„Neun Wessis freuen sich, dass die Einheit so gut vollzogen wurde. Cool.“, schreibt ein User. Eine andere kommentiert: „Soll der Wandel vorwärts oder rückwärts vollzogen werden?“ und die meisten Likes erhält jemand, der die naheliegende Frage stellt: „Gibt’s auch Menschen aus Ostdeutschland auf dem Bild?“
Ein Foto, das Saarland und kein Osten 35 Jahre nach der Einheit. Ein Rückblick auf den 3. Oktober 2025. Und Ausblick auf den 3. Oktober 2030
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Im Rückblick auf das 35-jährige Jubiläum der Deutschen Einheit zeigt sich, dass es nach wie vor tonangebend der Westen ist, der vorgibt, wie wir die Einheit feiern. Ostdeutsche? Fehlanzeige. Marieke Reimann kommentiert, wie hierdurch jedes Jahr eine Chance auf einende Erinnerungskultur vertan wird, die gerade jetzt wichtig wäre. Ein Kommentar.
Ehrengäste aus dem Westen beim Festakt zum 35. Tag der Deutschen Einheit in Saarbrücken: die saarländische Ministerpräsidentin Anke Rehlinger (ohne Partner), der Fernsehmoderator Jörg Pilawa und Bundestagspräsidentin Julia Klöckner, Elke Büdenbender und Bundestagspräsident Frank-Walter Steinmeier, Charlotte Merz und Bundeskanzler Friedrich Merz (CDU), Juliane Harbarth und Verfassungsgerichtspräsident Stephan Harbarth. Und aus dem Osten? (© picture-alliance, dts-Agentur)
Schon am Nachmittag des 3. Oktober 2025, dem 35. Jahrestag der Deutschen Einheit, war ein Foto durchs Netz geflogen, das viele Ostdeutsche in dem, was sie eh in Bezug auf Einheitsfeiern fühlen, bestätigt haben mag: lieb gemeint, schlecht durchdacht. In diesem Sinne posteten auch die Social-Media-Kanäle des Bundespräsidenten, des Bundeskanzlers, des Bundesrats und der Bundestagspräsidentin ein Gruppenbild, auf dem sich, so fasste es das Netz Meme-würdig zusammen: „Mehr Quizmaster als Ostdeutsche“ befanden.
Aufgereiht vor der Saarbrücker Ludwigskirche, in der zuvor ein ökumenischer Gottesdienst anlässlich der Feierlichkeiten zum Tag der Deutschen Einheit stattgefunden hatte, standen neun Personen für offizielle Pressefotos bereit. Von links nach rechts sah man: Anke Rehlinger, Ministerpräsidentin des Saarlandes, Jörg Pilawa, Lebensgefährte von Julia Klöckner, Bundestagspräsidentin und direkt neben ihm stehend, daneben Elke Büdenbender, Ehefrau des Bundespräsidenten Frank-Walter Steinmeier, dann den Bundespräsidenten selbst, daneben Charlotte Merz, Ehefrau von Kanzler Friedrich Merz und ihn selbst, dann Juliane Harbarth, Ehefrau des Präsidenten des Bundesverfassungsgerichts Stephan Harbarth, der die Reihe nach außen komplettierte.
Für manche Ostdeutsche zu westlich geprägt, der Festakt zum Tag 35. der Deutschen Einheit am 3. Oktober 2025, diesmal in Saarbrücken. Hier unter den Ehrengästen Bundestagsvizepräsidentin Julia Klöckner und der Fernsehmoderator Jörg Pilawa bei ihrem ersten gemeinsamen öffentlichen Auftritt, scherzend mit Bundeskanzler Friedrich Merz (CDU). (© picture-alliance)
Für manche Ostdeutsche zu westlich geprägt, der Festakt zum Tag 35. der Deutschen Einheit am 3. Oktober 2025, diesmal in Saarbrücken. Hier unter den Ehrengästen Bundestagsvizepräsidentin Julia Klöckner und der Fernsehmoderator Jörg Pilawa bei ihrem ersten gemeinsamen öffentlichen Auftritt, scherzend mit Bundeskanzler Friedrich Merz (CDU). (© picture-alliance)
User*innen störten sich nicht nur daran, dass sich Moderator Pilawa auf einem Foto mit den höchsten Würdenträgern des Landes ablichten ließ. Noch irritierender war: Nach 35 Jahren Einheit hatte es so zwar ein Quizmaster, aber kein Ostdeutscher auf das offizielle Foto zum Jubiläum der Wiedervereinigung geschafft. Traurigerweise wurde damit eine Tradition offizieller Einheitsbilder ohne Ostdeutsche fortgesetzt. Denn exakt solche Bilder hatte es bereits bei Feierlichkeiten zu vorherigen Wende-Jubiläen gegeben. 2025 sollte hier nun keine Ausnahme machen.
