvor im Roman immer wieder ärgerlich, welche zeitlichen Sprünge die Erzählung einem zumutete, wie schwer es zu erkennen war, wer wann gerade handelt, und war es auch erstaunlich, wie blass und schematisch die Figuren immer wieder in Handlungsräume geworfen werden, deren Dekonstruktion weitaus anstrengender ist, als ihren Dialogen zu folgen, so gerät die kurze Darstellung der Zeit nach dem Mauerfall zu einem einzigen Desaster: Folgt man Hein, so war diese Zeit von nichts weiter – und ich betone: von nichts weiter – als dem Raub von Wohneigentum durch Westler und der daraus folgende Massenselbsttötung im Osten geprägt. Mit anderen Worten: allein von Verlusten – und das bereits alles, ja, wirklich alles im Jahr 1990!
„Der Autor startet mit einer fulminanten Idee und erleidet eine Bruchlandung“
Mich lässt dieser Roman deshalb in mehrfacher Hinsicht enttäuscht zurück. Der Autor startet mit einer fulminanten Idee und erleidet eine Bruchlandung. Immer wieder hatte ich das Gefühl, der Hein war gehetzt, getrieben, ließ sich und seinen Figuren keine Zeit, was sich eben auch in unsinnigen und unmotivierten Zeitsprüngen zeigt. Klar, mich ärgerten die vielen, völlig unnötigen sachlichen und faktischen Fehler (ich komme geschätzt auf eine dreistellige Zahl faktischer Fehler im Buch eines Chronisten).
Der Historiker und Autor dieser Buchkritik, Ilko-Sascha Kowalczuk, am 12. Juni 2025 nach Erhalt des Karl-Wilhelm-Fricke-Preises der Bundesstiftung Aufarbeitung. (© bpb / Holger Kulick)
Der Historiker und Autor dieser Buchkritik, Ilko-Sascha Kowalczuk, am 12. Juni 2025 nach Erhalt des Karl-Wilhelm-Fricke-Preises der Bundesstiftung Aufarbeitung. (© bpb / Holger Kulick)
Aber als jemand, der viele Spielfilme beraten hat, kann ich damit eigentlich gut leben, sofern die Story rund ist. Doch das „Narrenschiff“ weist eben keine „runde“ Story auf, sondern segelt auf einem Meer allein dahin, ganz offenbar allein. Und das ist eben das Problem an Narren: Sie werden erst zu solchen und als solche sichtbar, wenn sie im Kontext der vielen Nicht-Narren agieren. Doch die gibt es bei Christoph Hein als Hauptfiguren gar nicht, als Nebenfiguren auch nur am Rand neben anderen Nebenfiguren; sie tragen nichts zur Konturierung der Hauptprotagonisten bei.
Ich kann nur hoffen (vermutlich eine vergebliche Hoffnung!), dass dieses Buch nicht als Dokumentarliteratur missverstanden wird. Es ist ein Roman, eine pure Erfindung. Davon gibt es gute und weniger gute. Dies ist ein weniger gutes Buch mit ein paar tollen Sätzen, die sich gut zitieren lassen. Ich freue mich bereits auf das nächste Buch von Christoph Hein, denn (s)ein treuer Leser bleibe ich selbstverständlich. Letztlich geht es doch nur um die Enttäuschung eines großen Fans und um eine Meinungsverschiedenheit, die wir gut aushalten können – und für die die 89er – er wie ich – eintraten und die wir heute leben. Schade gleichwohl, dass nicht einmal das als 89er-Narrativ hier vorkommt.
Allerdings bleibt mir persönlich dann als selbsternannter Narr eine Hoffnung, über die vielleicht sogar Christoph lächeln kann:
„Im Narrentanz voran ich gehe/Da ich viel Bücher um mich sehe,/Die ich nicht lese und verstehe.“
QuellentextDie prompte Replik von Christoph Hein an Ilko-Sascha Kowalczuk: "Vertrau den Romanciers"
Lieber Ilko,
zuallererst: Glückwunsch zum Fricke-Preis!!! Tatsächlich der erste Preis? Und ich dachte, in Deinem Wohnzimmer ist eine Wand voller Preise und Plaketten. Nun ist ein Anfang gemacht. Es möge so weitergehen.
