„Der andere Planet“ und das „Sehnsuchtsland“
Zeitzeugenberichte über die DDR und Frankreich – ein Blick auf persönliche Begegnungen
Dorothee Röseberg
/ 14 Minuten zu lesen
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Die DDR - ein Ort persönlicher deutsch-französischer Begegnungen? Warum reisten Französinnen und Franzosen in dieses Land, und wie werden diese Austauschbeziehungen heute von beiden Seiten erinnert?
1. Zeitzeugenberichte: Überraschendes und Gemeinsames
Zeitzeugenberichte, die im Rahmen eines Projekts zur Erinnerungskultur Frankreich-DDR der Koordinierungsstelle Ostdeutschland-Frankreich e.V. (KOF) erhoben wurden, brachten überraschende Ergebnisse zutage. Die Erlebnisse wurden in den vergangenen Jahren sowohl bei Französinnen und Franzosen als auch bei Ostdeutschen erhoben, das Interesse galt vor allem ihren Erinnerungen an persönliche Begegnungen in der Zeit des Kalten Krieges. Vielfältiger als angenommen waren die Motivationen und die Reiseanlässe derjenigen, die zwischen 1950 und 1989 aus Frankreich kommend in die DDR fuhren. Entgegen verbreiteter Annahmen waren keineswegs alle Reisenden überzeugte Sozialisten oder Kommunisten. Ihre Berichte fördern bislang wenig Bekanntes zu Tage. Persönliche Begegnungen hat es demzufolge mehr gegeben als es heute vorstellbar ist, davon viele in der DDR. Welche Rolle spielten diese Begegnungen zum Beispiel für diejenigen, die das Französische in der DDR zu ihrem Beruf gemacht hatten?
1.1 Exotik und das Thema Grenze
Begegnungserfahrungen aus der Zeit des Kalten Krieges werden heute von französischer und ostdeutscher Seite als etwas Besonderes, Exotisches erzählt. Über allem schwebt die Aura eines untergegangenen Landes und einer Ära, die es nicht mehr gibt. Typologisch für die französische Seite ist die Aussage: „Der Grenzübergang Helmstedt-Marienborn markierte das Ankommen auf einem anderen Planeten.“ Auf deutscher Seite heißt es: „Ich hatte immer so eine Sehnsucht nach Frankreich. Das war so, als wäre das eine große Schwester.“
Der andere Planet und das Sehnsuchtsland, dieses Gegensatzpaar trifft den Kern der wechselseitigen Wahrnehmungen. Die Ferne des Anderen ist bei beiden Perspektiven präsent. Doch die Rede vom Sehnsuchtsland Frankreich macht zugleich eine mentale Nähe erkennbar. In keinem der französischen Zeitzeugenberichte wird die DDR als Sehnsuchtsland bezeichnet. Das gilt auch für diejenigen, die sich zum Sozialismus bekennen.
Gemeinsam ist den Berichten das Thema Grenze. Nur wenn kommunistische Einstellungen dominieren, ist davon kaum die Rede. Aus französischer Sicht nimmt das Überschreiten der Grenze in den Erzählungen epische Formen an. Durch eine Vielzahl sinnlicher Eindrücke sind diese Grenzerinnerungen erstaunlich lebendig und prägnant: verplombte Militärzüge, grelles Licht auf den Bahnsteigen, schrill anmutende Stimmen, die ein Aussteigen verbieten, unbewegliche, angsteinflößende Gesichter der Grenzpolizisten, Hunde als Wachposten. Das zeichnet für die französischen Zeitzeugen das System DDR aus.
In den ostdeutschen Zeitzeugenberichten wird die Undurchlässigkeit der Grenze thematisiert. Wenn sie einmal überschritten werden darf, dann spielen die Bedingungen zur Grenzüberwindung kaum eine Rolle. Die ganze Aufmerksamkeit gilt dem Ziel, dem Erreichen des ersehnten Landes. Was die Zeitzeugenberichte an dieser Stelle so wertvoll macht, ist ihre Anschaulichkeit und Emotionalität. Sie bringen nahe, was nicht vergessen werden darf: was es für Menschen bedeutete, mit dieser Grenze zu leben.