Die fehlende Repräsentanz zeigt sich auch jenseits symbolischer Fotos. Erst Ende September hatte Elisabeth Kaiser, die Ostbeauftragte der Bundesregierung, den aktuellen Elitenmonitor vorgestellt. Eine Studie, die untersucht, welche sozialen Gruppen in Führungsetagen repräsentiert sind. Sie zeigt: Bei rund 20 Prozent Ostdeutschen in der Bevölkerung lag der Anteil ostdeutscher Führungskräfte lediglich bei 12,1 Prozent. 2022 lag er bei 12, es tut sich also wenig.
Der Elitenmonitor zeigt auch, dass keine Führungskraft der 100 größten deutschen Unternehmen aus dem Osten stammt. In der Bundeswehr gibt es gar kein gehobenes, ostdeutsches Führungspersonal. In Justiz, Kultur und Medien sieht es ebenfalls mager aus. Einzig in der Politik gelang ein Anstieg ostdeutsch geprägter Führungspersonen auf über 21 Prozent.
Ost-West-Repräsentation nicht richtig bedacht?
Der Saarbrücker Foto-Fauxpas also eine Folge eines strukturellen Dilemmas? Man muss es vermuten und davon ausgehen, dass einer Person mit Ost-Biografie entweder unter den abgebildeten Würdenträgern selbst oder aber spätestens in deren Kommunikationsteams hätte auffallen müssen, dass zur Repräsentation des Tags der Deutschen Einheit auch Ostdeutsche selbstverständlich auf offiziellen Bildern stattfinden sollten. Es geht hier um Repräsentation und Sichtbarkeit, zwei wichtige Säulen einer wiedervereinigten Erinnerungskultur. Wenn aber keine Ostdeutschen anwesend sind, um Abwesenheit zu benennen, denkt offensichtlich auch niemand anderes daran.
Vielleicht wäre das viral gegangene Bild einigermaßen verkraftbar gewesen, wenn der östliche Anteil, der ja zumindest die Hälfte dieser Wiedervereinigung ausmacht, anderswo im Festakt selbst eine tragende Rolle gespielt hätte. Ich nehme es vorweg: hat er nicht, so mein Eindruck.
Das die Einheitsfeier ausrichtende Saarland mühte sich redlich, in den Wochen rund um den 3. Oktober Parallelen zwischen dem kleinsten Flächenland und den fünf östlichen Bundesländern herzustellen – in Bezügen, die bislang kaum im öffentlichen Diskurs vorkamen. Es wirkte oft, als brauche man plötzlich eine Argumentationsgrundlage für die Ausrichtung der Einheitsfeier in Saarbrücken, die kaum weiter entfernt hätte stattfinden können vom Osten und der Lebensrealität vieler Ostdeutscher.
Nun kann das Saarland nichts für den Turnus der Einheitsfeiern, der sich traditionell nach dem Vorsitz des Bundesrates richtet. Doch zum 35. Jahrestag eine Erinnerungskultur zu etablieren, die tatsächlich eint und alle meint, wäre angebracht gewesen. Diese Schieflage zwischen bemühtem Gleichklang und realer Differenz zeigte sich auch in der Gestaltung der Feierlichkeiten. Zwar gab es in der Saarbrücker Innenstadt ein Bürgerfest mit Infoständen, Musik und Futtermeile. Doch in den Pavillons der Bundesregierung und des Bundesrats, die ebenfalls vertreten waren, suchte man am 3. Oktober vergeblich nach Beiträgen aus Ostdeutschland. Redner*innen mit ostdeutscher Biografie hatte man offenbar nicht explizit eingeplant – weder dort noch beim offiziellen Festakt in der Congresshalle.
Anhaltende Westsicht auf die Vereinigung zweier Gesellschaften
Der Fernsehsender Phoenix, der die Veranstaltung live übertrug, nahm die inhaltliche Schlagseite des Tages bereits in der Anmoderation vorweg, als er den Festakt als „ganz im Sinne der deutsch-französischen Freundschaft“ einleitete. Diese Freundschaft ist gewiss ein Grund zur Freude – aber ausgerechnet an einem Tag, der sinnbildlich für die Verbindung zwischen West und Ost steht?
Festredner beim Tag der Deutschen Einheit: Frankreichs Staatspräsident Emmanuel Macron neben Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier.
Aufnahmedatum 03.10.2025
Bildnachweis picture alliance / dts-Agentur | (© picture-alliance, dts-Agentur)
Festredner beim Tag der Deutschen Einheit: Frankreichs Staatspräsident Emmanuel Macron neben Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier.
