SED und Stasi fürchteten nonkonforme Kunst, selbst wenn sie kleinformatig war und nur wenig öffentlich wahrgenommen wurde. Zum Beispiel Mail Art als künstlerischer Weg für internationalen Austausch über die Mauer hinweg.
Mail Art ist Kommunikation durch Kunst per Post. Entstanden in der Zeit des Kalten Krieges, ist sie immer noch sehr lebendig und offen für alle. Für Mail Artisten aus der DDR war die weltweite Kommunikation aber durchaus mit Schwierigkeiten verbunden, besonders, wenn es um Meinungs- und Reisefreiheit, Abrüstung und Umweltschutz ging.
Das SED-Regime reagierte mit dem politischen Strafrecht, jede „illegale Kontaktaufnahme“ in den Westen konnte bestraft werden. Die Mail Artisten Rainer Luck und Jürgen Gottschalk wurden 1984 zu Freiheitsstrafen von mehr als zwei Jahren verurteilt. Systematisch kontrollierte das Ministerium für Staatssicherheit (MfS) alle Postein- und -ausgänge.
Die Mail Art war trotzdem eines der wichtigsten Medien, um abseits des staatlich gelenkten Kulturbetriebes kritische Inhalte zu verbreiten und internationale Netzwerke zu knüpfen. Sie besaß ihre größte politisch-ästhetische Brisanz während der Zeit der Entspannungspolitik nach der Unterzeichnung der Interner Link: KSZE-Schlussakte 1975 und bis zum Mauerfall 1989.
Mail Art war ein Fenster zur Welt, wie es der Bühnenbildner und Mail Artist Guillermo Deisler darstellte. Der gebürtige Chilene wurde in seinem Heimatland nach dem Militärputsch von 1973 inhaftiert. Freunde erreichten, dass er von der französischen Botschaft ein Visum bekam. Nach einigen Monaten musste der Künstler jedoch feststellen, dass es für ihn und seine Familie keine Existenzgrundlage in Frankreich gab.
Deisler entschied sich für die DDR. Aufgrund eines Abkommens zwischen den sozialistischen Staaten wurde er jedoch als Kontingentflüchtling nach Bulgarien „verbannt“ (so Deisler). Erst 1986 durfte er in die DDR umziehen.
Mail Art begann 1962 mit Ray Johnsons Gründung der New York Correspondence School. Fluxuskünstler wie er, Ben Vautier und Joseph Beuys zählen zu den Mail Artisten der ersten Stunde. Den Begriff „Mail Art“ prägte der französische Kunstwissenschaftler Jean-Marc Poinsot später. Für sein Projekt Mail Art - Communication a Distance bat er 1971 unterschiedliche Avantgarde-Künstler um einen künstlerischen Beitrag per Post. Erst später traten die Grundregeln hinzu: No jury, no fee, no return, documentation to all participants.
Dokumentationen waren die Grundlage für weitere Projekt-Ausschreibungen. Eine der ersten Adresslisten enthielt 1972 das Manifest Net der beiden polnischen Künstler Jarosław Kozłowski und Andrzej Kostołowski. Eine wertvolle Informationsquelle war das Infoblatt IAC (International Artists’ Cooperation), das Klaus Groh aus Oldenburg zwischen 1969 und 1990 herausgab. Er brachte die Mail Art aus Amerika nach Europa und stellte Verbindungen von Westdeutschland nach Osteuropa her, insbesondere nach Polen und in die DDR. Peter Küstermann aus Minden bemühte sich ebenfalls um Kontakte von West- nach Ostdeutschland. Auf dem Höhepunkt der Proteste gegen das Wettrüsten und die Stationierung von Atomraketen in beiden deutschen Staaten realisierte er 1983 sein Projekt „Kein Krieg in meiner Stadt – Mailart für den Frieden“ sogar mit einem Katalogbuch.
Mail Artisten auf der ganzen Welt sind nicht nur Sender und Empfänger, sondern oft auch deren Sammler, Kuratoren und Autoren. Ein bedeutender Künstler und Theoretiker ist Vittore Baroni aus Italien. Sein Wirkungsschema von „Kunst per Post“ zeigt die Welt vor und nach der Verbreitung der Mail Art. Sie ist kein neuer Kunsttrend, sondern beeinflusst die Art und Weise, wie Kunst produziert und verbreitet wird.
Vorher gab es ganz klassisch den Künstler (auf einem Sockel), das Kunstwerk, den Kunsthändler und das Museum auf der einen Seite – und auf der anderen den Sammler beziehungsweise das Publikum. Durch die Mail Art kann das Publikum jederzeit aktiviert und in die Kommunikation einbezogen, also zum Gestalter/Künstler werden, bei Baroni heißt er „Network Operator“. Alle Schranken zwischen visuellen, auditiven und textlichen Medien sind aufzuheben. Klar, dass dies eine Utopie ist.
In der DDR war der Maler und Grafiker Robert Rehfeldt aus Pankow der Erste, der am künstlerischen Austausch der Mail Art partizipierte und viele - auch den Autor – anregte, mitzumachen. Mail Art wird zum Bumerang, wenn es gelingt, den Austausch mit vielen Partnern aufrecht zu erhalten. Dafür fand der Maler Oskar Manigk aus Ückeritz auf Usedom ein treffendes Bild.
Robert Rehfeldt gelang es, ein weitreichendes Kontaktnetz zwischen Ost- und Westeuropa, den USA und Lateinamerika aufzubauen. Sein Pankower Atelier wurde zum Informationsbüro über westliche Kunstentwicklungen. Sein erstes Mail-Art-Projekt realisierte er 1975 in Polen. Rehfeldt bat Künstler aus aller Welt um die Gestaltung einer Postkarte und machte daraus - anlässlich seiner Ausstellung mit Ruth Wolf-Rehfeldt in der Galeria Teatru Studio in Warschau - die erste Mail-Art-Ausstellung aus der DDR.