1.2 Drei wichtige Begegnungsformen in der DDR
Ostdeutsche einerseits und Französinnen und Franzosen andererseits erzählen in den Berichten von der besonderen und oft langfristigen Bedeutung deutsch-französischer Begegnungen. Dies überrascht angesichts von Reiseverbot und Grenze. Drei Begegnungsformate in der DDR stehen dabei im Zentrum der Berichte: der Kinder- und Jugendaustausch, Brieffreundschaften sowie Begegnungen im Centre culturel français (CCF) Unter den Linden in Berlin.
Der Kinder- und Jugendaustausch sowie Brieffreundschaften sind die wichtigsten ersten Begegnungserfahrungen. Hier kreuzen sich gemeinsame Erlebnisse von Französinnen und Franzosen und DDR-Deutschen. In den Kinder- und Jugendgruppen begegneten sie sich als Teilnehmende, Betreuende oder als Dolmetscherin und Dolmetscher. Ihre gemeinsamen Erinnerungsorte reichen zum Beispiel von Bärenstein in Sachsen, über Berlin bis Golzow in der Nähe von Frankfurt/Oder im heutigen Brandenburg.
1.2.1 „Franzosenlager“
Ferienlager, Schülerbegegnungen, organisiert von DDR-Betrieben oder im Rahmen von Städtepartnerschaften, den Gewerkschaften, der Parti communiste français (PCF) und der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands (SED) – all dies gab es in der DDR. In der Umgangssprache von Schülerinnen und Schülern sowie Studierenden, die mitunter als Betreuende für die Gäste aus Frankreich eingesetzt waren, hießen diese Begegnungen Franzosenlager.
Prominent sind in den Erzählungen vor allem die Reisen, auch 15/15 genannt, weil sie 15 Tage Arbeit und 15 Tage Erholung beinhalteten. Als wichtigste Motivation, an solchen Austauschprogrammen teilzunehmen, wird einvernehmlich der niedrige Preis solcher Reisen betont: 1.400 Francs – was heute rund 200 Euro entspräche – waren für viele erschwinglich. Die DDR-Seite organisierte und bezahlte alles Weitere. Deutsche und französische Betreuungspersonen begleiteten die Kinder und Jugendlichen. Zeitzeuginnen und Zeitzeugen erinnern sich: „Das waren lauter rotzige Lümmel aus dem 20. Arrondissement von Paris, ganz gruselige Burschen, die dabei waren, aber eben auch liebenswerte, aber völlig unerzogene.“
Offensichtlich sind die Erinnerungen nicht nur positiv. „Aber ich hatte dann im Laufe der Zeit, ja auch 1968/69 mit den französischen Jugendlichen wahnsinnig viele Diskussionen (…) über DDR, Sozialismus, darüber, was machen wir hier und so; freiheitliche Diskussionen, mit jungen Leuten, die keine Angst hatten vor der Stasi.“ Man kann mitunter erahnen, welche persönliche Bedeutung solche Treffen für die DDR-Deutschen hatten: „Da konnte man die Enge der DDR schlicht und einfach vergessen; man war dann draußen etwas größer.“ Berichtet wird von intensiven und längeren Freundschaften, auch unter den deutschen und französischen Betreuenden. „In den 1970er-Jahren lernte ich meinen französischen Freund D. kennen und andere französische Jugendliche aus dem linken Kreis. Das waren so christliche Kommunisten.“
Nicht selten waren solche Begegnungen auf deutscher Seite der Anlass, die französische Sprache zu lernen, sei es an der Schule, wenn dies möglich war, oder in den Volkshochschulen, die nicht dem Volksbildungsministerium unterstanden. Dort gab es mehr Spielräume, weshalb sich hier auch Ausreisewillige auf ihre neue Wunschheimat Frankreich vorbereiteten. Auf französischer Seite zeigen die Berichte, dass die Begegnungen wegen der Einblicke in den DDR-Alltag geschätzt wurden. Viele der damaligen Teilnehmenden an den Besuchsprogrammen für Reisen in die DDR kamen aus einfachen finanziellen Verhältnissen, einem mitunter bildungsfernen Umfeld und waren eher apolitisch. Heute sind es für diese ehemaligen Reisenden Jugenderinnerungen, in denen „das Leben gefeiert“ wurde. Sie gingen in Kinos, Theater und Diskos. Noch nie zuvor konnten sie mit ihrem Geld so viel unternehmen. Die positive Stimmung erklärt sich in ihren Erinnerungen auch dadurch, dass sie sich in der DDR gefragt und als etwas Besonderes fühlten. So manche hatten das erste Mal die französische Provinz und ihr Elternhaus verlassen und fühlten sich in der DDR frei (sic!). Diejenigen, meist etwas ältere Schülerinnen und Schüler, die mit linken politischen Vorstellungen in die DDR reisten, berichten auch von Frust: In den organisierten Veranstaltungen hätten sie keine Antworten auf ihre Fragen erhalten, sondern man hätte in schablonenhafter Sprache die Vorzüge des realen Sozialismus gepriesen. Die Betreuerin einer Gruppe junger Trotzkistinnen und Trotzkisten (Medizinstudenten) beschreibt eine Odyssee, als ihre Gruppe beim Abschied auf dem Bahnhof im thüringischen Suhl die rote Fahne schwenkte und die Internationale anstimmte. Polizeieinsatz und Maßregelungen waren die Folge.