Aufnahmedatum 03.10.2025
Bildnachweis picture alliance / dts-Agentur | (© picture-alliance, dts-Agentur)
Dass mit Emmanuel Macron der französische Staatschef als Ehrengast sprach, veranlasste selbst Altkanzlerin Angela Merkel zu der Bemerkung: „Vielleicht hätte man auch jemanden aus Osteuropa oder aus Ostdeutschland als Gastredner nehmen können, anlässlich von 35 Jahren Deutscher Einheit.“
Grotesk war auch, dass immer wieder vermeintliche Parallelen zwischen dem ehemaligen Bergbaugebiet Saarland und den ostdeutschen Transformationsregionen gezogen wurden – was Ministerpräsidentin Rehlinger in ihrer Festrede sogar dazu hinreißen ließ, zu sagen: „Übrigens gehören wir erst seit 1957 zur Bundesrepublik, was uns zum jüngsten der alten Bundesländer macht. Wenn man so will, haben wir die Wiedervereinigung im Kleinen schon einmal geprobt, und wir finden, es ist ganz gut gelungen.“
Dabei völlig außer Acht zu lassen, dass sich die wirtschaftliche Entwicklung des Saarlandes im Rückenwind der westdeutschen Marktwirtschaft vollzog, während der Osten in den 1990er-Jahren einen tiefgreifenden Strukturbruch durchlebte, grenzt an historische Naivität. Einen Vergleich mit der durch die DDR-Bürger*innen selbst errungenen Friedlichen Revolution mit dem Prozess des „Saarvertrags“ in den 1950ern anzudeuten, negiert nahezu den Mut, den die Menschen der DDR aufbringen mussten, um eine Diktatur zu überwinden. Mut, von dem die Ministerpräsidentin zu Beginn ihrer Rede noch gesprochen hatte, als sie sagte: „Ohne Sie [die DDR-Bürger] wären wir heute nicht hier. Wir verneigen uns vor diesem Mut.“
Sich irgendwann selbst erledigende Lappalien?
Zwar deuteten sowohl Anke Rehlinger als auch Kanzler Merz in seiner Rede nach ihr noch vorhandene strukturelle Unterschiede an, wurden dabei aber nicht nur nicht konkret, sondern man musste den Eindruck gewinnen, dass es sich bei den wirtschaftlichen Ungleichheiten um sich irgendwann selbst erledigende Lappalien handele. Das Gegenteil ist der Fall: 35 Jahre nach der Wende verdienen Ostdeutsche gut 17 Prozent weniger im Monat, haben Westdeutsche das doppelte Haushaltsvermögen, werden nur zwei Prozent der Erbschaftssteuer im Osten abgerufen, gelangen Ostdeutsche nach wie vor viel seltener in Führungspositionen, arbeiten aber pro Jahr etwa 52 Stunden mehr als Westdeutsche.
Für einen Diskurs auf Augenhöhe wäre es in diesem Moment des Feierns und Erinnerns wichtig gewesen, hätte der Kanzler an die Ostdeutschen selbst gewandt genaue, wirtschaftliche Ungleichheiten benannt und am besten glaubwürdig formuliert, wie er sie beseitigen möchte. Stattdessen hielt Friedrich Merz eine, wie die Süddeutsche Zeitung resümierte „Leistungsrede statt einer Einheitsrede“. Ein Kanzler, dem es bislang nicht gelungen ist, im Osten des Landes Sympathien zu gewinnen, hätte diese Gelegenheit des Wendejubiläums gut für sich nutzen können, um von Mecklenburg bis Thüringen zu punkten – gerade vor dem Hintergrund aktueller Wahlprognosen in einschlägigen Sonntagsfragen
Was auch fehlte? Künstler*innen, die während des Festakts Kultur aus dem Osten hätten repräsentieren können. Stattdessen traten ein saarländischer Rapper, das saarländische Staatsorchester, ein saarländisch-französischer Kinderchor und eine saarländische Jazzmusikerin auf. Nur einmal gelang ein wirklich verbindender Moment: als das Ballett der Semperoper Dresden gemeinsam mit dem Saarländischen Staatsballett eine Choreografie zu einem Werk des polnischen Komponisten Wojciech Kilar aufführte. Am Ende blieb der bittere Beigeschmack, dass das Saarland die Gunst der Stunde nutzte, um sich selbst zu inszenieren – nicht aber, um eine Einheitsfeier auszurichten, die beide Seiten sichtbar und spürbar miteinander verbunden hätte.
