Mehr als nur Wüstenstaub im Mantel der Geschichte
Wendeszenen des ersten und einzigen deutsch-deutschen UN-Friedenseinsatzes 1989/90 in Namibia
Daniel Lange
/ 17 Minuten zu lesen
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Was ein Ende der DDR in den Vereinten Nationen (UN) war, war für die Bundesrepublik Deutschland (BRD) und das kurz darauf vereinte Deutschland ein kaum bemerkter Startimpuls für spätere Bundeswehreinsätze im Ausland. Doch heutige Diskussionen über eine solche Operation in der Ukraine rufen wieder wach, was in der deutschen Ex-Kolonie Namibia vor 35 Jahren rund um diese Friedensmission geschah. Neue Aktenfunde schärfen den Blick auf jene doppeldeutsche UN-Premiere am Vorabend der Deutschen Einheit.
Der erste deutsche UN-Einsatz wird hierzulande selten erwähnt. Denn in der sogenannten Wende- oder Umbruchzeit 1989/90 ging unter, dass beide damaligen deutschen Staaten, noch vor dem Mauerfall am 9. November 1989, im südwestlichen Afrika damit begonnen hatten, Namibias Übergang von der jahrzehntelangen Besatzung durch Südafrika zur staatlichen Unabhängigkeit mit Polizei- und Wahlbeobachtern in der dafür gebildeten UN-Mission zu unterstützen (UNTAG). Aber seit US-Präsident Donald Trump für eine Waffenruhe im Ukrainekrieg auch eine militärisch bewachte Pufferzone anregte, Kaja Kallas, die estnische EU-Außenbeauftragte, eine multilaterale Operation dafür vorschlug und zuletzt die frühere deutsche Außenministerin Annalena Baerbock (Bündnis90/die Grünen) als Präsidentin der UN-Vollversammlung einen „Blauhelmeinsatz” dazu erwog, sind Friedenseinsätze zurück im öffentlichen Diskurs, und die Debatten über eine deutsche Teilnahme daran reißen nicht ab.
Doch während die Kontroversen über Einsätze der Bundeswehr in Mali (2013-2023) oder Afghanistan (2001-2021) im gesellschaftlichen Gedächtnis haften geblieben sind, hat sich über die deutsch-deutsche Präsenz unter blauer UN-Flagge in Namibia vor 35 Jahren der staubige Mantel der Geschichte gelegt. Die Sichtung bislang unbeachteter diplomatischer Quellen ermöglicht es, die bisherige Analyse dieses Einsatzes zu verdichten und szenenartig detaillierter zu ergründen, welche Entwicklungen mit dieser deutschen Doppelpremiere einhergingen.
Herkulesaufgabe im Eiltempo
Die UN forcierten Namibias Freiheit mit freien Wahlen (just vom 7. bis 11. November 1989, als in Berlin die Mauer fiel), dem Abzug Südafrikas und der Souveränität des Landes am 21. März 1990 – Ziele, die seit der UN-Resolution 435 von 1978 fixiert waren.
Da sich seitdem sowohl die BRD als auch die DDR (beide ab 1973 UN-Mitglied) auf verschiedene Weise mit der Beteiligung an der Umsetzung dieser Resolution befasst hatten, steht die von April 1989 bis April 1990 realisierte UNTAG-Mission auch für eine zwölfjährige UN-Facette mit zwei deutschen Seiten. Erst im Dezember 1988 führten internationale Gespräche zum UNTAG-Start bereits am 1. April 1989. In nur drei Monaten mussten die UN alles dafür vorbereiten – eine Herkulesaufgabe.
Verträge in der Schublade
Damals plante die DDR ein enges Vertragsgeflecht mit Namibia. So bereiteten Außenminister Oskar Fischer und sein Stellvertreter Heinz-Dieter Winter ab September 1989 ein kulturell-wissenschaftliches Abkommen vor, das zum Beispiel die Ministerien für Gesundheit, Kultur und Volksbildung einschloss. Nur Arthur Bethke, „Vize”-Minister für Hoch- und Fachschulwesen, monierte, dass dafür das Geld fehle. DDR-Ministerpräsident Hans Modrow segnete kurz vor seiner Abwahl (18. März 1990) den Entwurf ab, der über die Abteilung Ost- und Zentralafrika im Ministerium für Auswärtige Angelegenheiten (MfAA) und die seit April 1989 während der UNTAG in Windhuk tätige diplomatische Beobachtermission der DDR zur Regierung des nun freien Namibias gelangte.