1.2.2 Brieffreundschaften
Erinnerungen an viele Brieffreundschaften waren eine weitere Überraschung der Zeitzeugenberichte. Schließlich galt in der DDR weder das Briefgeheimnis, noch waren Westkontakte erwünscht, mitunter sogar verboten. In der langjährigen Geschichte solcher Brieffreundschaften tritt mitunter Kurioses zu Tage. So berichtet ein Zeitzeuge von 50 Brieffreundschaften mit jungen Leuten aus aller Welt. Die erste französische Adresse kam von Novosti, dem sowjetischen Verlag der Zeitschrift Sputnik, der die Adresse des Vertriebspartners in Frankreich veröffentlicht hatte. Die Passion für Fremdsprachen und das Französische führte schließlich zum Beruf des Sprachmittlers und Experten für seltene Sprachen.
In einem anderen Beispiel war es der Großvater, ein ehemaliger Buchenwaldhäftling, der der Enkelin einen französischen Mithäftling als Briefpartner vermittelte. Kontakte ähnlicher Art haben die Enkelin ihr Leben lang begleitet.
Manche Brieffreundschaften gingen nach dem ersten persönlichen Treffen nach 1989 zu Ende. In einem anderen Fall hatten beide Briefpartnerinnen die Parteien, den PCF und die SED, verlassen, als sie sich das erste Mal persönlich trafen. Ihr Austausch hatte für beide tiefgreifende Wirkung. Aus manchen Briefkontakten sind dauerhafte Freundschaften entstanden.
1.2.3 „Die französische Insel in Ostberlin“
Das Centre culturel français (CCF) Unter den Linden, 1984 in der Hauptstadt der DDR eröffnet, erscheint in den Berichten der Zeitzeugen als „andere Welt“, in die man eintauchte, wenn man es betrat. Die dortigen Sprachkurse wurden als „psychotherapeutische Behandlungssitzungen“ erlebt, ohne die „man sonst geistig verhungert“ wäre. Einige kostete es auch Mühe, sich auf westliches Terrain mitten in Ost-Berlin zu begeben:
Zitat
„Es kostete schon eine gewisse Überwindung, als untrainierter DDR-Bürger den Entschluss zu fassen, durch die rechts und links vom Eingang postierten Polizisten den kleinen Schritt über die Schwelle zu machen, sich sozusagen auf ‚feindliches kapitalistisches Terrain‘ zu begeben. Zu wissen, dass man sofort als fragwürdiger Staatsbürger registriert wurde, wenn man eine französische Kultureinrichtung betritt, ist ein beklemmendes Gefühl. Dennoch bin ich jedes Mal mit einem leichten Triumph und innerlich ausgestreckter Zunge dort reingegangen, um einen Sprachkurs zu besuchen.“
Einige Zeitzeugen konfrontierte das CCF auch mit den eigenen Unzulänglichkeiten und der Ungewissheit, ob sie als Lehrende an Schulen oder Universitäten der DDR über Frankreich wohl Richtiges vermittelten. Schließlich hatten die meisten von ihnen dieses Land noch nie gesehen.
