Ich sitze mit drei Freund:innen bei einer Geburtstagsparty in einer Bar in Berlin-Schöneberg. Auf dem Tisch befinden sich vier Bier, ein Aschenbecher und das Thema Sozialismus. Und weil ich der Einzige bin, der aus dem Osten kommt, geht das Gespräch seit gut zehn Minuten über die DDR. Eigentlich rede auch nur ich. Bis sich irgendwann ein Typ zu uns an den Tisch setzt. „Mal ganz ehrlich”, sagt er und sieht mich, dann die anderen mit einem bemitleidenden Blick an. „Wird euch das eigentlich manchmal zu viel, was er erzählt?” „Du kommst auch aus dem Osten, oder?” frage ich.
Das passiert mir in letzter Zeit immer häufiger, wenn ich nicht im Osten bin, denke ich. Es reicht ein kurzer Blickaustausch und schon ist klar, dass sich hier zwei Gen Z–Ossis treffen. Er nickt. „Leipzig”, sagt er. „Wernigerode”, antworte ich und schüttele ihm in einer halbfreiwillig komplizierten, aber für die anderen sicher geheimgestenmäßigen Bewegung die Hand. Er heißt Georg ist 26 Jahre alt und der neue Mitbewohner der Gastgeberin. „Ich habe das nur gefragt, weil mir meine Freundin oft sagt, dass sie es spannend findet, mehr über den Osten zu erfahren, aber vielleicht nicht ständig” „Rede ich dir auch zu viel über den Osten?”, frage ich meine Freundin neben mir. „Ich finde das schon interessant”, sagt sie. „Nur manchmal weiß ich nicht, was ich dazu sagen soll”.
Gut, denke ich, sie hat am Anfang unserer Beziehung angeboten, dass sie gern mehr über den Osten erfahren möchte, weil sie als Mitte 20jährige Frau vom Bodensee kaum damit in Berührung kam. Trotzdem hat die Ärmste sicher nicht damit gerechnet, dass ich seitdem wirklich jeden Tag davon spreche und vor allem dabei zwischen Aufregung, Ärger und der Verteidigung des Ostens vor mir selbst changiere. Nur woran liegt das?
Eigentlich weiß ich noch gar nicht so lang, dass ich „aus dem Osten” komme und bis heute nicht, was das eigentlich bedeutet.
„Near Hannover“, aber nie hätte ich „aus dem Westen“ gesagt.
Ich wurde 1997 in Wernigerode, in Sachsen-Anhalt, geboren und bin in der Gegend aufgewachsen und bin dann sobald es ging mit 19 Jahren von dort aus nach Berlin gezogen. Wenn ich gefragt wurde, wo ich herkam, habe ich gesagt, dass ich aus dem Harz komme. „Near Hannover” – ohne mir dabei viel zu denken. Nie hätte ich „aus dem Osten” gesagt.
Das Thema DDR spielte in meiner Familie eigentlich überhaupt keine Rolle. Bis ich vor ein paar Jahren für eine Reportage mit meiner Großmutter über ein Gemälde ihres Onkels, dem Künstler und ZK-Mitglied Willi Sitte, darauf kam, dass die DDR aber so was von eine Rolle gespielt haben muss und sie mir mehr über diese Zeit erzählte.
Mit meiner Mutter, die im Wendejahr Abitur gemacht hat, habe ich zu Beginn meines Interesses für die DDR darüber gestritten, dass es zwischen dieser, noch gar nicht so lange untergegangenen, Diktatur und heute doch eine Verbindung geben muss und auch eine Erklärung für ihre Persönlichkeit, wie ich ihr nebulös attestierte. „Ich bin einfach froh, dass diese Zeit vorbei ist”, hatte sie gesagt und den Kopf geschüttelt. „Und darüber bin ich so froh, dass ich fast schon wütend werde, wenn ich darüber noch reden muss!”