Entstaubt man die Akten der letzten, am 21. März 1990 eröffneten Botschaft der DDR in Windhuk, wird klar, dass auch das Ministerium für Außenhandel (MAH) auf Namibia setzte. Da im Oktober 1989 eine Wirtschaftsdelegation dorthin gereist war, legte der Afrikabereich des MAH Anfang 1990 trotz aller politischen Wirren Vertragsentwürfe für Wirtschaft und Handel mit Namibia vor. Grund dafür war ein Namibia-Konzept vom Politbüro der damals noch „führenden” Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands (SED) von 1988. In Folge dessen handelten noch im Juli 1990 für die neue DDR-Regierung um Lothar de Maizière (CDU/Allianz für Deutschland) Vertreter des Ernährungsministeriums und der aus dem Volkseigenen Betrieb (VEB) Fischkombinat entstandenen Rostocker Fischfang Reederei GmbH bei Namibias Landwirtschaftsminister Gert Hanekom eine halbjährliche Fangquote von 20.000 Tonnen Makrelen aus. Es war die erste Fischereilizenz, die Namibia vergab. Auch das Mansfelder Bergbaukombinat bot dem namibischen Minenstandort in Tsumeb 1990 auf kommerzieller Basis 30 Arbeiter für den Kupfer- und Bleibergbau an. Und die Sowjetisch-Deutsche Wismut AG hoffte, mit Namibias Bergbaukammer ins Geschäft zu kommen. Doch all das war schnell obsolet, da die DDR zügig ihrem Ende entgegentaumelte.
Blaue Flagge - rote Zahlen
Zugleich drängten Schulden die DDR zu mehr UN-Aktivität. Denn im Sog von Moskauer Strategien in Nahost hatte sie, wie die Sowjetunion, von 1976 bis 1986 die Zahlung ihrer Pflichtbeiträge für UN-Missionen im Libanon und zur Friedenssicherung zwischen Ägypten und Israel gekürzt oder gestoppt. 1989/90 stand sie daher bei den UN mit 17,25 Millionen US-Dollar in der Kreide. Weiter hatte sie 1989 dem UN-Beitragsschlüssel gemäß einen Anteil am UNTAG-Etat (416 Millionen US-Dollar) von 5,25 Millionen US-Dollar zu leisten. Deshalb bot die DDR den UN in Namibia benötigtes Equipment gegen Devisen an. Auch das entsprach Moskauer Impulsen, die über die sowjetische Botschaft in (Ost-)Berlin und die MfAA-Abteilungen UNO sowie Ost- und Zentralafrika Ende 1988 Außenminister Fischer erreichten. Bis zum Juni 1989 versuchte die Ständige Vertretung der DDR in New York, den UN Funkgeräte, Lazarette, mobile LKW-Werkstätten, Fernschreiber oder Lautsprecher zu verkaufen. Außenhandelsbetriebe (AHB) wie der VEB Mikroelektronik, Elektrotechnik Import-Export oder Rundfunk- und Fernmeldetechnik wurden dafür aktiviert. Der AHB Ingenieur-Technischer Außenhandel bot Waren für 5,34 Millionen US-Dollar an - letztlich jedoch vergeblich, da sich die UN bei der Ausrüstung der UNTAG oft auf freiwillige Leistungen anderer Mitgliedsländer und südafrikanische Firmen stützten, die benötigte Güter billiger und schneller liefern konnten.
