Frankreich als ferne Nähe
Exilerfahrungen und ihre Spuren in der DDR
Dorothee Röseberg
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Früherer Exilort, Kultur, antifaschistischer Gründungsmythos: Frankreich war für die DDR mehr als ein Land im Westen. Spuren der Beziehung zeigt der Blick auf die Westemigranten und ihre Geschichten.
Frankreich war für die DDR vieles zugleich: offizieller Gegner im Kalten Krieg, Sehnsuchtsort, nicht nur für Ausreisewillige sowie historischer und kultureller Fixpunkt. Immer wieder taucht die Frage auf, warum Frankreich unter den westlichen Ländern in der DDR einen besonderen Platz einnahm. Die Suche nach Antworten führt unter anderen zu den Westemigrantinnen und -migranten und den Spuren ihrer Exilerfahrungen in der DDR.
Remigranten – die Gründergeneration der DDR
Vertreter der DDR-Gründergeneration, die führende politische Ämter ausübten, waren weitgehend Remigranten. Die ersten zehn Personen (die sogenannte Gruppe Ulbricht) kehrten noch vor Ende des Zweiten Weltkriegs aus der Sowjetunion zurück. Im Mai 1945 folgten weitere 59 Parteikader, und bis 1948 waren es insgesamt 692 Menschen, die die Verwaltung der Sowjetischen Besatzungszone (SBZ) sichern sollten.
Doch es ging nicht nur um politische Posten. Die aktive Kulturpolitik der sowjetischen Kulturoffiziere hatte bei Intellektuellen, Künstlerinnen und Schriftstellern Erfolg, die in den USA, Frankreich, Mexiko, Spanien und anderen Ländern ihr Exil gefunden hatten. Bertolt Brechts Entscheidung 1948 für die DDR übte dabei eine Sogwirkung aus.
Westemigrantinnen und -emigranten
Remigranten aus westlichen Ländern entschieden sich häufig aus ideologischen Gründen für die SBZ und spätere Deutsche Demokratische Republik (DDR), insbesondere jüdische und kommunistische Exilantinnen und Exilanten. Viele hatten Frankreich als Exil- oder Durchgangsland erlebt: Schriftstellerinnen und Schriftsteller wie Anna Seghers, Stephan Hermlin oder Lion Feuchtwanger, Journalisten wie Max Schroeder und Gerhard Leo oder Politiker wie Franz Dahlem, Paul Merker, Albert Norden oder Alexander Abusch. Die DDR war für sie nicht nur der bessere deutsche Staat, sondern ein Ort zur Realisierung ihrer politischen Utopien. Sie alle beeinflussten die DDR über längere Zeit maßgeblich.
Repression und Wirkungsfelder
Die Westemigrantinnen und -emigranten gerieten bald unter Generalverdacht, insbesondere durch die sogenannte Noël-Field-Affäre. Noël Field, ein US-Diplomat, hatte in Frankreich vielen Emigranten zur Flucht verholfen; er wurde später selbst der Spionage für die USA verdächtigt. Die Folge: Führende Westemigranten wie Franz Dahlem, Paul Merker und Alexander Abusch verloren ihre Ämter, wurden inhaftiert und wechselten nach ihrer Freilassung ihr Tätigkeitsfeld. Abusch kam in die Abteilung Kultur des Zentralkomitees (ZK) der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands (SED), mit Zuständigkeit für das Verlagswesen. 1958 trat er die Nachfolge von Johannes R. Becher als Minister für Kultur an. Die Maßregelungen hatten ihre Wirkung: 1955 war Abusch Zeuge der Anklage gegen Merker, der aus den gleichen Gründen vor Gericht stand, wegen derer er selbst seine Funktionen verloren hatte. Merker wurde als Agent des französischen Geheimdienstes zu acht Jahren Zuchthausstrafe verurteilt. Nach Stalins Tod aus der Haft entlassen und rehabilitiert, nahm man ihn wieder in die SED auf. Als gebrochener Mensch sagte er unter Druck im Prozess gegen den Verleger Walter Janka aus. Merker arbeitete ab 1957 als Lektor für fremdsprachige Literatur im Verlag Volk und Welt.