Dank für Deine riesige Rezension. Dank für die überaus freundlichen Worte. Bei Deinen Einwänden bin ich allerdings skeptischer. Und sehe: ich habe recht: für die Geschichte sind die Romanciers zuständig, die Historiker nur für die „Hinterlassenschaften“. Du behauptest, es seien zwanzig Fehler in dem Buch, nennst aber nur wenige. Ich will kurz darauf eingehen:
1. Ulbricht und Ostgebiete. Beim Studieren von J.R. Becher stieß ich auf einen mich befremdenden Satz von Becher („Breslau ja, Wroclaw keinesfalls"). Ich war verwundert, dass ein kleiner, ohnmächtiger Kulturfunktionär - er war damals noch nicht einmal Minister - einen solchen Satz sagen kann, gegen die erklärten Äußerungen der ostdeutschen Führung. Dann stöberte ich nach, und merkte bald, Ulbricht hat immer wieder der sowjetischen Gebietsabtrennung zugestimmt und dann Kehrtwendungen gemacht. Ein kleines Nein konnte er sich gegen den allgewaltigen Stalin nicht leisten Also machte er immerfort ein „Ja-Sagen und „Nein-Tun“. Für ihn war sehr schnell klar, dass das winzige Ostdeutschland nicht auf Dauer existieren könne. Die Industrie war im Westen (Ruhrgebiet und Hamburg), Ostdeutschland war Landwirtschaft, aber nun fehlten die großen Landflächen Schlesien und Pommern. Ohne diese Gebiete, war Ulbricht klar, könnte Ostdeutschland nicht überleben. Daher drängte er auf Rückgabe. Im Sept./Okt 1949 hoffe die designierte DDR-Regierung, dass man am 9. Oktober 1949 ihnen die geraubten Landesteile zurückgibt. Stalin blieb unerbittlich, zumal er sich Ostpolen einverleibt hatte.
Becher war für die ostdeutsche Delegation nach Wroclaw zuständig, meldete sie an und wurde von Ulbricht dann genau mit diesem Rüffel belegt, den ich Becher in den Mund schob. 1951 hatte Stalin die Nase voll und haute auf den Tisch. Ulbricht musste nun parieren und jubelte die unerwünschte Grenze zur „Oder-Neiße-FRIEDENSGRENZE“ hoch.
Die ostdeutschen Historiker drehten bei, in allen ostdeutschen Publikationen las man nun, Ulbricht habe breits 1945 der neuen Grenzziehung zugestimmt. Die westdeutschen Historiker und Gazetten hätten anderes schreiben können, doch es herrschte Kalter Krieg, und man wollte nicht dem verhassten - und zur verhasstesten Figur im ganzen Ostblock aufzubauenden Ulbricht solch eine national-bedeutsame Äußerung zuschreiben. 1952 begriff Stalin seinen Fehler, bot nun ein geeintes, aber neutrales Deutschland an. Churchill stimmte zu, Adenauer lehnte energisch ab. Ein Jahr später erweiterte Stalin sein Angebot: Das geeinte Deutschland samt Polen neutral. Wieder Zustimmung von Churchill, wieder heftige Ablehnung von Adenauer. (Für den Katholiken Adenauer begann hinter der Elbe bereits Sibirien.)
2. Alex, der 4. Nov. 89. Nun, die Historiker sollten sich nicht auch noch mit den Mathematikern und Logikern anlegen. Die genaue Zahl hatte ich bereits in einem früheren Buch genannt. Studenten der Humboldt-Uni hatten Luftaufnahmen des Tages ausgewertet. Die Fotos von ihnen auf dem Computer in kleine Quadrate zerlegt, dann die Fotos je nach der Anzahl der Köpfe geordnet, und so kamen sie dann auf jene, wohl sehr genaue und von mir zitierte Zahl.