2. Reisen zum anderen Planeten
Warum reisten Französinnen und Franzosen in die DDR? Die Zeitzeuginnen und Zeitzeugen geben unterschiedliche politische Einstellungen zu erkennen: antikommunistische, trotzkistische, kommunistische, konservative, christliche und apolitische. Sie spielten für die Reisemotive und Wahrnehmungen eine wichtige Rolle. Drei zentrale Motive und Denkmuster kommen in den Erinnerungen zum Ausdruck.
2.1 „Über die DDR Deutschland besser verstehen“
Nicht wenige suchten und fanden in der DDR das Deutschland, das sie in Frankreich kennengelernt hatten: das janusköpfige Deutschland, das durch Madame de Staël und ihr Buch aus dem Jahr 1813 „Über Deutschland“ („De l’Allemagne“) lebendig geblieben ist. Es ist das Land der Dichter, der Denker, der Musik. Geschwärmt wird von den „alten Orchestern, dem Gewandhaus in Leipzig, der Staatskapelle Dresden“, wo noch die „echte deutsche Musik zu hören war bei Aufführungen in den 1960er- und 1970er-Jahren mit Theo Adam, Peter Schreier u.a.“.
In der DDR machten sie eine „Theaterkur“; das Berliner Ensemble etwa gehörte zum Pflichtprogramm. Dabei kannten diese Reisenden die Bundesrepublik gut, doch erschien sie ihnen seit den 1960er-Jahren zu sehr amerikanisiert. Aber das alte, vertraute Deutschland, das „näher noch an seiner Vorkriegsvergangenheit war als die Bundesrepublik“, das erinnerte auch an den Obrigkeitsstaat Preußen. In keinem anderen bereisten Land des Ostblocks (etwa Polen oder Rumänien) hatten sie den in der DDR oft verwendeten Satz gehört: „Wir haben unsere Vorschriften!“ Auch die Entdeckung, dass DDR-Bürgerinnen und -Bürger privat oder in Kneipen anders redeten als in Betrieben oder in ihren Funktionen, sprach für ein Erbe des preußischen Beamten oder Funktionärs: „Eine Dualität von Öffentlichkeit und privater Sphäre ist erlaubt und gehört dazu. So funktioniert der preußische Staat“, lautete der in der DDR gewonnene Eindruck eines französischen Zeitzeugen. Für diese Zeitzeuginnen und Zeitzeugen bleibt der Sozialismus im Hintergrund ihrer Erinnerungen. Er entsprach ohnehin nicht ihren politischen Einstellungen. Was sie sahen, bestätigte ihre antikommunistische Haltung. Politisch gesehen war die DDR für sie eine „Anomalie“.
Persönliche Begegnungen mit den Menschen waren das Wichtigste. Viele damals geknüpfte Kontakte und Freundschaften bestehen bis heute. 2.2 „Die DDR war für mich die Verwirklichung meiner Utopie“ Ein anderes Denkmuster eint diejenigen, die mit kommunistischen Idealen in die DDR reisten, insbesondere zu offiziellen Besuchen in Forschungs- und Lehreinrichtungen, als Journalisten der kommunistischen französischen Tageszeitung Humanité oder mit konkreten Funktionen wie zum Beispiel als Sekretär der Weltfestspiele der Jugend und Studenten 1973 in Berlin. All diese Zeitzeugen hatten längerfristige DDR-Erfahrungen und trafen mit unterschiedlichen sozialen Milieus zusammen: mit Partei und Jugendorganisationen, mit Künstlern und Schriftstellern, mit Lehrenden an Universitäten und studentischen Milieus.
Diese Erfahrungen werden aus heutiger Perspektive unterschiedlich erinnert, wobei drei Varianten hervortreten: eine abgewogene Sicht zwischen Kritik und Zustimmung, eine völlig unkritische Sicht und ein abstrakter Blick auf die DDR und deren Rolle im 20. Jahrhundert.
Positiv bewerten alle Zeitzeugen die DDR als Arbeiter- und Bauernstaat als Ausdruck eines neuen Gesellschaftsmodells. Die Kritik richtet sich auf den Überwachungsstaat und die Rigidität von Vorschriften. Erlebt und erinnert werden vor allem Anfeindungen, die trotz ideologischer Verbundenheit stattfanden: im Jugendalter wegen langer Haare oder Überwachungen in der Wohnung. In einem Fall änderte die Ausbürgerung Wolf Biermanns das Verhältnis zur DDR: „Das war wirklich schrecklich. Ich hatte etwas getan, was man nicht tun darf.“ Dieser Zeitzeuge hatte die Ausbürgerung Biermanns kritisiert, was auch im Westfernsehen ein großes Echo fand. Nun galt er in der DDR als Persona non grata, und so konnten die Verbindungen zur DDR nicht mehr die gleichen sein wie zuvor.