Auch Dahlems Haft wurde 1956 aufgehoben. Ab 1957 bekleidete er das Amt des stellvertretenden Ministers für das Hochschulwesen und wurde so ins ZK der SED kooptiert. 1964 setzte man Dahlem als Präsidenten der Deutsch-Französischen Gesellschaft der DDR ein, als Reaktion auf den Elysée-Vertrag, den die Bundesrepublik Deutschland mit Frankreich über ihre Zusammenarbeit geschlossen hatte. Die Beispiele zeigen, dass Westemigranten mit Exilerfahrung in Frankreich vielfach im Bereich der Kultur(politik) wirken konnten. Hier trugen sie unter anderem dazu bei, dass französische Literatur und Kultur in der DDR eine herausragende Präsenz erhielten.
Andere Remigranten wie Herrmann Axen, Ernst Scholz oder Albert Norden machten stabile politische Karrieren. Axen, in Frankreich inhaftiert, Überlebender von Auschwitz und Buchenwald, stieg zum Architekten der DDR-Außenpolitik auf. Scholz, von 1968 bis 1973 erster stellvertretender Minister für Auswärtige Angelegenheiten, avancierte 1974 zum ersten Botschafter der DDR in Frankreich. Später leitete er als Präsident die Freundschaftsgesellschaft DDR-Frankreich. Norden, der als Jude und Kommunist nach Frankreich geflohen war, stieg ins Politbüro auf; verantwortlich für Auslandsfragen, leitete er von 1960 bis 1979 die Westkommission.
Die Frankreichpolitik der DDR, an der diese Westemigranten mitwirkten, folgte insgesamt eher tagespolitischen Interessen und war wenig durchschaubar. Doch ist im öffentlichen parteipolitischen Diskurs erkennbar, dass Frankreich weit weniger im Visier der Kritik war als die USA, Großbritannien und die Bundesrepublik. Das zeigt sich zum Beispiel an den Karikaturen der Satiremagazine Frischer Wind und Eulenspiegel in den 1950er-Jahren. Hinzu kam, dass es die berechtigte Annahme gab, dass Frankreich an der Existenz von zwei deutschen Staaten Interesse hätte. In der Ost- und Afrikapolitik französischer Politiker fand man ebenfalls Anknüpfungspunkte dafür. Auch wirtschaftliche Kontakte wurden früh geknüpft.
Exilantinnen und Exilanten in Frankreich hatten widersprüchliche Erfahrungen gemacht: Frankreich war Zuflucht, ein Ort der Sicherheit vor Verfolgung, Ort des Widerstands, illegaler kommunistischer Arbeit, aber auch von Internierung und Auslieferung. In der Nachkriegszeit, als sich die antifaschistische Gründungsideologie schnell etablierte, hatten Remigranten in Frankreich natürliche Partner, weil die Erzählungen von der Résistance das Selbstverständnis der französischen Nation stark prägten und die Französische Kommunistische Partei (FKP) noch eine starke Kraft war. Remigrantinnen und Remigranten nutzten ihre persönlichen Kontakte aus dem Exil, etwa beim Zustandekommen der ersten Städtepartnerschaften wie der zwischen Cottbus und Montreuil 1959. Sie sollten zudem in Frankreich für gutes Klima im Interesse der DDR sorgen, als zum Beispiel der Elysée-Vertrag zwischen der Bundesrepublik und Frankreich geschlossen wurde. Herrmann Axen gelang es, mit seiner Exilfreundschaft Pierre Sudreau, Gaullist und späterer Minister für Bauwesen, einen Millionenkredit Frankreichs für die DDR auszuhandeln. Beide erinnerten sich an die gemeinsamen Erfahrungen in Buchenwald, bei denen Sudreau Axen gerettet hatte, indem er für sich behielt, dass Axen den Namen eines toten französischen Häftlings trug, um sich vor dem Transport in das Lager Dora zu retten.
Gerhard Leo, Journalist und ehemaliger Résistance-Kämpfer, gelang es in seiner Funktion als Frankreichkorrespondent für das Zentralorgan der SED Neues Deutschland, Repräsentanten Frankreichs für Stellungnahmen zugunsten einer diplomatischen Anerkennung der DDR zu gewinnen. Mit Bernard de Chalvron, dem ersten Botschafter Frankreichs in der DDR, verband Leo eine langjährige Freundschaft, die ebenfalls im KZ Buchenwald begonnen hatte. Chalvron unterstützte die Gründungsideologie der DDR.