Ein Jahr später wurde Mail Art auch in der DDR gezeigt, zunächst privat im „Atelierbund Erfurt“, dann offiziell 1978 in der Berliner Galerie Arkade des Staatlichen Kunsthandels und 1979 wieder privat in der Galerie des Psychologen und Soziologen Jürgen Schweinebraden. Allerdings wurden beide Orte bald geschlossen: die Galerie Arkade 1981, ihr Leiter Klaus Werner wurde in die Freiberuflichkeit entlassen, und Jürgen Schweinebraden wurde 1980 in den Westen abgeschoben.
Das Ministerium für Staatssicherheit schätzte Mail Art als „konterrevolutionär“ ein und eröffnete im Oktober 1981 den Operativen Vorgang (OV) „Feind“ gegen Birger Jesch und Jürgen Gottschalk, gegen Joachim Stange sowie Steffen und Martina Giersch. Der Anlass war ein doppelter: Im Februar 1981 stellte Birger Jesch sein pazifistisches Schießscheiben-Projekt „International Contact with Mail Art in the Spirit of Peaceful Coexistence“ in der Dresdner Weinbergskirche aus. Es war das erste Mal, dass Mail Art in einer Kirche in der DDR ausgestellt wurde. Die Ausstellung wanderte, vermittelt von kirchlichen Friedenskreisen, weiter nach Radebeul, Meißen, Greifswald und Rostock. Zur gleichen Zeit verschickte Jürgen Gottschalk Einladungen zu seinem Projekt „Visuelle Erotik“, und zwar per Einschreiben.
Wichtige Sendungen machten Mail-Artisten damals recht preiswert mit 40 Pfennigen als „Einschreiben“ frei. Das schützte nicht immer vor Verlust. Manchmal musste die Post jedoch bis zu 40 Mark für ein verlorenes Einschreiben bezahlen. Alle seine 267 Sendungen erhielt Jürgen Gottschalk entwertet vom Postzollamt zurück. Während der „3. Dresdner Grafikwerkstatt“ hängte er sogar ein Solidarnosc-Plakat in seiner Werkstatt auf. Beides gab der Stasi Anlass, auch gegen ihn vorzugehen. Birger Jesch und er gehörten zu den wenigen DDR-Künstlern, die sich an dem Projekt „Solidarität mit Solidarnosc" des in die BRD übergesiedelten Galeristen Jürgen Schweinebraden beteiligten.
Das hatte die Stasi-Abteilung „Postzollfahndung", der die Päckchen- und Paketkontrolle oblag, herausgefunden. Sie gehörte nicht zum Zoll, wie der Name vermuten lässt. Die Staatssicherheit arbeitete aber auch eng mit dem Zoll zusammen. Der Zoll fertigte im Auftrag der Stasi „Sachstandsberichte“ an. In einem solchen heißt es:
„Durch das Postzollamt Dresden wurden im Zusammenhang mit der Dienststelle der Postzollfahndung und der Abteilung Zollrecht zwei Sachstandsberichte zu den DDR-Bürgern Jesch [...] und Giersch [...] zum Versand von 'Mail Art'-Karten sowie anderen Werbematerialien mit politisch gefährlichem Inhalt erarbeitet."
1982 wurden Verfahren zur Verfolgung von sogenannten Zoll- und Devisenverstößen gegen Birger Jesch und Steffen Giersch eingeleitet. Zollinspekteur Köhler schlug in einem Schreiben an die Stasi-Bezirksverwaltung Dresden vor, beide Verfahren mit dem „Ausspruch einer Strafverfügung in Höhe von je 500,- Mark abzuschließen“ und die Postsendungen einzuziehen. In seiner Argumentation ging Köhler nicht auf die politischen Inhalte ein, sondern nur darauf, dass die Materialien überwiegend Werbecharakter trügen, für deren Ausfuhr beide Bürger keine Genehmigung besäßen. Steffen Giersch erhielt schließlich eine Geldstrafe von 300 Mark, Birger Jesch musste 500 Mark zahlen. Solche Ungleichbehandlungen zersetzten effektiv.
„Eine öffentlichkeitswirksame Aktion wurde durch das MfS unterbunden"
Im Abschlussbericht zum OV „Feind“ fasste Hauptmann Manfred Rudolph den Vorgang am 1. Oktober 1984 zusammen, wie eine Stasi-Akte dokumentiert, nachfolgend ausführlich zitiert:
„Der im OV bearbeitete Gottschalk befaßte sich im Rahmen seiner Tätigkeit als Grafikdrucker überwiegend mit der Herstellung und Verbreitung von Erzeugnissen der sogenannten Mail Art (Postkunst). Die Zielstellung dieser Aktivitäten bestand nach eigenen Angaben des Gottschalk darin, mit 'künstlerischen' Mitteln auf bestehende Mängel und Fehler in der DDR aufmerksam zu machen, um damit eine Veränderung herbeizuführen. Seit 1979 besaß Gottschalk die Zulassung als selbständiger Grafikdrucker. Er nutzte seit diesem Zeitpunkt seine beruflichen Möglichkeiten zu einer Vielzahl von Initiativen und Aktivitäten der politischen Untergrundtätigkeit aus, die jedoch unter der Schwelle der strafrechtlichen Relevanz blieben. Gottschalk bevorzugte dabei solche Probleme wie den Pazifismus und die Ökologie.