Blauhelmszenario der Zukunft
Zudem wollte die im UN-Ausschuss für Friedensmissionen vertretene DDR den UN bald permanente Einheiten für jene Einsätze anbieten. Diese sollten nicht nur wie in Namibia zivile Polizei- und Wahlbeobachterdienste leisten, sondern auch militärische. Denn in New York entstand ab 1990 ein Register für rasch verfügbare personelle und logistische Ressourcen aller UN-Mitgliedstaaten. Gefragt war hier auch die DDR, die, anders als andere Staaten im Warschauer Pakt (so Polen seit 1971), noch nie an einem UN-Einsatz teilgenommen hatte. Daher legte im Juni 1989 ein Fachkreis aus MfAA, Ministerium für Nationale Verteidigung (MfNV) und dem als diplomatisches Wissenszentrum fungierenden Institut für Internationale Beziehungen eine Expertise zum Militäreinsatz der DDR bei Friedenseinsätzen vor. Im MfNV entstand auf Geheiß des stellvertretenden Verteidigungsministers Fritz Keßler ein Blauhelmszenario für die Nationale Volksarmee (NVA). Demnach sollten 40 Militärbeobachter und zwei Kompanien mit 300 Soldaten bis Ende 1991 bereit stehen. Dem sollte im Dezember 1989 das SED-Politbüro zustimmen. Doch das gab es nach den monatelangen Massenprotesten im Land schon nicht mehr.
Geheimdienst ohne Stützpunkt
All das hielten die Hauptabteilungen des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) für Internationales (HA X) und Spionageabwehr in der NVA (HA I) fest. Überwachte das MfS schon die Studentenunion Namibias in der DDR und das namibische Kinder betreuende Heim in Bellin (Mecklenburg), begann seine für Auslandsvertretungen in der DDR zuständige Hauptabteilung II im April 1989 damit, den Postverkehr mit Namibia zu kontrollieren und über Zuträger Interna aus dem (Ost-)Berliner Büro von Namibias Südwestafrikanischer Volksorganisation (SWAPO) abzuschöpfen. Der DDR-Auslandsgeheimdienst, die Hauptverwaltung Aufklärung (HVA) des MfS, wertete nach Gefechten zwischen SWAPO-Milizen und Südafrikas Militär auch internationale Gespräche aus, die einen Abbruch der UNTAG-Mission einkalkulierten.
Zu den 30 am 11. Oktober 1989 nach Namibia entsandten Polizeibeobachtern der DDR gehörten neben einem MfS-Offiziellen auch zehn Teilnehmer, die neben ihrer Arbeit im Verteidigungs- oder Innenministerium (MdI) vom MfS als inoffizielle Mitarbeiter (IM) zumindest erfasst waren. Eine „zentrale Vorgabe bzw. einsatzbezogene Orientierung” gab es für sie aber nicht, da ihre „operative Nutzung und Betreuung” unsicher war. Denn die HVA besaß im noch von Südafrika besetzten Namibia keine Residentur, um die später zwischen Buschland und Wüste weit entfernt von Windhuk tätigen und schwer erreichbaren Beobachter zu instruieren. Deshalb sollten alle Berichte zu dem Einsatz, der in Namibia unter UN-Kommando stand und von dem das MfS dachte, die Polizeibeobachter würden auch dort Geheimhaltungspflichten unterliegen, regulär „auf diplomatischem Wege über das MfAA laufen“, das von der Ständigen Vertretung der DDR in New York und ihrer Beobachtermission in Windhuk informiert wurde. Auch in dieser gab es zumindest einen IM.
Dem Fehlen einer MfS-Order für den polizeilichen Einsatz entsprach, dass die DDR einer im MdI eintreffenden offiziellen UN-Bitte um ein Kontingent erst am 3. Oktober 1989 erfüllte. Nun erst stand fest, dass sie so Teil der UNTAG sein würde, weshalb das MfS erst dann dem dafür rekrutierten Personal final zustimmte. Der parallel immer rapidere Zerfall von SED- und MfS-Apparat (Rücktritt Erich Honeckers/18. Oktober; Mauerfall/9. November; MfS-Umbau zum Amt für Nationale Sicherheit/17. November; Entlassung Erich Mielkes als MfS-Minister/18. November 1989) verdrängte Namibia zudem aus dem Fokus der Stasi. Am 6. November 1989 befahl Mielke die Vernichtung von Akten. Offen ist, ob das auch UN-Papiere betraf. Die letzten bisher entdeckten, allgemeinen Notizen im MfS zur UNTAG stammen aus dem November 1989.