Antifaschistische Gründungsideologie
Der Antifaschismus war in der Gründergeneration der DDR gelebtes Leben und Doktrin. Als er der gesamten Bevölkerung „als Geschenk übergeben wurde“, wie die französische Historikerin Sonia Combe formuliert, verwandelte er sich mehr und mehr in einen Mythos. Nicht alle konnten sich in dieser kollektiven Identitätsstiftung wiederfinden, zum Beispiel Soldaten, die im Zweiten Weltkrieg Frankreich an der Westfront und in der Kriegsgefangenschaft kennengelernt hatten oder die vielen, die innerhalb Deutschlands den Nationalsozialismus erlebt hatten, ohne Widerstand zu leisten. In der DDR fanden sie keinen kommunikativen Raum für ihre Erfahrungen. Selbst die ganze Pallette von Exilerfahrungen, die Internierung in den Lagern von Le Vernet und Les Milles, die Auslieferung an die Geheime Staatspolizei (Gestapo), die Verschleppung in Konzentrationslager einschloss, passte sehr bald nach Kriegsende nicht in die offizielle Geschichts- und Gedächtnispolitik der SBZ und der DDR. Schon früh ging es darum, Optimismus zu verbreiten und die DDR als Verkörperung des Sieges über den Faschismus zu zelebrieren. So sollte eine optimistische Vision für die Zukunft und den Aufbau des Sozialismus ein Fundament erhalten, das sich aus persönlich gelebter Geschichte jener Remigranten speiste, die zur Führungsspitze in der DDR aufgestiegen waren. Doch das damit verbundene Geschichtsbewusstsein wurde für alle zur Pflicht erhoben, wodurch die DDR als ein Land von antifaschistischen Widerstandskämpfern dargestellt wurde.
Offizielle Frankreichbilder
Gemäß der Gründungsideologie der DDR ging die Résistance in das offizielle Frankreichverständnis ein. Sie war Teil jener Fortschrittsideen, die von historischen Kämpfen und Siegen des „fortschrittlichen Bürgertums“ und der Arbeiterklasse in der Geschichte berichteten. Bevorzugte Epochen und Ereignisse in diesem Verständnis waren die Aufklärung, die Revolution von 1789, die Arbeiterbewegung mit ihren Revolutionen im 19. Jahrhundert, die Pariser Commune als erste Diktatur des Proletariats und im 20. Jahrhundert die Résistance und der Kampf der FKP gegen Ausbeutung und Kolonialismus.
Die Revolutionsforschung des DDR-Historikers Walter Markov oder die Aufklärungsforschung eines Werner Krauss (Romanist, der 1947 in die SBZ übersiedelte) gelangten zu internationaler Anerkennung. Beide, Markov und Krauss, waren Kommunisten, die von den Nationalsozialisten in Gefängnisse gesteckt worden waren. Krauss war Mitglied der Roten Kapelle. Auch Victor Klemperer, der in der Zeit des Nationalsozialismus wegen seiner jüdischen Herkunft seinen Lehrstuhl als Romanist verloren hatte, veröffentlichte mit Unterstützung der sowjetischen Kulturoffiziere früh sein Buch „LTI“ über die Sprache des Dritten Reiches. Die offiziellen Frankreichbilder der DDR waren von dem geprägt, was Leo das „Frankreich seines Herzens“ nannte. In einem Interview bekannte er nach 1989:
Zitat
„Es gab natürlich auch immer ein anderes Frankreich, das sehr oft die größere Rolle spielte – das Frankreich der Reaktion, des Kolonialismus und des französischen Chauvinismus. Aber mein Herz gehört eben dem anderen Frankreich, das auf republikanischen Traditionen, auf der Aufklärung beruht, und das ist das Frankreich, das bei den deutschen Linken über Jahrhunderte hinweg eine große Rolle gespielt hat.“
Hier zeigt sich deutlich, dass es sich bei diesen offiziellen Frankreichbildern einerseits um positiv interpretierte linksrepublikanische Vorstellungen handelte, bei denen bestimmte Teile der französischen Geschichte mit dem marxistischen Geschichtsbewusstsein im Einklang standen. Andererseits gerieten diese selektiven Vorstellungen in Widerspruch zur Freund-Feind-Ideologie des Kalten Krieges. Daraus erklärt sich zu einem guten Teil das ambivalente Verhältnis, das in der DDR zu Frankreich in vielen Bereichen der Politik erkennbar war.