Die von ihm gefertigten Mail Art Erzeugnisse richteten sich gegen die sozialistischen Verhältnisse in der DDR, gegen die SU [Sowjetunion] und drückten Sympathien für die konterrevolutionären Ereignisse in der VR Polen aus. Auf Grund der Nichteinhaltung erteilter staatlicher Auflagen wurde ihm nach mehrfach vorangegangenen Belehrungen durch die Zentrale Gutachterkommission beim Ministerium für Kultur Ende 1983 die Zulassung als Grafikdrucker entzogen. Durch diesen selbstverschuldeten Entzug seiner Genehmigung als Grafikdrucker entzog sich Gottschalk seiner materiellen Existenzgrundlage. Am 2.2.1984 stellte er demonstrativ den Antrag auf Übersiedlung in die BRD. Im Zeitraum von Ende 1983 bis März 1984 stellte Gottschalk eine aus Sicht der Stasi die staatliche Ordnung der DDR herabwürdigende Bandaufzeichnung her, in der er den staatlichen Organen der DDR unterstellte, Repressalien ausgesetzt sowie politisch und persönlich unter Druck gesetzt worden zu sein (…) Der Text wurde durch unser Organ bei einem Drucker sichergestellt.
Auf Grund vorhandener und erarbeiteter Beweismittel erfolgte am 20.3.1984 die Inhaftierung des Gottschalk durch das MfS und die Einleitung eines Ermittlungsverfahrens gem. § 220 StGB [Öffentliche Herabwürdigung]. Am 23.7. 1984 wurde das Strafverfahren gegen Gottschalk abgeschlossen und eine Freiheitsstrafe von 2 Jahren und 2 Monaten ausgesprochen. Gottschalk hat sich erwiesenermaßen zum Initiator der Mail Art in Dresden entwickelt und durch seine umfangreichen Aktivitäten eine hohe Anzahl von Personen mit ähnlichen politischen Interessen und Motiven zur Herstellung von Mail Art inspiriert.
Neben seinen umfangreichen Kontakten innerhalb der DDR gelang es Gottschalk, Kontakte größeren Umfangs in zahlreiche NSW-Staaten [Nicht sozialistisches Wirtschaftsgebiet] aufzubauen (…) Es gelang unserem Organ in klarer und eindeutiger Weise, den zuständigen staatlichen Organen darzulegen, daß es sich bei Gottschalk um eine Person handelt, die nicht bereit ist, sich an staatliche Weisungen und Gesetze zu halten, um ausschließlich eigene Interessen durchzusetzen (…) Seit Inhaftierung des Gottschalk ist innerhalb seines ehemaligen Freundes- und Bekanntenkreises eine spürbare Zurückhaltung, Verunsicherung und Zersetzung feststellbar. Gleichzeitig wurde damit auch die Wohnung bzw. Werkstatt des Gottschalk als Treffpunkt oppositioneller und negativer Personen des politischen Untergrundes im Bereich Kunst und Kultur liquidiert. Durch eine kluge Kombination und den zielgerichteten Einsatz des IMB 'Antonio' gelang es unserem Organ den Gottschalk im Freundeskreis des Rolf Schälike als 'Verräter' darzustellen, aufgrund dessen Aussage die Inhaftierung des Schälike erfolgte (…)
Die OV-Personen Stange, Jesch, Giersch und Gottschalk fielen seit 1981 zunehmend als Hersteller und Verbreiter von Mail Art Erzeugnissen mit antisozialistischer, oppositioneller und pazifistischer Aussage operativ an. Gleichzeitig trat der Giersch aktiv als Initiator und Organisator von Fahrradaktionen unter dem Thema 'Mobil ohne Auto' sowie sogenannten 'Drachenfesten' in Erscheinung. Mit derartigen Aktionen wollte Giersch seinen Protest gegen die Umweltverschmutzung in der DDR und angeblich fehlende wirksame Maßnahmen der staatlichen Organe zum Schutz der Umwelt zum Ausdruck bringen (…) Durch seine arrogante und sich über alles hinwegsetzende Art provozierte Giersch Zusammenstöße mit der Volkspolizei. So waren im engen Zusammenwirken mit dem MfS jeweils mehrere Einsatzfahrzeuge der DVP [Deutsche Volkspolizei] erforderlich, um die Teilnehmer der durch Giersch organisierten Aktionen zu zerstreuen und die Treffen aufzulösen. Um einem weiteren Vorgehen gegen seine Person durch staatliche Organe vorzubeugen, nutzte Giersch zunehmend legale Möglichkeiten der Kirche. Er stellte seine Mail Art in kirchlichen Räumen aus und verkaufte selbstgefertigte Postkarten mit pazifistischer Aussage.
Eine öffentlichkeitswirksame Aktion des Giersch sowie der OV-Personen Jesch und Stange anläßlich des Kirchentages 1983 in Dresden wurde durch das MfS unterbunden. Durch das Vorlegen entsprechender Beweise wurde die verantwortliche Kirchenleitung gezwungen, den aufgebauten Mail Art Stand noch vor seiner Eröffnung schließen zu lassen (…) Obwohl es unserem Organ nicht gelang, den Giersch und dessen Ehefrau strafrechtlich zur Verantwortung zu ziehen, ist das Ergebnis der operativen Bearbeitung, Verunsicherung und Zersetzung des Giersch sowie seines Freundeskreises, positiv zu bewerten (…)
Abschließend ist einzuschätzen, daß die Zielstellung des Operativvorganges 'Feind', Schaffen von Beweisen für eine strafrechtliche Verantwortlichkeit, bei der OV-Person Gottschalk realisiert werden konnte. Gleichzeitig ist es (…) gelungen, die OV-Personen Giersch, Jesch und Stange anhaltend zu verunsichern und in ihrer Wirksamkeit weitestgehend zurückzudrängen. Durch geeignete operative Maßnahmen konnten eine Vielzahl von Kontakten innerhalb der DDR sowie in das NSW unterbunden werden. Durch ein gleichlaufendes Vorgehen des MfS gegen Kontaktpartner in der DDR kann festgestellt werden, daß die Problematik Mail Art aus operativer Sicht keinen Schwerpunkt mehr darstellt und weiter an Wirksamkeit verliert. Die OV-Personen mußten erkennen, daß die Mail Art ein untaugliches Mittel ist, in irgendeiner Form die gesellschaftlichen Verhältnisse in der DDR anzugreifen.“
Popularitätsschub unter dem Kirchendach und Postkontrolle
Hier irrte die Stasi gewaltig. Denn ab 1984 wurde die Mail Art in der DDR mit vielen Ausstellungen und subversiven Aktionen unter dem Dach und am Rande der evangelischen Kirche immer populärer. In diesen Freiräumen konnte man sagen, was man dachte. Mit großem Aufwand versuchte die Stasi, solche Freiräume einzuschränken und die Verbreitung unbotmäßiger Gedanken - auch auf dem Postweg - zu verhindern. An die Postkontrolleure hatte Joachim Stange eine Bitte auf die Rückseite seiner Briefumschläge gestempelt: „Bitte sauber öffnen!“ Zum Thema „Postkontrolle“ vervielfältige der Siebdrucker Jürgen Gottschalk einfach einen Artikel aus der SED-Tageszeitung Neues Deutschland, in dem DDR-Bürger vor der Postkontrolle durch den Bundesnachrichtendienst gewarnt wurden. Die gab es auch, war aber nichts im Vergleich zur Postkontrolle in der DDR. Eingeweihte verstanden den Witz.