Akten des Auswärtigen Amtes in Bonn (AA) zeigen, dass man in der ab März 1989 in Windhuk tätigen westdeutschen diplomatischen Beobachtermission für die UNTAG vermutete, dass für ihr DDR-Pendant in Namibia „ein nachrichtendienstlicher Auftrag besteht”. Die Beobachtereinheit der BRD traf mit 50 Mann des Bundesgrenzschutzes (BGS) am 15. September 1989 in Windhuk ein. Das Bundesinnenministerium (BMI) sandte zudem einen Polizeirat für drei Monate nach Windhuk, der (als Diplomat reisend nicht der UNTAG unterstellt) als Kontakt der westdeutschen Beobachtermission zwischen dieser, dem BGS, der UNTAG und dem BMI fungierte. Das UN-Referat im AA begrüßte das, da so „ein erheblich besserer Einblick in die Tätigkeit” des BGS bestünde – und um „Alleingänge des BGS zu vermeiden”. Bald stellten die Diplomaten aber fest, dass dieser Beamte auch an ihnen vorbei agierte: „Ein Problem für uns ist die direkte Berichterstattung an das BMI unter Umgehung der [diplomatischen Beobachtermission] und des AA.” Standen derlei Dispute neben politischen Debatten auch für die Relevanz, mit der die BRD ihre erste Friedensmission versah, zeigte sich diese vor allem durch die Beteiligung hochrangigster Politiker. So hatte schon im März 1989 Bundesaußenminister Hans-Dietrich Genscher UN-Generalsekretär Javier Pérez de Cuéllar die sofortige Überweisung der BRD-Pflichtbeiträge für die UNTAG (32,8 Millionen US-Dollar) und 167 Fahrzeuge zugesagt.
Kohl: „Besondere Verantwortung für Namibia und alle seine Bürger”
Zuvor bat Bundeskanzler Helmut Kohl bei Genscher darum, „beschleunigt” und „auf breiter Grundlage” ein Kooperationskonzept für Kultur, Wirtschaft und Entwicklungspolitik mit Namibia vorzubereiten. Die Bundesregierung wolle Namibia, „sofern es dies wünscht”, in seiner Entwicklung helfen, da sie vor „der deutschen kolonialen Vergangenheit stets an ihrer besonderen Verantwortung für Namibia und alle seine Bürger festgehalten” habe, was bald darauf der Deutsche Bundestag per Beschluss bekräftigte. Diese Relevanz nahm Bundespräsident Richard von Weizsäcker auf, als ihn Pérez de Cuéllar in New York auf eine Polizeieinheit für die UNTAG ansprach. Von Weizsäcker deutete hier eine Zusage an, die am 30. August 1989 durch die Bundesregierung beschlossen wurde.
Bei den Unabhängigkeitsfeiern Namibias am 21. März 1990 etablierten Genscher und der SWAPO-Führer Sam Nujoma (nun auch Präsident Namibias) offizielle Beziehungen. Im Parlament, dem in Windhuk in Anlehnung an zu signierende Verträge als Tintenpalast bekannten Gebäude aus deutscher Zeit, sagte Genscher, die Bundesrepublik wolle „mit Namibia besonders intensive Beziehungen pflegen”, um „wirkliche Hilfe zu geben und dazu beizutragen, dieses Land zu einem ,blühenden Garten’ zu machen“. Die verbale Nähe zu den von Kohl zur Währungsunion von DDR und BRD am 1. Juli 1990 gepriesenen „blühenden Landschaften” im künftigen Deutschland fällt auf. Und Genscher stellte in Aussicht, „den Visumszwang aufzuheben”, damit Namibianer leichter in die BRD reisen könnten. Dazu kam es bis heute nicht. Stattdessen benötigen seit April 2025 Deutsche für die Einreise nach Namibia ein Visum.
