Es ist Herbst 2025, und das „Deutschland Archiv“ der Bundeszentrale für Politische Bildung fragt nach einem frischen Ost-West-Blick auf die Deutsche Einheit. Kein Wunder, wieder einmal war 3. Oktober, wieder einmal Einheits-Jahrestag...
Aron Boks ist „ostdeutscher“ Autor und Journalist, hat gerade mit 'Starkstromzeit' sein zweites Buch über seine Auseinandersetzung mit der DDR veröffentlicht und wurde gefragt, ob er die Redaktion als Slam-Poet mit einem Denkanstoß bereichern kann – mit der Bitte, noch eine westdeutsch sozialisierte Kollegin vorzuschlagen. Sofort hat er an seine beste Freundin Lucia Lucia gedacht. Lucia ist Schriftstellerin und ebenfalls Slam-Poetin, jedoch im Gegensatz zu Aron nicht in Sachsen-Anhalt, sondern in Hamburg geboren und aufgewachsen. Ansonsten haben die beiden aber vor allem Gemeinsamkeiten: Sie wurden beide im Jahr 1997 geboren, leben beide derzeit in Berlin und haben weder die alte Bundesrepublik noch die DDR erlebt. Trotzdem löst die Arbeitsanfrage bei ihnen komplett unterschiedliche Gefühle aus:
Aron ist begeistert, Lucia hat Bedenken. Während Aron leidenschaftlich gern und ständig über Ost- und Westdeutschland spricht und Ost-West-Workshops besucht, fühlt sich Lucia dazu nicht qualifiziert. Woher kommt diese Diskrepanz? Wie lernen Menschen, die die Zeit der Teilung nicht miterlebt haben, Ost- und Westdeutschland im Verlauf ihres Lebens im vereinten Deutschland kennen? Welche Rolle spielen Humor und Medien dabei? Und was bedeutet das heute für die Generation der Nachwendekinder?
Das Gesprächsprotokoll
Aron: Bist du jetzt eigentlich dabei?
Lucia: Bei was?
A: Na, bei dem Beitrag. Von dem ich dir letzte Woche erzählt hab.
L: Ehrlich gesagt… ich weiß nicht. Irgendwie habe ich ein Zögern.
A: Aber warum?
L: Ich meine, du setzt dich ja quasi hauptberuflich mit ostdeutscher Geschichte auseinander – und ich bin eher der Typ „uninformierte Westdeutsche“, da ist einfach ein Ungleichgewicht. Wobei natürlich auch gerade das auf der Bühne oder im Text interessant sein könnte.
A: Inwiefern?
L: Naja, wenn du über 35 Jahre nach der Wiedervereinigung einen Beitrag von zwei gleichaltrigen Nachwendekindern liest; beide sind um 2015 rum in der Poetry-Slam-Szene gelandet, beide leben in Berlin, teilen gemeinsame Freund:innenkreise im gleichen sozialen Milieu, also dem, in dem Leute „Freund:innenkreise“ sagen, und einer ist eben ostdeutsch und tief im Diskurs und die andere westdeutsch und sich dessen eigentlich erst seit ein paar Jahren wirklich bewusst – da hast du das Problem ja auf dem Silbertablett.
A: Kennst du denn irgendwelche Westdeutschen in unserem Alter, die sich mit ihrem Westdeutsch-Sein auseinandergesetzt haben?
L: So intensiv wie du mit deinem Ostdeutsch-Sein? Nee. Schon allein der Begriff des „Westdeutsch-Seins“ klingt ja überhaupt nicht nach einem Thema. Wonach soll man denn da fragen? Haben deine Eltern auch Urlaub in Frankreich gemacht und an die Meritokratie geglaubt? Waren sie Hippies oder Punks?
A: Na ja, es müsste halt ein Gespräch sein, in dem das als typisch westdeutsch benannt wird.
L: Also ein Gespräch mit jemand Ostdeutschem. Westdeutsche benennen nichts als westdeutsch, für die ist das einfach normal.
A: Vielleicht. Zumindest lande ich mit den Ostdeutschen in meinem Umfeld früher oder später eigentlich immer in Ost-West-Gesprächen. Wie im letzten Winter zum Beispiel, da hat doch dieser Typ bei dir zur Zwischenmiete gewohnt…
L: Georg.