Die „Abteilung M“ der Staatssicherheit, der die Interner Link: Postkontrolle oblag, hatte 2.000 Mitarbeiter. Etwa zehn Prozent aller Briefe wurden geöffnet, das waren rund 90.000 Sendungen täglich. Die Post wurde in Einzelfällen von Stasi-Leuten, die sich mit Ausweisen und Uniformen als Mitarbeiter der Deutschen Post ausgaben, aus öffentlichen Briefkästen geleert. Sie wurde auch aus privaten Hausbriefkästen gefischt. In den 15 Briefverteilämtern der DDR, das heißt in jedem Bezirk, gab es geheime Räume der Stasi, die die Tarnbezeichnung „Stelle 12“ trugen und zu denen Postmitarbeiter keinen Zugang hatten. Dort wurden zuerst alle Briefe und Karten gesichtet, bevor die Post überhaupt befördert werden durfte. Es gab Listen der zu observierenden Absender beziehungsweise Empfänger, es wurden aber auch Zufallsstichproben durchgeführt. Auffällige Post wurde sowieso aussortiert.
Diese Sendungen wurden von Stasi-Mitarbeitern, die gleichzeitig offiziell auch bei der Post angestellt waren, zu getarnten Umladestationen gefahren. Von dort wurden sie in zivilen Fahrzeugen in die Stasi-Bezirksverwaltungen zu den Wasserdampftischen gebracht. Alle Leiter der Hauptpostämter arbeiteten eng mit der Staatssicherheit zusammen, viele als „Offiziere im besonderen Einsatz“ (im Stasi-Jargon abgekürzt OibE).
Sendungen aus dem Westen, darunter auch Mail-Art-Kataloge, wurden häufig mit dem Hinweis „Zurück! Inhalt verstößt gegen Ziffer 1.1.1. der Liste der verbotenen Gegenstände" an den Absender zurückgeschickt. Das war für beide Seiten ärgerlich. Wir im Osten waren gerade auf die schön gedruckten Kataloge scharf. Neben den guten persönlichen Kontakten, die im Laufe der Zeit entstanden, war es eben auch wichtig, die eigene Arbeit einmal publiziert zu sehen. Diese Kataloge waren ein starker Anreiz, mit den eigenen Karten besser oder frecher zu werden. Was nun unter den verbotenen Gegenständen der Ziffer 1.1.1 zu verstehen war, erfuhren wir erst nach der Wende:
„…darunter sind aufgeführt: Kodes, Zeichen und andere Arten geheimer Mitteilungen, unleserliche Aufzeichnungen, unverständliche Zeichnungen, Literatur, sonstige Druckerzeugnisse, Bilder und Darstellungen:
wenn ihr Inhalt gegen die Erhaltung des Friedens gerichtet ist (…)
wenn es sich um Presseerzeugnisse handelt, die nicht in der Postzeitungsliste enthalten sind
wenn ihr Inhalt bzw. ihre Einfuhr anderweitig gegen die Interessen des soz. Staates und seiner Bürger gerichtet ist."
So konnte alles zurückgeschickt werden, was den Absender im Westen natürlich wegen der hohen Portokosten verärgern musste und auch sollte. Guy Bleus bekam beispielsweise mehrfach einen Katalog zurück, den er 1983 an Birger Jesch sandte.
Daraus machte Bleus aber wieder Postkunst und zeigte den Widerspruch zwischen Theorie und Praxis auf. Das Jahr 1983 war durch die Vollversammlung der Vereinten Nationen zum Weltkommunikationsjahr erklärt worden, um die Kommunikationsinfrastrukturen weltweit zu fördern. Die Deutsche Post der DDR gab zu diesem Anlass sogar vier Sondermarken heraus. Die real existierende Postkontrolle wirkte dem schönen Schein allerdings entgegen.
Eine hübsche Idee hatte Birger Jesch für eine handelsübliche Postkarte aus Karl-Marx-Stadt. Von MARX kratzte er das R weg und machte aus dem X ein Y. Das war frech und sehr gelungen, wie er mit minimalem Aufwand aus den Namen des DDR-Heiligen den des in der DDR verpönten Autors Karl May machte. Zwei dieser Karten verschickte Birger Jesch 1983 per Einschreiben nach Frankfurt am Main und nach Ost-Berlin. Da sie nicht ankamen, stellte er einen Nachforschungsauftrag. Daraufhin wurde ihm schriftlich mitgeteilt, dass seine...