Eine Minderheit dieser Zeitzeuginnen und Zeitzeugen weicht auch heute nicht von ihrem damals einseitig positiven DDR-Bild ab. Unterstrichen wird vielmehr die äußerst produktive Zeit, die in der DDR erlebt worden sei. Auch bleibt eine kritische Sicht auf damals verfasste Texte über die DDR aus. Der älteste, heute 100jährige Zeitzeuge, Résistant und guter DDR-Kenner, spricht der DDR im Jahre 2024 eine historische Rolle zu: „Die Mauer war der Schutz einer Geschichte. Sie verteidigte das, was ich die Werte der DDR nenne. Es ist sogar die Periode in meinem Leben, die ich am besten erinnere. Man hatte den Eindruck, etwas Anderes, Neues zu entdecken: eine wirkliche Demokratie (sic!).“
2.3 „Ich war neugierig auf ein Leben im Kommunismus, ohne Kommunistin zu sein.“
Eine solche Motivation teilen diejenigen, die trotz elterlicher Vorbehalte in die DDR fuhren, als junge Journalistinnen und Journalisten, angehende Germanistinnen und Germanisten oder Deutschlehrerinnen und Deutschlehrer. Ihr soziopolitischer Hintergrund ist ein linkes, mitunter katholisch linkes Milieu. Bei einigen scheint eine kritische Sicht gegenüber dem Kapitalismus durch: „Ich dachte, in kapitalistischen Ländern wird ja alles gemacht, damit man auf die Waren, auf die Produkte, auf die Schaufenster schaut, und in Ostberlin war es für mich sehr stressfrei, sehr ruhevoll, sehr angenehm.“
Aber das Misstrauen reiste mit: „Ich kam also in ein Land, woraus damals viele Menschen flüchteten. Das hatte ich im Hinterkopf, wie auch die Stasi. Dann kam die Semestereröffnung im großen Saal der Universität 1989. Und da habe ich mich zum ersten Mal sehr unwohl gefühlt, denn für mich war das so eine Art Maskerade.“ Erzählt wird durch diese Lektorin von den ersten persönlichen Kontakten, die bestimmend wurden für das ganze Jahr: aus einem vermuteten Stasi-Kontakt wurde eine freundliche Gastfamilie. Ein Höhepunkt war die gemeinsame Teilnahme an der Demonstration am 4. November 1989 auf dem Berliner Alexanderplatz, auf dem sich Reformsozialisten und breite Teile der Bevölkerung zu einer öffentlichen Protestkundgebung einfanden. An der Parade am 7. Oktober 1989 hingegen wollte die Zeitzeugin nicht teilnehmen, um den „Polizeistaat DDR nicht unkritisch zu unterstützen“.
So sehr auch die Sympathie dieser Reisenden bei den Menschen in der DDR lag, so wenig konnte deren Neugier auf den Westen geteilt werden, als die Mauer gefallen war. Ihr Interesse galt eben dem neuen Gesellschaftsprojekt in den Ländern des Ostens, mit dem sie mehr soziale Gerechtigkeit verbanden. Dieser Aspekt des Interesses für den Osten ist auch für Aufenthalte während der 1950er-Jahre dokumentiert. Ob auf der Leipziger Messe oder bei Studienaufenthalten: Die Reisenden entdeckten Menschen, die überzeugt von etwas Neuem waren und (zunächst) begeistert dafür einstanden. Sie sprechen in der Erinnerung von der „Dynamik der Bürger der DDR“, Parteimitglieder eingeschlossen, die sich etwa gegen die Diskriminierung von Kindern aus kirchlichen Kreisen engagiert hatten. Diese Neugier trug dazu bei, sich ein differenziertes Bild von der DDR und ihren Menschen zu machen.