Es war die größte Demonstration im Verlauf der Friedlichen Revolution in der DDR. Schätzungen in Medien gingen zunächst von bis zu 1 Million Teilnehmenden aus, andere Quellen schätzten 500.000 oder 200.000. Endgültig zu klären ist die genaue Anzahl wohl kaum, zumal aus den umliegenden Straßen ab 10 Uhr bis zum späten Mittag ein unendlich erscheinender Zufluss und Abfluss erfolgte, was genauere Zählungen erschwerte. Der Zahlenstreit nimmt dem Tag aber nicht seine Bedeutung. Denn erstmals beteiligten sich höchst kreativ auch viele bisher "Angepasste" und SED-Parteimitglieder an Protesten für grundlegende Veränderungen in der DDR, und dies zeitgleich auch in anderen Städten der DDR. (hk) (© ZB / Peter Kroh)
3. Der kleine „Staatsstreich“. Ja, das erfuhr ich von Markus Wolf (mit dem ich auch einmal 2 Kilo besten Beluga-Kaviar löffelte., wie ich an anderer Stelle im Roman erwähne). Wolf hatte in seiner Funktion von den beiden Erich’s die Zusage, erhalten, über alle relevanten Vorgänge informiert zu werden, um seine Agenten zu schützen. Da er beiden misstraute, hatte er ein weiteres Sicherheitsnetz aufgebaut. Zum Umfeld dieses „Staatsstreichs“ gehört, dass Ulbricht kurz zuvor völlig überraschend Honecker von der zweitwichtigsten Funktion entbindet und dann (wohl von Breschnew) noch überraschender genötigt wird, ihn nur eine Woche später zurückzuberufen. Damit war aber für Honecker klar, dass Breschnew ihn zwar als Nachfolger wünsche, Ulbricht jedoch keinesfalls, und dass Ulbricht dann rasch einen ganz anderen Nachfolger ernennen könnte. Sein „Staatsstreich“ war also wohl überlegt. Nun ja. Und-so-weiter.
Lieber Ilko, vertrau den Romanciers. Sie können, sie dürfen tiefer graben als ihr Historiker, die ihr die staatlich verkündeten Hinterlassenschaft vielleicht anzweifeln, aber nicht in Frage stellen dürft, sondern übernehmen müsst.
Herzlich
Christoph
Quelle: Mail Christoph Heins an das Deutschland Archiv vom 12. Juni 2025
Zitierweise: Ilko-Sascha Kowalczuk, "Von der Kunst des Romans. Anmerkungen eines Historikers zu Christoph Heins „Das Narrenschiff“, mit einer Replik Christoph Heins. In: Deutschland Archiv, 13.06.2025. Link: www.bpb.de/562932. Alle Beiträge im Deutschlandarchiv sind Recherchen und Meinungsbeiträge der jeweiligen Autorinnen und Autoren, sie stellen keine Meinungsäußerung der Bundeszentrale für politische Bildung dar.
Ergänzend:
Interview mit Christoph Hein:
Ilko-Sascha Kowalczuk,
Wolfgang Templin, Über Kowalczuks Walter Ulbricht-Biografie:
Uwe Kolbe,
Eckhart Gillen,
Joachim Walther,
Matthias Zwarg,
Eckhart Gillen über Bernhard Heisig:
Raj Kollmorgen,
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Dr. Ilko-Sascha Kowalczuk (Jg. 1967) wuchs im Osten Berlins in Friedrichshagen auf. Er ist Historiker mit dem Schwerpunkt auf der Aufarbeitung der DDR-Vergangenheit. Seine 2023 und 2024 erschienene zweiteilige Biografie des ersten Staatschefs der DDR Walter Ulbricht beschreibt den SED-Funktionär als »deutschen Kommunist« und später als »kommunistischen Diktator«. Im September 2024 erschien »Freiheitsschock. Eine andere Geschichte Ostdeutschlands von 1989 bis heute« (alle bei C.H. Beck in München). In der bpb gab er 2022 den Schriftenreiheband
Christoph Hein, Jahrgang 1944, wuchs in der Kleinstadt Bad Düben nördlich von Leipzig auf. Von 1958 bis zum Mauerbau 1961 besuchte er ein Westberliner humanistisches Gymnasium. Nach dem Mauerbau arbeitete er als Montagearbeiter, Buchhändler, Kellner, Journalist, Schauspieler und Regieassistent. 1964 legte er sein Abitur an einer Abendschule ab. In Berlin und Leipzig studierte er zwischen 1967 und 1971 Philosophie und Logik. Danach wurde er Dramaturg und Autor an der Volksbühne in Ost-Berlin. Seit 1979 arbeitet er als freier Schriftsteller. Er definiert sich als »schlichter Chronist«, der vor allem das Leben in der DDR und dem vereinigten Deutschland beschreibt. Populär wurde er durch seine Novelle Der fremde Freund, die 1982 in der DDR veröffentlicht wurde und in Westdeutschland 1983 aufgrund des Titelschutzes als Drachenblut erschien. Sein Stück Die Wahre Geschichte des Ah Q wurde 1983 publiziert. Als Übersetzer bearbeitete er Werke von Jean Racine und Molière. Von 1998 bis 2000 war Christoph Hein erster Präsident des gesamtdeutschen PEN-Clubs, dessen Ehrenpräsident er seit Mai 2014 ist. Er war bis Juli 2006 Mitherausgeber der Wochenzeitung Freitag. Aus: Wikipedia 2025.