A: Genau! Der hatte sich in der Zeit doch ziemlich aktiv mit seiner ostdeutschen Herkunft beschäftigt.
L: Das wusste ich die ersten drei Monate zum Beispiel überhaupt nicht! Da haben wir irgendwie nie drüber gesprochen. Außer einmal, als es um die Städte ging, aus denen wir kommen, Hamburg und Leipzig, und ich dann meinte, dass ich in Leipzig ein Semester studiert habe (also was heißt „studiert“?!) und er gefragt hat, ob es sehr anders war für mich. Da hatten wir auf einmal eine super interessante Unterhaltung, und ich dachte mir, krass, die hätten wir wahrscheinlich schon viel früher haben können – hätte ich nachgefragt.
A: Ich habe ihn bei deinem Geburtstag kennengelernt und musste nicht einmal wirklich auf ihn zugehen, sondern nur kurz am Kneipentisch fragen, ob er aus dem Osten kommt, und schon hat er mir zwei Minuten später von seiner Familie im Jahr 1989 erzählt und wie die die Wende erlebt haben.
L: Aber wann genau hast du eigentlich angefangen, dich für deine ostdeutsche Herkunft zu interessieren? Gab’s einen Auslöser?
A: Das war 2021, als ich einen Artikel über meine Spurensuche nach Willi Sitte geschrieben hab.
L: Deinem Urgroßonkel.
A: Genau. Der war ein berühmter DDR-Maler und Funktionär, und in dem Jahr stand Willi Sittes 100. Geburtstag an. Damals hatte ich gerade erst angefangen, journalistisch zu arbeiten, und einfach nach einem Thema gesucht – und Willi Sitte hatte mich interessiert, weil ich ihn nie kennengelernt habe. Die Intention war also nicht allein, etwas über die DDR zu erfahren.
L: Welche Rolle hat Ostdeutschland damals für dich gespielt?
A: Bis zu dem Zeitpunkt noch gar keine! Das hat sich dann alles geändert, als ich mich tiefer mit der Geschichte der DDR beschäftigte und mehr als Weggezogener durch meine Heimat gereist bin. Aber ich muss gerade an einen Moment denken, zu Beginn meiner Recherchen, da hatte ich ein Interview mit so einer Journalistin, die mich gefragt hat, wie ich das eigentlich finde, dass immer mehr ostdeutsche junge Menschen sich auf Ostdeutschland berufen.
L: Und was hast du ihr gesagt?
„Die haben doch n’ Schuss”
A: „Die haben doch n’ Schuss”, habe ich in Harzer Direktheit gesagt und höre dabei heute meinen Vater aus mir sprechen. Ich habe genau das gezeigt, was ich heute immer wieder bei Gesprächspartner:innen als Abwehrhaltung bemerke: Die Kategorien Ost und West spielen keine Rolle, weil sie keine Rolle mehr spielen sollen. Heute scheint das für mich unvorstellbar, aber das war vor wenigen Jahren noch meine Haltung.
L: Klingt nach einem Moment der inneren Dissonanz. Wenn man sich überlegt, dass du ja gerade selbst angefangen hattest, dich damit auseinanderzusetzen.
A: Den gab es auf jeden Fall. So ein Gefühl von „Hier ist was“, obwohl bis dahin alle behauptet hatten, dass da nichts sei. Vielleicht musste ich deswegen auch erst so abblocken.
L: Ich finde aber bemerkenswert, dass du dann mit einer Steigerung von Neugierde reagiert hast. Bei mir war das, glaube ich, erstmal andersrum.
A: Wie meinst du das?
L: Naja, auf der einen Seite war da diese allgemeine Annahme, dass die ostdeutsche Vergangenheit mehr passé und mehr vergangen ist als andere Vergangenheiten. Und dann denkt man sich als Teenager: Was soll ich mich jetzt mit dieser Vergangenheit auseinandersetzen, über die ich mich dann mit niemandem unterhalten kann, beziehungsweise denkt man das nicht bewusst, man hat halt einfach einen blinden Fleck im Zeitstrahl. Und gleichzeitig habe ich durch die Witze über Ostdeutsche und den sächsischen Dialekt zum Beispiel – oder durch die selbstverständliche Annahme, dass man von Hamburg aus zum Studieren in eine andere westdeutsche Stadt zieht – ja unweigerlich mitbekommen, dass der Osten in der gesamtdeutschen Wahrnehmung weniger wertgeschätzt wird. Nur ohne es komplett zu durchblicken. Und das hat bei mir erst mal eine Berührungsangst ausgelöst, den Gedanken: Oh Gott, ich könnte hier die ganze Zeit etwas Falsches sagen.