Leos „Frankreich des Herzens“ verband sich mit seiner Exilerfahrung. Er war mit seiner Familie 1933 nach Frankreich geflohen. Im Alter von nicht einmal 20 Jahren schloss er sich 1942 der französischen Widerstandsbewegung an, wurde 1944 von Deutschen verhaftet und sollte in Paris verurteilt werden. Bei dem Transport nach Paris wurde er jedoch von französischen Partisanen aus dem Zug befreit. An ihrer Seite kämpfte Leo als Leutnant bis zur Befreiung. In seinem Buch „Frühzug nach Toulouse. Ein Deutscher in der französischen Résistance 1942-1944“ (1988) erinnert Leo diese Zeit.
Exilliteratur – Belletristik
Im Jahr 1947 erschienen zwei Romane zum Exil in Frankreich, die nicht unterschiedlicher hätten sein können: „Haß“ von Eduard Claudius (Volk und Welt) und „Wo Deutschland lag“ von Harald Hauser (Dietz Verlag). Ersteres beschreibt, wie französische Francs-Tireurs einen deutschen Deserteur erschießen, weil er eine deutsche Uniform trägt. Aus bloßem Hass wird ein deutscher Antifaschist gefangen gehalten. Im Werk von Hauser geht es um den Kampf deutscher Antifaschisten in Frankreich, die in einer populären Erzählweise nahegebracht werden. Damit zeichnet er früh vor, was sich immer klarer als offiziell legitimierte Sichtweise etablieren sollte. 1971 folgte die dreizehnteilige Fernsehserie mit dem Titel „Salut Germain“.
Die Geschichte der Emigration in Frankreich wurde immer mehr zur Geschichte der Verbrüderung mit dem französischen Volk und des gemeinsamen Kampfes gegen den Faschismus stilisiert. Zensoren waren am Werk, unter anderen auch Dahlem und Abusch. Mit diesen Problemen hatte auch der einflussreiche Cheflektor des Aufbau-Verlages Max Schröder zu tun, der selbst in Frankreich Asyl gefunden hatte. Er motivierte Schriftsteller, in die DDR zu kommen, und verlegte „Transit“ von Anna Seghers, das als Kultbuch galt. Der französische Literaturwissenschaftler Marc Thuret vermerkt, dass hier Frankreich differenziert, aber wenig positiv dargestellt ist. Die von der Geschichtspolitik der DDR geforderte Unterscheidung zwischen einem proletarischen, patriotischen Frankreich und einem bürgerlichen, konservativen spielt keine Rolle. Vor allem sind die Emigrantinnen und Emigranten nicht Helden, sondern Opfer, die sich verraten fühlen. In den 1950er-Jahren wurden mehrere solcher Werke veröffentlicht. So ist das Lager Le Vernet zum Beispiel Handlungsrahmen und Hauptthema in Gedichten von Rudolf Leonhard. Erzählungen von Friedrich Wolf, „Frankreich“ (1949) von Hans Marchwitza, „Der Teufel in Frankreich“ (1954) von Lion Feuchtwanger, „Eine Sommerfrische in der Provence“ (1957) von Max Schroeder oder Erzählungen von Stephan Hermlin erzählen nicht nur Heldengeschichten. Die meisten dieser Werke sind heute in Vergessenheit geraten.
Exilliteratur – Anthologien und Autobiografien
In den 1970er-Jahren entstanden Anthologien mit ausgewählten Dokumenten aus dem Fundus des Instituts für Marxismus-Leninismus, so zum Beispiel „Im Kampf bewährt“ (1969), herausgegeben von Heinz Voßke, und „Résistance“ (1973), zusammengestellt und eingeleitet von Dora Schau. Diese Titel geben den Ton an. Spät meldeten sich die Hauptakteure der illegalen KPD in Frankreich zu Wort: Franz Dahlem 1977 mit „Am Vorabend des Zweiten Weltkrieges“, Alexander Abusch mit „Der Deckname“ und Albert Norden mit „Ereignisse und Erlebtes“ (beide 1981). Harald Hauser veröffentlichte erst 1989 „Erinnerungen. Gesichter im Rückspiegel“. Diese Schriften gelten heute eher als politische Memoiren, da sie sich mit der These des Verrats politischer Kreise im Frankreich der 1930er-Jahre auseinandersetzen, nach der aus antikommunistischen Ressentiments schon vor Kriegsausbruch eine Kollaboration mit Hitlerdeutschland eingeplant worden sei. Der Leser erfährt kaum etwas über Frankreich. Dies gilt auch für die autobiografischen Notizen von Herrmann Axen aus dem Jahr 1996.