„...beim Postamt Radebeul 2 eingelieferten Einschreibesendungen entsprechend den gesetzlichen Bestimmungen (Anordnung über den Postdienst - Postordnung - vom 21.11.1974, BGB I. 1975, Nr. 13, Seite 236, § 11 (1) und § 12 (2)) von der Postbeförderung ausgeschlossen wurden, da sie der sozialistischen Moral zuwiderlaufen. Die Sendungen wurden zwecks Untersuchung dem zuständigen staatlichen Organ übergeben.“
Heute wissen wir, dass dies ein Trick der Stasi-Postkontrolle war. Sie beauftragten die Leiter der Hauptpostämter, sich in rückdatierten Schreiben als Moral- und Ordnungshüter auszugeben. Die Post musste der Stasi keine Briefe oder Karten übergeben, da sie alles immer zuerst sah.
„Brief läßt sich ohne Beschädigung nicht öffnen“
Am 1. Mai 1975 lernte der Ingenieur und Fotograf Friedrich Winnes den Künstler Robert Rehfeldt kennen und bekam sogleich den Auftrag, die doppelseitige Adressenliste zu dessen Warschauer Mail-Art-Ausstellung auf Dokumentenfotopapier zu vervielfältigen.
Die Staatssicherheit bearbeitete Friedrich Winnes von 1977 bis 1987 in den Operativen Vorgängen „Amateur“ und „Reaktion“. Bereits 1980 sollte er verhaftet werden. Die „Abteilung M“ (Postkontrolle) der Stasi fand in einem Brief vom 28. September 1980 an den polnischen Mail Artisten Tomasz Schulz zwei Fotomontagen: ein Foto von seiner gerade geborenen Tochter Linda, auf deren Bauch er den Orden „Aktivist der Arbeit“ gelegt hatte, sowie eine bearbeitete Schießscheibe mit der Aufschrift „Red Art“ und angedeuteten Blutspritzern. Darin sah die Stasi die „Tatbestandsmerkmale gem. § 220 StGB erfüllt“. Dieser Paragraf war mit „Öffentliche Herabwürdigung“ überschrieben und beinhaltete die Bestrafung der Verbreitung von...
„...Symbolen, die geeignet sind, die staatliche oder öffentliche Ordnung zu beeinträchtigen, das sozialistische Zusammenleben zu stören oder die staatliche oder gesellschaftliche Ordnung verächtlich zu machen“.
Der Verstoß gegen diesen Paragrafen war mit einer Freiheitsstrafe von bis zu drei Jahren bedroht. In Polen herrschte damals noch nicht das Kriegsrecht. Aber weil die Gewerkschaft „Solidarnosc“ an Macht gewann, war in der DDR die Nervosität groß. Die Verhaftung blieb Friedrich Winnes glücklicherweise erspart. „Da das Einzugsdatum des Beweismittels zu lange zurückliegt“, sah die Abt. IX der BV Berlin von einer Inhaftierung ab, empfahl aber eine weitere Prüfung von Verdachtsmomenten gemäß § 219 StGB. Dieser Paragraf zur „Ungesetzlichen Verbindungsaufnahme“ sah nun sogar Haftstrafen von bis zu fünf Jahren vor. Bei Friedrich Winnes „ergaben sich jedoch keinerlei pol-op. Anhaltspunkte, die den o.g. Straftatsbestandteilen entsprachen“ (Schlussbericht zur OPK „Amateur“). Er erhielt allerdings eine dreijährige Einreisesperre in die Volksrepublik Polen, was man ihm jedoch nicht mitteilte. Und er blieb weiter in der Kreisdienststelle Pankow erfasst. Der neue OV-Name „Reaktion“, den die Stasi für Friedrich Winnes erfand, stellt sicher eine Aufwertung des „Amateurs“ dar.
Wenn sich ein Brief bei der Postkontrolle nicht ohne Beschädigung öffnen ließ, behielt ihn die Stasi einfach ein. Solche Post wurde erst später bei der Akteneinsicht gefunden.
Mit seinem Stempel „Jeder Mensch ist ein Künstler - Mach mit!“ kombinierte der Erfurter Rainer Luck die offizielle Mach-mit-Bewegung wie „Schöner unsere Städte und Gemeinden“ mit dem bekannten Beuys-Zitat. Und er machte auch noch den Vorschlag für ein „Beuys-Jahr“ 1983. Denn jenes Jahr 1983 hatte die DDR-Regierung nicht nur zum Karl-Marx-Jahr erklärt (100. Todestag), sondern etwas überraschend auch zum Martin-Luther-Jahr (500. Geburtstag).
1984 kam der Ausreisantragssteller Luck wegen „illegaler Kontaktaufnahme“ ins Gefängnis. Als Beuys davon hörte, solidarisierte er sich innerhalb des Mail Art-Projekts „Mein Partner“ von Hannes Clerico aus Rosenheim.
Auf ein Foto der zerstörten Dresdner Frauenkirche – die Ruine wurde bewusst als Denkmal gegen den Krieg stehengelassen – schrieb Joseph W. Huber: „WAR ist die Vergangenheitsform von Sein.“ Grammatikalisch richtig, ermöglichte das englische Wort „War“ für Krieg erst seinen Bildwitz.
Fotos vom zerstörten Dresden hatten vorher schon Gerd Börner („Das war ein Bombenerfolg“) und Birger Jesch für ihre Mail Art („Stand der militärtechn. Entwicklung vor 35 Jahren“) ausgewählt. Auf die offen verschickte Postkartenrückseite stempelte Birger: „13./14.2. 1945 35 Tausend Tote UND HEUTE? – NEUTRONENBOMBEN bewahren Dresdens Altstadt“. Da sich die DDR als Friedensstaat verstand, war jeder, der Militarisierung und Aufrüstung kritisch sah oder ablehnte, ein Feind des Friedens. Gegen den Krieg zu sein, hieß für DDR-Bürger für Frieden und Sozialismus zu sein.