Protokollarische Personalrotationen
SWAPO-Chef Nujoma indes musste beim rasanten Wandel in der DDR den Überblick behalten: Hatte er, der als letzter Spitzenfunktionär Afrikas im August 1989 die DDR besuchte, Anfang Oktober 1989 noch dem „geschätzten Genossen Generalsekretär” Erich Honecker zum 40. Jahrestag der DDR gratuliert, grüßte er nur kurz danach den „lieben Genossen Generalsekretär” Egon Krenz, von dessen Inthronisierung als Vorstand des ZK der SED er „jubelnd” erfahren habe. Die Anerkennung der Republik Namibia durch die DDR erhielt er vom amtierenden Staatsratsvorsitzenden Manfred Gerlach, dem neuen Ministerpräsidenten der DDR, Lothar de Maizière, wünschte Nujoma dann als „Exzellenz” viel Erfolg. Zu den Unabhängigkeitsfeiern in Windhuk traf Nujoma noch niemanden der erst ab 4. April 1990 amtierenden neuen DDR-Regierung, sondern Staatssekretär Werner Fleck aus dem MfAA. Das Kommuniqué über die von Fleck mit Namibias Außenminister Theo Ben Gurirab vereinbarten diplomatischen Beziehungen zwischen der DDR und Namibia und die Überführung der Beobachtermission in eine DDR-Botschaft zum 21. März 1990 ist erhalten. Begleitet wurde Fleck dabei von Bernd Haucke, Leiter der MfAA-Abteilung Ost- und Zentralafrika. Er sollte, nachdem Hans-Georg Schleicher die Beobachtermission bis Ende März 1990 geleitet hatte, erster DDR-Botschafter in Namibia werden. Am 18. April 1990 erteilte Namibia das Agrément für ihn, (Ost-)Berlin entsandte ihn aber nicht mehr.
Alltag, Kooperation und Debatten zwischen alter und neuer Zeit
Fast vergessen sind auch damalige Alltagsmomente. So waren Namibias Kommunisten den DDR-Diplomaten in Windhuk nicht geheuer. Sie ordneten sie für das MfAA und die ZK-Abteilung Internationale Verbindungen der SED als „linkssektiererische Splittergruppe” ein. Und: Gab es bei Diplomaten wie Polizeibeobachtern der DDR 1989 noch Parteikollektive oder -beauftragte, wurde 1990 angesichts der nahenden Auflösung des Außenministeriums und damit verbundener Massenentlassungen im diplomatischen Korps in der Windhuker Botschaft noch eine Personalvertretung demokratisch gewählt. Auf westdeutscher Seite wich die erste Skepsis über die Beobachtermission der DDR erst der Erleichterung, als sich deren Leiter Hans-Georg Schleicher als kooperativer Experte erwies. Kollegial notierte man, das MfAA der DDR habe mit Schleicher „eine gute Wahl getroffen”. Er sei „ein drahtiger jüngerer Beamter, wirkt kompetent, flexibel und sympathisch”. Mutet die kurzzeitige Idee Tunesiens, ohne eigene Diplomaten vor Ort die BRD um die „Übernahme einer Schutzmachtfunktion” für sein UNTAG-Kontingent in Namibia zu bitten, eher kurios an, waren historische Fragen relevanter.
Mit Bezug auf die Entschuldigung der Volkskammer beim jüdischen Volk für die frühere antiisraelische Politik der DDR (12. April 1990) richtete mit Kuaima Riruako der Oberste Stammesfürst der Herero einen Aufruf an beide deutschen Staaten zur „Wiedergutmachung” für die Opfer, die sein Volk in den Jahren 1904 bis 1908 im Kolonialkrieg in Deutsch-Südwestafrika erlitten hatte. Er ordnete diesen Krieg nicht als Völkermord ein – auch nicht übrigens in einem Brief an Präsident Nujoma –, nannte aber Opferzahlen von „28 000 bis 48 000 aufgrund verschiedener Berechnungen” (die er nicht erörterte) und wünschte sich finanzielle und materielle deutsche Hilfen. Namibias Außenminister Gurirab lehnte das ab. Bilaterale Themen seien nicht durch einzelne Bevölkerungsgruppen, sondern „über die Regierung Namibias” und „in einem demokratischen System zum Beispiel im Parlament” zu beraten.
In diesem Sinne stimmten sich auch die beiden deutschen Botschaften ab: Auf östlicher Seite war das Thema „nur im gemeinsamen Herangehen von DDR und BRD lösbar” und „in Abstimmung mit Namibias Regierung”. Harald Ganns, BRD-Botschafter in Windhuk, hielt eine „erneute Befassung damit nur dann für erforderlich, wenn sich die namibische Regierung das Anliegen zu eigen machen und auf uns zukommen sollte.” Fragen und Positionen, die bis heute innernamibische Diskussionen und das deutsch-namibische Verhältnis prägen.