A: Und deswegen zögerst du heute, einen Text zum Thema zu schreiben? Aus Angst, was Falsches zu sagen?
L: Klar, die geht damit ja einher, also mit dem Gefühl, sich nicht auszukennen.
A: Mir kommt es manchmal aber auch so vor, als könnte man es Ostdeutschen als Westdeutsche ohnehin nicht recht machen.
L: Wie ermutigend…
A: Erinnerst du dich daran, als wir mit meiner Freundin Mathilda zu einer Veranstaltung über Interner Link: Christa Wolf im Regio von Berlin nach Magdeburg saßen und Mathilda etwas zu laut gefragt hat, ob die FDJ eigentlich in der Nazizeit oder in der DDR existiert hat? Ein ganzer Vierersitz ostdeutscher Boomer hat sich zu ihr umgedreht, richtig böse geguckt, zwar nichts gesagt, dafür aber kollektiv beschämend mit dem Kopf geschüttelt.
L: Wie könnte ich das vergessen.
A: Und Mathilda, die ja wie du aus dem Westen kommt, hatte das mit der FDJ nur gefragt, weil es im Nationalsozialismus und in der DDR gefühlt eine Million Abkürzungen gab und sie „Der geteilte Himmel“ gelesen hat. Worüber wir uns davor ja sogar noch hörbar unterhalten hatten. Aber diese vier Ostler haben in dem Moment nur das totale Klischee wahrgenommen: Die arroganten Wessis, die in der ostdeutschen Eisenbahn ihre vierzig Jahre schlecht reden wollen. Da war gar kein Versuch, das Positive in der Situation zu sehen.
L: Zum Beispiel, dass wir nach Sachsen-Anhalt gefahren sind.
A: Genau, und das freiwillig!
L: Und vor allem für eine Literaturveranstaltung über eine DDR-Autorin.
A: Viele junge Westdeutsche wissen ja nicht einmal, dass es dieses Bundesland überhaupt gibt. Ich glaube, wir müssen, wenn es um Ost – und Westdeutschland geht, generell vom absoluten Unwissen des Gegenübers ausgehen, um nicht ständig frustriert zu sein. Wann warst du eigentlich das erste Mal im Osten?
L: Das war 2016, kurz nach dem Abi, in Mecklenburg-Vorpommern. Dort hatte ich mit meinem ersten Freund einen Sommerjob in einem Hotel.
A: Und hat das deine Perspektive auf den Osten verändert?
L: Nicht sofort. Es war für mich nicht nur das erste Mal Osten, sondern auch das erste Mal Gastro-Arbeit und Leben außerhalb der Großstadt; das Hotel lag direkt an einem See in der Nähe von Waren an der Müritz, und wir waren für ein paar Wochen in der Mitarbeitenden-Unterkunft daneben untergebracht, um die herum es außer Grashalmen und Rentnern auf E-Bikes nichts so richtig gab. Das hat mich am Anfang mehr beschäftigt. Die Frage nach Unterschieden zwischen Ost- und Westdeutschland hat sich mir dann eigentlich eher durch die Reaktionen meines Umfelds in Hamburg aufgedrängt.
A: Wie hat das denn reagiert?
L: Na ja, mit so einem: Ah, krass. Jetzt also im Osten. Und, wie ist es? Eventuell kam noch irgendein Witz. Die Menschen um mich herum sind einfach davon ausgegangen, dass ich gerade eine weniger gute Zeit haben muss als sonst. Und ich habe schnell gemerkt, welche Erzählungen auf Resonanz treffen; dass ich zum Beispiel auf die Info, dass der Typ an der Rezeption René hieß oder dass es einen Ronny in der Küche gab, allgemeines Schmunzeln geerntet habe.
A: Ja, das ist ja auch lustig!