Joseph W. Huber fertigte viele satirische Plakate und Postkarten an, die das politische System der DDR kritisch kommentierten. Besonders beliebt war seine Fotomontage mit der „Schlummernden Venus“ von Giorgione aus der Gemäldegalerie Alte Meister in Dresden, die eine Ausweiskontrolle über sich ergehen lassen muss. In Ost-Berlin konnte es vorkommen, dass man jeden Tag seinen Personalausweis vorzeigen musste. „Können Sie sich ausweisen?“, war die Frage. „Ja, wenn das so einfach wäre, würde ich mich gerne aus der DDR auszuweisen“, war die Antwort, die man lieber nicht geben durfte. Still zog man seinen Ausweis und zeigte ihn vor.
1977 startete Joseph W. Huber sein größtes Mail-Art-Projekt „Nature is life – Save it“. Hier wurde die Umweltverschmutzung nicht nur in der DDR, sondern weltweit thematisiert. Kornelia Röder schrieb darüber:
„Unabhängig von der Nationalität und Systemzugehörigkeit spricht aus allen Zusendungen die Sorge um die weitere Gefährdung der Welt, die ‚Vom Umtausch ausgeschlossen‘ ist. Umweltfragen als Probleme mit globaler Dimension können nur in gemeinsamen Aktionen gelöst werden. Dem Betrachter des Projekts begegnet eine gestalterische Vielfalt. Für die Beiträge, die aus dem Osten kamen, ist das Handgemachte typisch, Fotocollagen in der Heartfield-Tradition angefertigt, Stempel aus Radiergummi selbst geschnitten und damit Postkarten gestempelt. Dafür benötigte man auch im Osten keine Druckerlaubnis.“
Mit Interner Link: „Kennzeichen D“ und „Verstehen Sie Spaß?“ griff Gerd Börner die Titel zweier beliebter Sendungen des West-Fernsehens ironisch auf. Auf seiner Karte „Kennzeichen D“ steht das „D“ nicht für Deutschland, sondern für Damentoilette. Und die Szene aus „Verstehen Sie Spaß?“ spielt am Alexanderplatz in Ost-Berlin. Die dort angebrachten Überwachungskameras symbolisieren einen Überwachungsstaat im Sinne Orwells. Dessen Buch „1984“ war das am meisten gefürchtete und am schlimmsten verfolgte Buch in der DDR. Börner verfremdete 1980 auch das übliche „wohnhaft in“ in „Wohn-HAFT“. Damit brachte er sein Gefühl des Eingesperrtseins in der DDR zum Ausdruck. 1982 wurde ihm mit Frau und Kind die Ausreise von Ost- nach West-Berlin genehmigt
Um 1980 schuf Börner eine Serie von Postkarten, die er in seiner Dunkelkammer in kleiner Auflage von jeweils 10 bis 15 Stück vervielfältigte und dann auch verschickte. Die sieben Motive haben neben den drei großen Buchstaben „L T I“ weitere Aufschriften: „Ein Bombenwetter heute!“, „Wie aus der Pistole geschossen“, „Deutsche Wertarbeit“, „Ein Rasseweib“, „Die rasen wie die Begasten…“ und „Wir waren eine tolle Truppe“. Börner benutzte Fotos aus Bibliotheken und Abreibebuchstaben, um die Vorlagen herzustellen. Bombenwetter, Bombenerfolg, Rasseweib und Begaste waren für ihn Unworte. Worte also, die man nicht sagen sollte. Der Dresdner Philologe Victor Klemperer hatte ihn inspiriert, denn: „Was jemand verbergen will, sei es nur vor andern, sei es vor sich selber, auch was er unbewußt in sich trägt: die Sprache bringt es an den Tag.“
Auch im Westen blieb Gerd Börner ein aktiver Mail Artist. Hier entdeckte er das Copy-Verfahren und intensivierte seine Brief-Freundschaften, besonders zu Leonhard Frank Duch aus Brasilien, den er mit seiner Frau auch bald in Recife besuchte. Duch wurde 1940 in Berlin geboren, seine Eltern wanderten mit ihm 1951 nach São Paulo aus. In der internationalen Mail-Art-Szene war Leonhard Frank Duch seit 1975 aktiv. Mit seiner Postkunst wollte er ein Zeichen des Protestes gegen die Militärdiktatur setzen, die bis 1989 bestand. 1994 zog Duch wieder in seine Geburtsstadt zurück und gab die Mail Art auf. Gerd Börner machte weiter.
Hin und wieder beteiligte er sich an Projekten, wie zum 20. Jahrestag des Mauerfalls 2009. Börner ergänzte das Schild an der Zonen-Grenze zum Osten. Zum mehrsprachigen „Sie verlassen den amerikanischen Sektor“ setzte er „Sie verlassen Ihr Gedächtnis“. So mahnte er die Erinnerung an die SED-Diktatur und den Mauerbau an.
Das Tabuthema „MAUER“ griff der Ost-Berliner Lutz Wierszbowski gelungen auf, als er 1982 eine Brieftaube von Ost nach West fliegen ließ. Mit seinem Linolschnitt hatte er das Sinnbild für die „Mail Art - made in GDR“ gefunden. Er hat noch einen zweiten Linolschnitt mit Brieftaube gemacht, diesmal zielt ein Grenzsoldat auf sie. Das war ein deutlicher Hinweis auf den Schießbefehl und auf die Postkontrolle. Es war ja so einfach, den grenzüberschreitenden Postverkehr zu unterbrechen.
Lutz Wierszbowski war 1982/83 als „Mädchen für vieles“ bei Robert Rehfeldt angestellt, wie vor ihm Gerd Börner. Nachdem dieser 1980 einen Ausreiseantrag gestellt hatte, verlor er seinen Arbeitsplatz im VEB Kabelwerk Köpenick. Um ihn vor dem „Asozialen-Paragrafen“ des DDR-Strafgesetzbuchs (§ 249) zu schützen, stellte ihn der Künstler Robert Rehfeldt als Mitarbeiter ein. Er ordnete Rehfeldts internationale Korrespondenz und baute so das Rehfeldt-Mail-Art-Archiv auf.