Exilforschung
Der Theater- und Literaturwissenschaftler Werner Mittenzwei leitete in den 1970er-Jahren eine interdisziplinäre Forschungsgruppe der Akademie der Wissenschaften und der Akademie der Künste zum Thema „Kunst und Literatur im antifaschistischen Exil 1933 bis 1945“. Band 7 erschien 1981 mit dem Titel „Exil in Frankreich“ bei Reclam. Mittenzwei schreibt in der Einleitung:
„Doch mit der Orientierung auf die politischen Grundfragen verschließen wir uns keineswegs den zahlreichen menschlichen Problemen des Exils, der psychischen und geistigen Not derer, die aus der Heimat vertrieben wurden. Deshalb gehört zu unserer Darstellung das Schicksal der Menschen, die ins Exil gingen, weil sie aus rassischen Gründen verfolgt wurden, die sich gegen den Faschismus stellten, um weiterleben zu können.“
Das Kapitel „An den Fronten des Widerstands im Zweiten Weltkrieg“ (Karlheinz Pech) enthält nicht nur den Abschnitt „An der Seite der Résistance“, sondern auch die Thematik „Emigranten hinter Stacheldraht“ und „Die Lager“, Schriftstellerschicksale und Hinweise auf ihre Bücher folgen (verfasst von Dieter Schiller). Dieses Sachbuch trug wesentlich zu einer differenzierteren Sicht auf das Exil in Frankreich bei. Inwieweit es eine Breitenwirkung erreichen konnte, ist allerdings schwer einzuschätzen.
„Ici la France“ – erstes Lehrwerk für den Französischunterricht an Schulen
Das erste Lehrbuch für den Schulunterricht im Fach Französisch „Ici la France“ (1951) zeichnet sich durch eine Sonderstellung aus, wenn man es mit den ihm folgenden Lehrwerken vergleicht, die nach 1958 bis zum Ende der DDR erschienen sind.
„Ici la France“ ist das Werk des kommunistischen und jüdischen Remigranten Georg Wintgen und seiner im Französischen Kommunistischen Jugendverband aktiven Ehefrau, Madeleine Belland, die er im französischen Exil kennengelernt hatte. Als sie 1949 in die SBZ kamen, beauftragten sie sowjetische Kulturoffiziere mit der Redaktion eines Schulbuches. Damals gab es für diese Arbeit noch keine Richtlinien, wie es später der Fall war. 1993 befragt, betonen die Autorin und der Autor, dass sie weitgehend ihre eigenen Vorstellungen von Frankreich, die sie Schülerinnen und Schülern nach dem Krieg in Deutschland vermitteln wollten, niedergeschrieben haben.
Im Unterschied zu den ersten Französischlehrwerken in der Bundesrepublik wird hier Wert darauf gelegt, das 20. Jahrhundert bis in die unmittelbare Gegenwart hinein zu thematisieren. So erfuhren die Schülerinnen und Schüler aus Sicht der Linken und Kommunisten nicht nur etwas von der Résistance, sondern auch von Joliot Curie, dem Initiator des Weltfriedensrates, und seinem Kampf gegen die atomare Rüstung oder von Aimé Césaire und seinen antikolonialen Schriften. In der DDR trugen Straßen den Namen Joliot Curies und der Pariser Commune.
Einen neuen Ton der ideologischen Stigmatisierung des Französischen als Westsprache gaben die Richtlinien für die Konzeption von französischen Lehrwerken aus dem Jahre 1955 vor, als die kurze Episode einer ideologischen Öffnung nach dem Tod Stalins ein Ende fand. Nun hieß es: „Die Schüler werden zum Haß gegenüber den französischen Imperialisten erzogen.“
Die Lehrbuchautoren des ersten Französischlehrwerkes wurden nicht mehr angefragt, und sie hätten für eine solche Konzeption auch nicht zur Verfügung gestanden. Allerdings tragen die Lehrbücher, die den Richtlinien folgen sollten, den Titel „Bonjour les amis“. Wer diese Freunde sind, erschließt sich schnell, denn Akteure sind die Mitglieder einer kommunistischen Familie, die kommunistische Tageszeitung Humanité ist omnipräsent und im Lehrbuch die einzige Originalquelle (von einigen Gedichten und Liedern abgesehen). Zugleich ist der Inhalt dieser Lehrbuchreihe stark auf die DDR konzentriert, was die Frage aufwirft, ob es sich hier vielleicht eher um ein Lehrwerk für Staatbürgerkunde handelt. Dieses Lehrwerk konnte kaum motivieren, sich für die französische Sprache, Kultur und Geschichte zu interessieren. In den 1980er-Jahren erlebte der Französischunterricht mit der neuen Reihe „Bonjour chers amis“ eine neue Qualität, da diese ein sehr viel reicheres Wissen über Frankreich bereithielt.