Nach einiger Zeit wurde sie zu meiner wichtigsten Hilfe bei meinen Zeitreisen in die DDR, aber zuerst reagierte sie abwehrend. Vielleicht gerade, weil diese Zeit nicht einfach ein Thema ist, das irgendwann erledigt ist. Von meiner Mutter habe ich vermutlich auch lange die Überzeugung getragen, dass es doch gar keine Unterschiede zwischen Ost und West gibt – vielleicht, weil es das war, was sie sich für mich gewünscht hat. Heute denke ich, dass Unterschiede doch auch immer etwas Positives haben. So auch die zwischen Ost und West.
Ich habe mich oft gefragt (denn die meisten Gespräche, die ich über den Osten, beginne ich ja selbst), was ich Positives an dem Osten finde, aber mir fällt das schwer, weil der Osten für mich weniger ein Ort als ein Gefühl ist, das sich derzeit ständig neu in mir zeigt.
Sparwasser, der einzige ostdeutsche Held
Einmal bin ich in Rom in einen linken Club gegangen, der “Sparwasser” heißt. Also genau so wie der DDR-Fußballspieler, der 1974 bei der WM in Deutschland in einem Vorrundenspiel das 1:0 gegen die BRD geschossen hat und seitdem im Osten als Volksheld gilt. Ich dachte, dass das ein Zufall war, aber als ich in den Club kam, hingen dort lauter DDR-Embleme, SED-Propagandaplakate und ein riesiges Porträt von Sparwasser, das auf einer Art Schrein beleuchtet war. „Warum heißt der Laden hier ‚Sparwasser‘?”, habe ich dort gefragt. „Weil der an einem Tag den Westen besiegt hat!”, brüllte mir ein betrunkener Italiener ins Ohr. Eigentlich war das ziemlich witzig, denke ich heute, aber damals habe ich mich unwohl gefühlt. Vielleicht, weil dort Nicht-Ostdeutsche Leute das für mich so ambivalentes Thema DDR, mit der Diktatur und dem ebenso spannenden Alltag, einfach mit uneingeschränkter Leichtfüßigkeit behandelten.
Dieses emotionale Bipolarität gegenüber dem Osten begleitet mich aber auch hier in Deutschland. Sobald Leute von der Wiedervereinigung als ‚Annexion‘ sprechen, werde ich wütend genauso wenn jemand Gespräche über den Osten heute als unzeitgemäß abkanzeln will. „Ich kann es nicht mehr hören!”, hat der westdeutsch sozialisierte Ende 50jähriger Partner einer Freundin genervt gesagt als ich auf einer Party mal wieder von diesem gleichzeitigen Gefühl in mir erzählte. „Dich betrifft das doch alles nicht. Was willst du denn für ein Problem haben?”, „Ich habe kein Problem!”, habe ich aufgebracht entgegnet. „Und es nervt mich, dass ich überhaupt ein Problem haben muss um mich mit dem Thema auseinanderzusetzen”
Für Leute, die nicht aus dem Osten kommen, scheint es oft notwendig, dass diese Frage aus einem Leidensdruck hervorgeht. Verständlich, wenn der mediale Diskurs nach Tokio Hotel und Kraftklub vor allem die DDR-Diktatur, die Treuhandleiden, die strukturelle Benachteiligung dieses Gebiets und Rechtsextremismus bedeutet. Und auch mir rutscht aus der Ferne schnell eine unreflektierte Generalabrechnung aus, wenn ich aus den Nachrichten etwas aus dem Harz Sachsen-Anhalt mitbekomme, was meistens dann passiert, wenn jemand trotz Unwetterwarnung den Brocken runterstolpert oder die AfD Schlagzeilen macht. Bei der Bundestagswahl 2025 bekam die Partei dort fast 40 Prozent. “Die haben echt keine Probleme und trotzdem wählen die Leute dort die Faschos!”, sage ich dann, weiß wie unfair das gegenüber vielen Demokrat:innen dort ist und spüre kurz diesen Kick, wie wenn man als Kind das erste Mal mit den eigenen Eltern erklärt, sie total peinlich zu finden.