„Kunst ist, wenn sie trotzdem entsteht“
Das Ost-Berliner Treffen zum „1. Dezentralen Internationalen Mail Art-Congress“ fand im September 1986 ersatzweise in Robert Rehfeldts Atelier statt, weil es in der „Palette Nord“ verboten wurde. Sein Stempel „Kunst ist, wenn sie trotzdem entsteht“ beschreibt die DDR-Situation sehr gut. Und Rehfeldt war ein Zusammen-Arbeiter. Gern hätte er wie Andy Warhol eine Art Factory gehabt. Jeden, der zu ihm kam, wusste er zu beschäftigen – als Handwerker oder Handlanger, als Chauffeur, Fotograf, zum Besorgen von irgendetwas oder einfach als Zuhörer.
Rehfeldts Motto war: „Meine Idee hilft deiner Idee, unsere Ideen helfen andern Ideen.“ Damit ermutigte er jeden zur Mitarbeit an einem Kunstwerk, das man – in Anlehnung an Beuys’ Erweiterten Kunstbegriff – als Soziale Plastik bezeichnen könnte. Sein Neologismus „Contart“ bedeutete Kontakt-Kunst. Und er sagte auch „Kunst im Kontakt ist Leben mit der Kunst“. Mail Artisten aus aller Welt sind ihm gefolgt und haben die einseitige Beziehung des Künstlers zum Betrachter/Sammler zu einem wechselseitigen Dialog weiterentwickelt.
Den bekannten Satz von Karl Marx, wonach aus der Theorie materielle Gewalt wird, wenn sie die Massen ergreift, wandelte er auf einer Postkarte pointiert um. Wir hatten diese Sprüche wie „Freiheit ist die Einsicht in die Notwendigkeit“, Hegel verkürzend, so satt wie die Frage nach der Epoche, in der wir leben. Diese Antwort musste in der Schule hergebetet werden: „Wir leben in der Epoche des allmählichen Übergangs vom Kapitalismus zum Sozialismus im Weltmaßstab.“
An der Universität war es nicht besser. Lenins Ausspruch „Die Lehre von Marx ist allmächtig, weil sie wahr ist“ stand groß an der Wand der Philosophischen Sektion der Universität Greifswald. Gegen solch plumpe Propaganda kämpften wir Mail Artisten an. Natürlich wurde daraus keine Idee, die die Massen ergreift, sie wurde auch keine Volkskunst, aber der internationale Bilder- und Gedankenaustausch half dabei mit, Meinungsfreiheit einzufordern und auszubauen. Kunst hatte dagegen zu sein! In der DDR gegen den Alleinherrschaftsanspruch der SED, im Westen gegen den „Parteienstaat“. So sah es jedenfalls Joseph Beuys, und mit seiner klaren Haltung zu Selbstbestimmung und Selbstverwaltung war er uns ein Vorbild.
„FRIEDEN und UMWELT und MAUER“
Der Cottbuser Siebdrucker Uwe Dressler wollte vor seiner Übersiedlung in die BRD 1986 noch einmal internationale Mail Art zu den Problemen der Zeit ausstellen. Auf seinem Plakat wollte er den Titel FRIEDEN und UMWELT eigentlich durch noch das dritte Reizwort MAUER ergänzen. Das wäre vielleicht der Schritt ins Gefängnis gewesen - und zwar nicht nur für ihn, sondern auch für die vier Leihgeber Dietrich Buhrow, Birger Jesch, Friedrich Winnes und Lutz Wohlrab, deren Namen (ungewöhnlicherweise als Leihgeber) mit auf dem Plakat erschienen.
Dietrich Buhrow war erst im Jahr zuvor aus der Haft entlassen worden. Er saß, wie Martin Bernhardt, fünf Monate wegen Verstoßes gegen den politischen Strafrechtsparagrafen 222 („Missachtung staatlicher Symbole“) im Gefängnis. In der Folge dieses Verfahrens wurden Martin Bernhardt und ich für drei Jahre vom Medizinstudium exmatrikuliert. Wir drei hatten in Greifswald ein Künstlerbuch in zwanzig Exemplaren hergestellt und eine Buchpremiere organisiert, beides ohne Genehmigung. Das Buch war nicht politisch. Dass wir es ohne Genehmigung druckten, reichte schon für die Verfolgung durch die Staatssicherheit und die Exmatrikulation durch die Universitätsleitung aus.
Mit dem Thema MAUER beschäftigte sich Steffen Jacob aus Karl-Marx-Stadt (heute Chemnitz). 1984 schrieb er sein Mail-Art-Projekt „The Wall“ aus, wofür er 200 Karten mit der Darstellung einer Ziegelmauer verschickte. Ein riskantes Unterfangen! Etwa 100 Karten kehrten bearbeitet zurück. Steffen Jacob montierte sie zu vier Tafeln, die sich heute im Mail-Art-Archiv der Kunstsammlungen Chemnitz befinden.