Ausblick
Der Gründergeneration folgte eine Generation von Frankreichmittlern, die Land und Leute meist nur aus Büchern, Filmen und Kunst kannten. In der DDR sozialisiert und ohne persönliche Frankreicherfahrungen, teilten sie die Gründungsideologie der Remigranten nicht mehr aus eigener Erfahrung. Sie war eingebettet in eine Mythisierung Frankreichs, die unterschiedliche Facetten aufwies. Diese reichten von politischen Visionen für einen anderen, demokratischen Sozialismus über den Wunsch nach Freiheit im Denken und Reisen bis hin zur Befriedigung sinnlicher Sehnsüchte, die nicht zuletzt über Reiseliteratur gespeist wurden. Frankreich war in der DDR für viele ein Traumland, dessen Faszination nicht einfach nur dem Westen galt. Der Zugang zu französischer Geschichte, Kultur und Literatur, Filmen und Chansons, von den Remigranten befördert, war dabei wichtig. Die offiziellen Frankreichbilder hatten durchaus Wirkung gezeigt und waren individuell unterschiedlich angereichert.
Doch gab es nicht auch persönliche Beziehungen in der DDR mit Französinnen und Franzosen? Welche Rolle spielten sie bei der Ausprägung realistischerer Frankreichvorstellungen? Die Unmöglichkeit, die Sehnsuchtsvorstellungen mit der Realität zu konfrontieren, war eine Triebfeder für die Mythisierung. Was geschah, als Mythos und Realität aufeinandertrafen? Welche Rolle spielten diese spezifischen ostdeutsch-französischen Erfahrungen in der Zeit der deutschen Einigung und in den folgenden Transformationsprozessen? Können sie uns heute etwas lehren?
Diese und noch viele weitere Fragen sind zu klären. Wie wäre es, eine umfassende Geschichte der deutsch-deutsch-französischen Beziehungen von 1945 bis 1990 zu schreiben? Inzwischen hat sich eine jüngere Generation auf den Weg solcher Forschungen gemacht. Der generationenübergreifende Dialog trägt dazu bei, alte, ideologisch verfestigte Wahrnehmungen zu überwinden und mit gekreuzten Blicken auf eine Gegenwart und Zukunft zu schauen, bei der Erinnerungen an unsere gemeinsame Geschichte hilfreich sind. Erinnerungen von Zeitzeuginnen und Zeitzeugen sind anregend, verweisen auf wichtige Spuren und müssen durch archivalische und andere Studien ergänzt werden. Es bleibt also noch viel zu tun.
Zitierweise: Dorothee Röseberg, "Frankreich als ferne Nähe. Exilerfahrungen und ihre Spuren in der DDR", www.bpb.de/564089, in: Deutschland Archiv vom 17.07.2025. (ali)
Weitere Beiträge zu den Beziehungen zwischen DDR und Frankreich sowie zum Umgang mit der DDR-Geschichte und der deutschen Einheit in Frankreich:
studierte Romanistik und Slavistik (Russisch) an der Humboldt Universität zu Berlin, Promotion 1982 und Habilitation 1991; Professur 1994 TU Chemnitz, ab 1997 Professorin an der Universität Halle-Wittenberg für romanische Kulturwissenschaft (emeritiert seit 2017). Seit 2016 Vizepräsidentin der Leibniz-Sozietät der Wissenschaften zu Berlin e. V. Zu ihren Forschungsschwerpunkten gehören Erinnerungskulturen und die Beziehungen zwischen Frankreich und der DDR. Sie war Gastprofessorin an verschiedenen französischen Universitäten und baute einen deutsch-französischen Studiengang auf. Sie ist Herausgeberin der deutsch-französischen Zeitschrift Symposium culture@kultur (mit Françoise Knopper, Toulouse) und Trägerin der französischen „Palmes Académiques“ (Offiziersklasse) 2015.