4. Vereinzelte Erinnerungen
Einige sehen während der 1970er- und 1980er-Jahre in den Dissidenten und Bürgerrechtlern in Intellektuellen- und Kirchenkreisen ihre bevorzugten Partner in der DDR, in denen „eine ungeheure, niemals erlebte humane Kraft“ entdeckt wurde. Diejenigen wiederum, die im Auftrag des französischen Außenministeriums in West-Berlin tätig waren, erlebten die DDR als ein „verbotenes Land“, das sie nicht allein und stets nur für einige Stunden besuchen durften. In ihren Erzählungen finden sich häufig Berichte von Kontrollmaßnahmen französischer Behörden und verbreiteter Angst vor Fehlverhalten, zum Beispiel bei Fahrten durch die DDR nach West-Berlin. Französische Angestellte, die langjährig in volkseigenen Betrieben in der DDR arbeiteten, berichten über Verbote von privaten Kontakten.
Des Weiteren konnte der französische Wehrdienst in West-Berlin absolviert werden; dann wiederum waren Franzosen Vertreter der Siegermacht in Berlin und hatten sowjetische Behörden als Ansprechpartner, nicht die staatlichen Organe der DDR. Interessant sind auch die Erfahrungen einer Kindheit in der DDR, als Tochter eines französischen Ingenieurs, der für den Chemiekonzern Rhône-Poulenc eine Filiale in der DDR aufbauen sollte. Die Kinder besuchten das französische Gymnasium in West-Berlin, was ein tägliches Passieren des Checkpoint Charlie mit langen Wartezeiten bedeutete. Die deutsche Sprache lernten sie spielerisch von einer Kinderfrau aus der DDR, die zur langjährigen Freundin wurde. Der spätere Beruf der Zeitzeugin – Germanistin an einer französischen Universität mit dem Forschungsschwerpunkt DDR-Literatur – hat gewiss mit ihrer DDR-Erfahrung zu tun. Die Weltfestspiele der Jugend und Studenten 1973 – ein wichtiger Erinnerungsort dieser anderen deutsch-französischen Beziehungen – leitete für einige eine Wende in ihrem Leben ein. Sie verliebten sich, reisten nach Frankreich aus, heirateten dort oder siedelten in die DDR über. Im letzteren Fall lernte eine Zeitzeugin das Aufnahmelager Molkenberg kennen, in dem sie mehrere Wochen den Überwachungen und Kontrollen durch die Stasi ausgesetzt war. Eine Erzählung darüber war ihr erst nach vielen Jahren möglich.
5. Fazit
Die Zeitzeugenberichte verweisen auf wichtige bekannte und bisher unbekannte Spuren der Beziehungen zwischen Frankreich und dem „anderen Deutschland“. Diesen Spuren gilt es weiter nachzugehen. Dazu gehört auch das Abgleichen mit weiteren Quellen.
Die Berichte sind jedoch schon heute wichtige Zeugnisse des kommunikativen Gedächtnisses. Durch ihre authentische Verbindung von politischen und menschlichen Seiten der Geschichte erhalten sie ihre spezielle Kraft. Sie sind deshalb besonders geeignet, diese anderen deutsch-französischen Beziehungen heutigen Generationen nahezubringen.
Zitierweise: Dorothee Röseberg, "„Der andere Planet“ und das „Sehnsuchtsland“. Zeitzeugenberichte über die DDR und Frankreich – ein Blick auf persönliche Begegnungen", www.bpb.de/572011", in: Deutschland Archiv vom 20.10.2025. (ali)
studierte Romanistik und Slavistik (Russisch) an der Humboldt Universität zu Berlin, Promotion 1982 und Habilitation 1991; Professur 1994 TU Chemnitz, ab 1997 Professorin an der Universität Halle-Wittenberg für romanische Kulturwissenschaft (emeritiert seit 2017). Seit 2016 Vizepräsidentin der Leibniz-Sozietät der Wissenschaften zu Berlin e. V. Zu ihren Forschungsschwerpunkten gehören Erinnerungskulturen und die Beziehungen zwischen Frankreich und der DDR. Sie war Gastprofessorin an verschiedenen französischen Universitäten und baute einen deutsch-französischen Studiengang auf. Sie ist Herausgeberin der deutsch-französischen Zeitschrift Symposium culture@kultur (mit Françoise Knopper, Toulouse) und Trägerin der französischen „Palmes Académiques“ (Offiziersklasse) 2015.