Neues Deutschlandbild durch den Friedensdienst fern der Heimat
Zwei Eindrücke spannen den Bogen damaliger Erfahrungen hinein in die Gegenwart heutiger Gedanken zu möglichen deutschen Auslandseinsätzen. So hatte der SPD-Bundestagsabgeordnete Günter Graf im September 1989 Namibia besucht und dabei den Generaladministrator Südafrikas für Namibia, Louis Pienaar, getroffen. Dieser erzählte ihm, dass durch die (hier gemeint: west-)deutsche Mitwirkung in der UNTAG „ein völlig neues Deutschlandbild in Namibia entstanden sei, das Erinnerungen an die negativen Seiten der Kolonialzeit, insbesondere dem Vorgehen der Schutztruppe beim Herero-Aufstand 1904, weitgehend verdrängt hat”. Und: Den Bundesgrenzschützern, die sich auf den Einsatz vorbereiteten, und ihren Angehörigen war polizeiliche Seelsorge angeboten worden. Es waren Oberpfarrer Johannes Baptist Seves und Dekan Peter Jentsch, die allen nach Namibia aufbrechenden Kontingentsmitgliedern ein Gesangbuch, eine Rucksackfibel und einen Begleitbrief mit Wünschen für einen erfolgreichen Auslandsdienst und eine gesunde Heimkehr aushändigten, um ihre Bereitschaft zur Trennung von Familien und Freunden und zum Riskieren von Leib und Leben fernab der Heimat zu würdigen. Als diese im Beisein von Bundesinnenminister Wolfgang Schäuble (CDU) vom Flughafen Köln-Bonn aus in einen durchaus als Abenteuer zu bezeichnenden Einsatz nach Namibia aufbrachen, war es neben Staatssekretär Hans Neusel (BMI) auch Pfarrer Jentsch, der im Flugzeug zum Abschied noch einmal durch die Reihen der Bundesgrenzschützer ging.
Deutsch-deutsche UN-Patrouille in Namibia: „Ein voller Erfolg”
In Namibia ist die Zeitenwende 1989/90 unvergessen. Namibias verstorbener Ex-Präsident Hage Geingob, der damals der neuen verfassungsgebenden Nationalversammlung des Landes vorstand, erinnerte im Jahr 2023 ebenso daran wie die Deutsche Botschaft in Windhuk, die zum Tag der Deutschen Einheit auf beide deutschen Polizeibeobachtereinheiten in der UNTAG hinwies. Ein Fazit sei hier dem damaligen Leiter des UN-Referats im Bonner Auswärtigen Amt, Claus Vollers, überlassen. Dieser hatte im November 1989 die Wahlen in Namibia erlebt und notiert, dass die „erste deutsche Beteiligung an einer Friedensmission ein voller Erfolg ist. In allen Sparten werden die Deutschen als überdurchschnittlich kompetent angesehen, obwohl dies ein neues Feld für alle ist. Die Begeisterung unserer Leute über die Aufgabe wie über die für sie völlig ungewohnte internationale Zusammenarbeit ist herzerwärmend. (...) Damit sind Aufgaben und Möglichkeiten der UN vielen erstmals deutlich geworden, und sie entwickeln Verständnis für unsere Verantwortung in der weltweiten Zusammenarbeit. Die gemeinsame Aufgabe ergab auch einen neutralen Rahmen für die ausgezeichneten Kontakte zu den DDR-Kollegen, die angesichts der Ereignisse zu Hause in einer schwierigen Lage waren.”
Weiterer Beitrag des Autors zum deutsch-deutschen Blauhelmeinsatz in Namibia:
Zitierweise: Daniel Lange, "Mehr als nur Wüstenstaub im Mantel der Geschichte. Wendeszenen des ersten und einzigen deutsch-deutschen UN-Friedenseinsatzes 1989/90 in Namibia" in: Deutschland Archiv, 10.12.2025, Link: www.bpb.de/573658 (ali).
Dr. phil., Sportwissenschaftler und Historiker. Promotion an der Universität Potsdam im Wissenschaftsprogramm der Bundesstiftung Aufarbeitung zur außenpolitischen Rolle des Sports in der Afrikapolitik der DDR („Turnschuhdiplomatie“). Zuvor Magisterarbeit an der Humboldt-Universität zu Berlin zur deutsch-deutschen Beteiligung am Unabhängigkeitsprozess der Vereinten Nationen 1989/90 in Namibia. Vorstandsmitglied Sport der Deutsch-Namibischen Gesellschaft. E-Mail: daniel.lange@go4more.de