Das, was man auf politischer Seite versäumte, gelang in der Presse besser. Zwar zeigt sich die mediale Übermacht des Westens weiterhin deutlich – in den Strukturen überregionaler Redaktionen, in der Verlagslandschaft, in den Chefetagen, in denen kaum jemand mit Ostbiografie sitzt. Doch immerhin wächst in den vergangenen Jahren das Interesse westdeutscher Medien an ostdeutschen Themen. Noch konzentriert sich diese Aufmerksamkeit vor allem auf Krisen, Wahlen oder, wie aktuell, auf die Jubiläumsberichterstattung zum Tag der Deutschen Einheit. Jedoch die Formate ändern sich, zum Glück. So bekommen neben den obligatorischen Einheits-Kommentaren, die gewichtige Personen hinterfragen lassen, wie wiedervereinigt wir wirklich sind, zunehmend auch Themen Platz, die lange vernachlässigt wurden.
Auf der Suche nach einem Osten, der auf Augenhöhe erzählt wird
Filmische Entdeckungsreisen wie die ZDF-Doku-Reihe „Großes Tennis – Made in East Germany“ stechen hier endlich einmal mit anderer Perspektive hervor: Das Format erzählt von Profi-Sportler*innen, die großes Talent hatten, aber keine Förderung erhielten und denen es daher verwehrt blieb, so erfolgreich zu werden wie gleichaltrige West-Stars. Solche Serien zeigen einen Osten, der auf Augenhöhe erzählt wird – fernab von Reportagen über Neonazis, Stasi und Mauer, die gleichsam wichtig sind, aber eben nur einen Teil des Ostens beleuchten. Einen Osten, den es eben auch gab – und immer noch gibt. Und das präsenter als je zuvor: Das, was der
Gleichzeitig zeigt es das, was auch eine um den Feiertag herum veröffentlichte Forsa-Umfrage der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur in Berlin deutlich macht: Vom „Wir sind eins“-Gefühl entfernen sich die Deutschen. Nur noch 35 Prozent der Befragten sehen Ost und West als „weitgehend zusammengewachsen“ – damit fällt der Trend zurück auf einen Tiefstand wie vor rund 20 Jahren.
Vor allem im Osten glauben demnach nur 23 Prozent, dass die Deutschen seit 1990 ein Volk geworden sind. Die wirtschaftliche Schieflage gepaart mit misslungenen Transformationserfahrungen und erheblichen Biografiebrüchen ruft vor allem bei älteren Ostdeutschen kein „Wir-Gefühl“ hervor. Nur 25 Prozent der über 60-Jährigen empfinden das Land als zusammengewachsen.
Demonstrierende im Herbst 1989 in Leipzig. Was ist aus ihren Träumen geworden? (© Holger Kulick)
Und 2030 beim 40. Jahrestag?
Wie ließe sich das bis zum 40. Jahrestag der Wiedervereinigung verbessern? Endlich durch mehr Repräsentanz Ostdeutscher in Führungsetagen und Biografien die öffentlich, ostdeutsch erfolgreich sind. Die als Vorbilder und Orientierungspunkte dienen könnten. Durch ein klares Benennen struktureller Ungleichheit und das erkennbare Bemühen, diese wirklich zu beseitigen. Durch ein Aufwerten von Ost-Kultur, die auch im Westen auf Augenhöhe erzählt wird. Durch eine Erinnerungskultur, die gemeinschaftlich erarbeitet wird – und auch fernab vom 3. Oktober ihren Platz in der Mitte der Gesellschaft findet. Die zeigt, dass der Osten kein historisches Kapitel ist, das man schließen kann, sondern ein Teil der Gegenwart, der gesehen werden will. Den man auch im Kontext von Einheitsfeiern benennen müsste, der auf Bildern wie jenem vor der Saarbrücker Ludwigskirche aber bislang fehlt – und dessen Abwesenheit laut spricht.
Zitierweise: Marieke Reimann, „Ein Foto, das Saarland und kein Osten", in: Deutschland Archiv, 20.10.2025, Link: www.bpb.de/571836. Alle Beiträge im Deutschland Archiv sind Recherchen und Sichtweisen der jeweiligen Autoren und Autorinnen, sie stellen keine Meinungsäußerung der bpb dar. (hk)
Ergänzend:
Marcus Böick,
Raj Kollmorgen,
Lucia Lucia und Aaron Boks,
Sarah Kaschuba,
Nine-Christine Müller,
Marko Martin,
Thomas Krüger,
Steffen Mau,
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Journalistin und Autorin, geb. 1987 in Rostock, studierte Medienwissenschaft und Journalismus in Ilmenau und München. Sie war von 2018 bis 2020 Chefredakteurin des Magazins ze.tt der Hamburger Wochenzeitung Die Zeit. Von 2021 bis 2024 war Reimann die Zweite Chefredakteurin des SWR und leitete 2023 bis 2024 zudem die ARD Chefredakteurskonferenz. Den SWR verließ sie als erste ostdeutsche Chefredakteurin einer Rundfunkanstalt im ehemaligen Westen Deutschlands Ende 2024 auf eigenen Wunsch