„Die ganze Palette an Ostdeutschland-Klischees“
L: Aber mir war nicht richtig klar, warum. Ich habe nur gemerkt: Das kommt gut an und habe meine Erzählungen dann Stück für Stück angepasst. In der Zeit ist auch ein Slam-Text entstanden, an den ich mich zum Glück nicht mehr en détail erinnere. Aber ich weiß, dass ich mich der ganzen Palette an Ostdeutschland-Klischees bedient habe, um beim Hamburger Publikum zu punkten. Hat auch funktioniert, weil die Leute ja dazu erzogen waren, das lustig zu finden. A: Ich will da nur kurz einwerfen: Ich mache das teils immer noch. Dass ich in Texten automatisch die Dinge berichte, die ich als witzig beobachtet habe. Ortsnamen zum Beispiel. Wenn ich ein provinzielles Bild kreieren will, klingt es viel witziger, auch ein bisschen armseliger und kleiner, zu sagen: Ich gehe nach Kleinroda in Thüringen, als: Ich fahre nach Eschwege in Hessen. Egal, wie schön es dort in Wahrheit aussieht: Wenn man in einem Text in die ostdeutsche Provinz fährt, fährt man ins Hinterland. So wie bei „Willkommen bei den Sch’tis!” Dieser französische Film, in dem ein Mann statt wie gewünscht in den Süden Frankreichs in den als derb und primitiv verschmähten Norden, ins Nord-Pas-de-Calais geschickt wird, in dem die Menschen mit einem komischen Dialekt sprechen. Kennst du den Film?
L: Ja!
A: Ja, und genau so wie der Protagonist erzählt man dann zuhause, wie schlimm das alles bei den Sch’tis in Thüringen ist, damit man auch zumindest ein bisschen Anerkennung bekommt dafür, dass man als mutiger Mensch dort hinfährt und sich den Eingeborenen stellt.
L: Und irgendwann weiß man gar nicht mehr, zumindest ging mir das so: Welche Dinge erzähle ich gerade, um die Realität wiederzugeben, und welche, um zu unterhalten?
A: Hast du denn Situationen in deinem Text erfunden?
L: Nein, keine einzige. Der Typ an der Rezeption war tatsächlich ein etwas chauvinistischer Bodybuilder, dem in der Küche jeden Morgen zehn hartgekochte Eier für’s Frühstück zurückgelegt wurden. Und Jenny aus dem Housekeeping war tatsächlich eine sehr junge Mutter, die Doppelschichten gemacht hat. Und auf die Frage „Wie geht’s?” wurde tatsächlich meistens mit „Muss ja, ne” geantwortet. Und als ich mich damals auf ein Freiwilliges Kulturelles Jahr in Ruanda beworben hab, gab’s auch tatsächlich einen Haufen rassistischer Kommentare aus der Küche. Mein damaliger Freund wurde tatsächlich im Regio ermahnt, seinen Antifa-Pulli auf links zu drehen, wenn er heil zurück nach Hamburg kommen will – all das habe ich mir ja nicht böswillig ausgedacht.
A: Aber hättest du diese Dinge auch herausgestellt, wenn sie dir in einer Kleinstadt in Schleswig-Holstein passiert wären?
L: Das kann ich nicht sagen. Sie sind mir in einer Kleinstadt in Schleswig-Holstein eben nicht passiert.
A: Stimmt.
L: Aber natürlich habe ich unbedacht Bilder reproduziert. Ich habe das historisch ja gar nicht durchblickt, habe die Neunziger nicht mitbekommen, konnte mit dem Begriff “Baseballschlägerjahre” noch nichts anfangen. Ich habe nur, vor allem durch die ersten zwei Jahre Poetry-Slam, aufgeschnappt: Ah, okay. Ostdeutschland ist lustig, weil arm, dumm und rechts, das ist ein safer Lacher. In der Anmoderation für diesen Slam-Text zum Beispiel habe ich oft eine Klimax eingebaut, um die Leute einzustimmen. Ich meinte dann immer „Hi, ich bin Lucia, und ich arbeite zurzeit in einem Hotel… auf dem Land… in Meck-Pomm” und auf „Meck-Pomm” wurde verlässlich gelacht, weil alle wussten: Das hier ist ein „schlimm, schlimmer, am schlimmsten”.
A: Dabei hätte es das ja eigentlich gar nicht sein müssen. Die mecklenburgische Seenplatte gehört als Region zu den schönsten Gegenden Deutschlands.
L: Ja, voll! Ein französisches Publikum hätte vielleicht sogar eine Positiv-Steigerung darin gehört. Ein Hotel – mitten in der Natur – einer beliebten Region für Vogelliebhaber!