Ost-West-Ost-Sprünge
Überhaupt ist es mit der Beziehung zum Osten für mich wie mit der Beziehung zu einem Familienmitglied, das man liebt und dass einen doch auf verflixt, emotionale Weise beeinflusst. So, dass man zugleich rasend werden kann, wenn man es reden hört oder handeln sieht, zeitgleich aber im nächsten Moment so eine natürliche Verbundenheit spürt. Jedes Mal, wenn ich an der Kasse in der dritten Person angesprochen werde. „Hat er 20 Cent?” Wenn eine gleichaltrige Person das Wort “übelst” anstelle von “total” verwendet. Wenn ich beim Lied “Sommer 89” von Kettcar Tränen in den Augen bekomme, genau wie bei Aufnahmen, in denen Hans Dietrich Genscher im September 89 den DDR Bürger:innen in Prag mitteilt, dass ihre Ausreise genehmigt wird. Ich schaue mir das Video manchmal nach einem ausgelassenen Kneipenabend oder beim Zähneputzen an. Oder wenn ich mit meiner Freundin durch Berlin laufe und wir manchmal, sobald wir die bronzefarbene Grenzlinie der Mauer sehen, uns an die Hand nehmen und erst zu ihr in den Westen und dann wieder zu mir in den Osten springen. Obwohl ich ja eigentlich in Charlottenburg wohne und gar nicht weiß, was es für mich jetzt genau bedeutet ostdeutsch zu sein. Aber vielleicht macht genau das das Gefühl Ostdeutscher zu sein für mich aus: Keine Antwort zu haben, sie aber immer wieder zu suchen und dadurch mit allen möglichen Menschen ins Gespräch zu kommen.
So auch auf der Geburtstagsparty. Um zwölf stehen alle um das Geburtstagskind verteilt. Die letzte Strophe Happy Birthday ist gerade verklungen, da reißt Georg das Glas hoch und sagt: “So und jetzt singen wir nochmal die ostdeutsche Version!”, während ihn dreißig fragende Gesichter ansehen. Er, ich und zwei andere Leute beginnen zu singen: “Weil heute dein Geburtstag ist, da haben wir gedacht, wir singen dir ein schönes Lied, weil dir das Freude macht …” “Und das singt ihr dann immer zu Geburtstagen?”, fragt jemand danach. “Ja natürlich, direkt vor der Internationale!”, antwortet ich fröhlich. “Echt?”
Zitierhinweis: Aron Boks, „An einem Tag den Westen besiegt“, DA vom 3.10.2025. Dieser Text basiert auf einem Beitrag des Autors, der unter dem Titel „Der Osten ist ein Ort im Herzen“ im „Freitag“ vom 27.03.2025 erschien. Aron Boks ist Träger des Klopstock-Förderpreises für junge Autoren und moderiert regelmäßig Veranstaltungen mit Nachwendekindern aus Ost- und Westdeutschland. Im September 2025 erschien sein neues Buch: „Starkstromzeit. Vom Leben in einem Staat, den es nicht mehr gibt“.
Ergänzend zum Thema:
Marko Martin, Interner Link: Erinnerungslandschaften, zerklüftet. DA vom 2.9.2025
Aron Boks, Interner Link: An einem Tag den Westen besiegt, DA vom 2.10.2025.
Christopher Banditt, Interner Link: Noch immer "Bürger zweiter Klasse"?Einschätzungen von „Wendekindern“ zur ostdeutschen Transformation seit 1989/90. Eine Datenauswertung. DA vom 25.4.25.
Nine-Christine Müller, Interner Link: Ostwärts hören: Gespräche über ostdeutsche Identitäten, DA vom 30.7.2025.
Raj Kollmorgen, Interner Link: Dirk Oschmanns Erfindung des Ostens, DA vom 1.2.2025.
Interner Link: Ossi? Wessi? Geht's noch? Drei Perspektiven von Antonie Rietzschel, Christian Bangel und Johannes Nichelmann, DA vom 3.10.2023.
Interner Link: Mehr Osten verstehen. 80 Autoren und Autorinnen über (Ost)Deutschlands Weg. Zwei e-books herausgegeben vom Deutschland Archiv, online seit 3.9.2024.
Joachim Gauck, Interner Link: 1989/90: Freiheit erringen, Freiheit gestalten, DA von 2.10.2025.