"Mauerpauer" statt "Mauerpower"
Anlässlich des 25. Jahrestages des Mauerbaus 1986 initiierte eine Heidelberger Künstlergruppe um den Grafiker Klaus Staeck das Mail-Art-Projekt MAUERPAUER entlang eines Bauzauns parallel zur Mauer am Potsdamer Platz. Ihr Motto war: „Was man auf die Schippe nimmt, ist schon untergraben.“ Sie mieteten im Berliner Postamt am Halleschen Tor ein Postfach für „M. Pauer“, um auch Ostdeutschen die Teilnahme zu ermöglichen. Der Titel "MAUERPAUER" wurde als eingedeutschte Fassung von Mauerpower gewählt, um nicht auf Anhieb Misstrauen bei der Stasi zu erzeugen. Von den vielen Postkarten und Objekten (darunter sogar ein frankierter Bumerang), die zwischen West-Berlin und Westdeutschland hin- und hergingen, kamen die meisten aus dem Umkreis des Bildhauers Rolf Schneider aus Heidelberg sowie des Berliner Journalisten Michel Pauer, wozu neben Klaus Staeck und seinem kurz zuvor aus Bitterfeld übergesiedelten Bruder Rolf auch mehrere Kunststudierende gehörten. Einige der Karten kamen aus der DDR von Friedrich Winnes, Joseph W. Huber, Wolfgang Petrovsky und Uwe Dressler.
Die Vernissage fand zum 13. August 1986 unter freiem Himmel am Potsdamer Platz entlang der Mauer statt. Dazu tapezierte Klaus Staeck sein Bildmotiv „Vorsicht Kunst!“ übergroß an die Mauer (siehe Titelfoto). Über die Aktion berichtete der Fernsehredakteur Ulli Zelle sogar in der „Abendschau" des SFB. Die mehr als 1.000 aufbewahrten MAUERPAUER-Objekte und Postkarten befinden sich seit 2018 im Archiv der Externer Link: Robert-Havemann-Gesellschaft. Zum 35. Jahrestag des Mauersturzes am 9. November 2024 wurde eine Auswahl bis Januar 2025 in der ehemaligen Stasi-Zentrale auf dem Campus für Demokratie in Berlin-Lichtenberg ausgestellt.
Die innerdeutsche Grenze zu überwinden, war ein Hauptanreiz für Mail-Artisten dies- und jenseits der Mauer. Speziell zu diesem deutsch-deutschen Austausch konzipierte die Universitäts- und Landesbibliothek Saarbrücken mit Unterstützung von Aloys Ohlmann im Jahr 2000 eine Mail-Art-Ausstellung unter der Überschrift „Mail Art Saarland – DDR: Schmuggelgut oder Kassiber?“, die ein Jahr später auch in der Universitätsbibliothek Leipzig zu sehen war.
Wie im Ostblock spielte auch in den Ländern Lateinamerikas die Mail Art eine wichtige Rolle. Nach der großen Überblicksausstellung „Mail Art Osteuropa im internationalen Netzwerk“, die das Staatliche Museum Schwerin 1996 zeigte, wagte der Württembergische Kunstverein 2009 mit „Subversive Praktiken. Kunst unter den Bedingungen politischer Repression“ einen Vergleich von Werken aus Südamerika und Europa (aus Spanien und dem Ostblock) von den 1960er- bis in die 1980er-Jahre.
Ruth Wolf-Rehfeldt gehörte zu den wenigen aktiven Frauen in der Mail-Art-Szene - und sie war in der Kunst der DDR eine singuläre Erscheinung. Außer ihr hat sich niemand so lange und intensiv mit der Schreibmaschinengrafik beschäftigt. Mit ihrem Werk hat sie sich eher in der internationalen Szene der Visuellen Poeten einen Namen gemacht als zuhause, frei nach dem Motto ihres Mannes Robert: „Künstler lebt ihr im eigenen Land, bleibt am besten unbekannt!“ Über das Netzwerk der Mail Art wurde ihre Arbeit jedoch weltweit ausgestellt und gesammelt. In einem Gespräch erzählte sie 1996: „Wenn ich eine Adresse aus einem neuen Land bekam, habe ich dorthin geschrieben. Ich hatte den Ehrgeiz, wie eine Spinne im Netz, zu jedem Ort der Erde meine Fäden zu spinnen.“ Das Studienzentrum für Künstlerpublikationen an der Weserburg – Museum für Moderne Kunst Bremen erwarb nach 2009 einen großen Teil ihres Oeuvre an Typewritings. Zu ihrem 80. Geburtstag präsentierte das Studienzentrum 2012 Ruth Wolf-Rehfeldts bis dahin umfangreichste Ausstellung.
Auf der documenta 14 in Kassel 2017 wurden neben ihren Typewritings auch VIERHÄNDIGE WERKE gezeigt, die zu Ruth Wolf-Rehfeldts Mail-Art-Projekt: „Please add and send to Guttorm Nordø“ gehören. Der norwegische Mail Artist gab sie ihr vor fünfzehn Jahren bei einem Besuch in Berlin zurück. Ruth Wolf-Rehfeldt verschickte 1987 eigene Druckgrafiken mit der Bitte um eine Bearbeitung an ausgewählte Mail Artisten in Argentinien, Kanada, Dänemark, Frankreich, Italien, Japan, Niederlande, Polen, der Schweiz, Uruguay, USA und den beiden Teilen Deutschlands. Diese sollten ihre Kollaborationen nach Norwegen senden, damit sie Teil ihrer Ausstellung werden. 36 solcher Zusammenarbeiten erreichten Trondheim. Diese auf der documenta zu zeigen, war auch ein Triumph für die Mail Art selbst.
Zitierweise: Lutz Wohlrab, "Ein Fenster zur Welt öffnen. Mail Art in der DDR“, in: Deutschland Archiv, 20.10.2025. Link: www.bpb.de/570407. Alle Beiträge im Deutschlandarchiv sind Recherchen und Meinungsbeiträge der jeweiligen Autorinnen und Autoren, sie stellen keine Meinungsäußerung der Bundeszentrale für politische Bildung dar.
Der Berliner Kunsthistoriker und Psychoanalytiker Lutz Wohlrab (geb. 1959 in Greifswald) ist führender Mail Art-Forscher in Ostdeutschland und war zu DDR-Zeiten selber politischer Mail Art-Künstler, er ist Autor zahlreicher Fachbücher zum Thema.