A: Es ist so ein bisschen wie das Lachen, wenn man bei Poetry-Slams in Berlin Spandau erwähnt.
L: Das verselbstständigt sich. Wie auch all die Witze über die FDP.
A: Oder die CDU. Aber da weiß man bei Poetry-Slams ja immer, woran es liegt. Hast du dich das bei deinem Text über den Osten damals gefragt?
L: Nicht ausreichend. Was genau so problematisch an diesem Text war, habe ich eigentlich erst zwei, drei Jahre später begriffen. Ich hätte ihn aber auch damals schon nicht vor einem ostdeutschen Publikum gelesen – was ja eigentlich immer ein klarer Indikator dafür ist, dass man unsensiblen Müll geschrieben hat.
A: Vielleicht hätten Teile des ostdeutschen Publikums zu der Zeit aber auch mitgelacht. Ich glaube, dass viele Ostdeutsche ohne Humor gar nicht klarkommen würden. Meine erste Auseinandersetzung mit dem Osten fand ehrlich gesagt auch über Humor statt. Der Osten war ja, als wir Abi gemacht haben, schon so krass mit Ausländerfeindlichkeit und Pegida und dem Erstarken der AfD verbunden.
L: Und durch Humor konntest du dich davon distanzieren?
A: Irgendwie schon. Als ich in meine erste WG in Berlin gezogen bin, war ich der einzige aus dem Osten und habe oft betont schlechtes Sächsisch gesprochen oder große Mengen Bananen auf die Einkaufswunschliste der WG geschrieben. Ich wollte das so ein bisschen ins Lächerliche ziehen. Für mich war es leichter, über meine Heimat zu sprechen, indem ich Witze über sie machte.
Guck mal, die! So sind wir nicht!
L: Ich glaube auch, dass diese krasse Humorkeule, die Mitte der 2010er Jahre nochmal aus der westdeutschen Kulturszene heraus in Richtung Osten geschwungen wurde, vielleicht der Versuch war, den Rechtsruck auf Abstand zur eigenen Identität zu halten.
A: … dabei schwebte vermutlich über jedem Gespräch über Pegida und später die hohen Wahlergebnisse der AfD die Angst, dass das Ganze auch im Westen so schlimm wird.
L: Aber statt darüber zu reden, wurde das Problem durch aggressive Witze ausgelagert: Guck mal, die! So sind wir nicht!
A: Deswegen hat man sich bei deinem Text über diese Gelegenheit, über den Osten zu lachen, gefreut. Wie bist du eigentlich an diese Stelle geraten?
L: Sehr westdeutsch: Über Vetternwirtschaft. Das Hotel gehörte einem Kollegen meines Stiefvaters, und ich brauchte dringend Geld für eine Kubareise.
A: Heißt, das fancy Hotel in Meck-Pomm gehörte einem Hamburger…
L: Jap. Und die Gäste, die in ihren weißen Bademänteln durch den Spa-Bereich mit Seeblick geschlappt sind, waren überwiegend westdeutsche Paare in ihren Fünfzigern.
A: Das ist, als hättest du ChatGPT gebeten, eine Allegorie für die Einkommensschere zwischen Ost und West zu schreiben.
L: Hinzu kommt, dass ich 3,50 Euro mehr die Stunde verdient habe als manche Angestellte dort. Obwohl ich achtzehn war, keine Gastro-Erfahrungen hatte und allen anderen wahrscheinlich vor allem ungünstig im Weg stand. A: Wusstest du das mit dem Geld von Anfang an?
L: Ich hatte es nicht schwarz auf weiß, aber mir wurde bei der Vertragsunterzeichnung ans Herz gelegt, nicht über Geld zu sprechen, weil das für Unmut sorgen könnte. Irgendwann haben Kolleginnen sich dann über den damals noch geltenden Mindestlohn von 8,50 Euro ausgelassen, und ich habe selbst eins und eins zusammengezählt.
A: Aber sowas zum Beispiel – genau sowas könnten wir ja erzählen. Diese Unterschiede in unseren Erfahrungen.
L: Zur Feier des Tags der Deutschen Einheit ein uneinheitliches Gespräch – finde ich eigentlich schön!
A: Ja, und keiner hat Recht.
L: Oder das letzte Wort.
Aron: Genau! Und der Feiertag würde auch ganz anders heißen. Vielleicht Tag der Deutschen…
Lucia: ...Zweiheit?