Strickmaschinen und Vertragsarbeiter
Unbeabsichtigte Nebeneffekte der Beschäftigung
ungarischer Vertragsarbeiter in der DDR
Die Beschäftigung ungarischer Vertragsarbeiter in der DDR brachte unerwartete Nebeneffekte mit sich: Die Ungarn "exportierten" wichtige Handarbeitsmaschinen, die darauf hergestellten Textilien "reimportierten" ostdeutsche Touristen und unterliefen damit die Konsumpolitik der SED.
DDR-Näh- und Handstrickmaschinen in Ungarn
Die zunächst spaßig wirkende Frage, ob DDR-Näh- und Handstrickmaschinen im "Bruderland" Ungarn in gewisser Weise der starren Politik der DDR-Führung entgegen wirkten, deren Ergebnisse teilweise zunichte machten, obwohl oder gerade weil sie Exportschlager waren, ist nicht leicht zu beantworten. Grund für diese unerwartete Funktion von Haushaltsgeräten mit Namen wie "Naumann", "Singer" und "Veritas" waren obskurerweise Art, Schnitt- oder Strickmuster der meisten Textilien, die in ungarischer Heimarbeit auf ihnen entstanden. Die Maschinen waren im In- und Ausland gefragt, fanden ihren Absatz seit Anfang der 60er-Jahre bis zum Ende der DDR in ca. 30 Ländern, so auch im westlichen Teil Europas, unter anderem in der Bundesrepublik Deutschland, Frankreich, Großbritannien und Belgien.
Der Umstand, dass die auf ihnen entstandene Strick- und Nähware insbesondere bei Ungarn-Urlaubern aus der DDR reißenden Absatz fand, verstärkte die genannte Tendenz, unterlief also die Konsumpolitik des SED-Staates bzw. kompensierte deren Defizite. Nicht vorhergesehen oder gar geplant war auch der Weg, auf dem die Maschinen nach Ungarn gelangten. Eine Erklärung für die ungewollt politische Wirkung von Näh- und Strickmaschinen in "Freundesland" gibt die Aufzählung einiger teils systembedingter Umstände, die an heute skurril erscheinende politische und wirtschaftliche Zustände in den Planwirtschaften der Ostblockländer erinnert, speziell an Verhältnisse in Ungarn und der DDR von Mitte der 60er- bis Mitte der 80er-Jahre sowie die Gestaltung der beiderseitigen Beziehungen zueinander:
- die allgemeine Unfähigkeit von Modeinstituten und der Bekleidungsindustrie der DDR sowie Ungarns, schnell auf Modetrends zu reagieren,
- das Einfuhrverbot von westlichen Druckerzeugnissen einschließlich Modezeitschriften, das in Ungarn lockerer gehandhabt wurde als in der DDR,
- der Druck auf ungarische Bürger, mittels Nebenjobs und Heimarbeit ihren Lebensunterhalt aufzubessern,
- die überhöhten Preise für Näh- und Handstrickmaschinen im ungarischen Einzelhandel,
- die Beschäftigung ungarischer Vertragsarbeiter in der DDR,
- die Anziehungskraft Ungarns als Reiseland für DDR-Bürger.
Die Regierungsabkommen

Nach ihrer Bewerbung und einem Auswahlverfahren waren ungarische Vertragsarbeiter von Oktober 1967 bis Ende 1983 in der DDR tätig. Ihre Beschäftigung erfolgte nach der Maßgabe eines bilateralen Regierungsabkommens vom Mai 1967.[1] Am 7. Mai 1973 erhielt das Abkommen eine Neuauflage mit einer Geltungsdauer von sieben Jahren , die der Tatsache Rechnung trug, dass von nun an auch Facharbeiter aus der DDR in ungarischen Betrieben arbeiteten, wenn auch in weit geringerem Maße.[2]
Abkommen zur Ausbildung und Beschäftigung ausländischer Arbeitskräfte schloss die DDR nach dem Pilotvertrag mit Ungarn mit folgenden Ländern ab: Polen (1971), Algerien (1974), Kuba (1978), Mosambik (1979), Vietnam (1973/1980), der Mongolei (1982), Angola (1985) und China (1986). 1981 hielten sich insgesamt 24.000 ausländische Vertragsarbeiter in der DDR auf. 1989 waren es 94.000, darunter 60.000 Vietnamesen. Sieht man von den Angehörigen der sowjetischen Streitkräfte ab, so lebten nur wenige Ausländer in der DDR. Ihre Zahl von rund 190.000 – ohne Studierende aus dem Ausland – im Jahre 1989 entsprach nur 1,2 Prozent der Wohnbevölkerung.[3] In der Bundesrepublik Deutschland betrug der Ausländeranteil im selben Jahr 7,7 Prozent.[4] 1989 bildeten Vietnamesen mit 55.000 Personen die stärkste Gruppe von Ausländern in der DDR, ihne folgten Polen mit 38.000 und Ungarn sowie Kubaner mit jeweils 11.000 Personen.[5] Zehn Jahre zuvor waren die beiden größten Ausländergruppen laut einer Jahresanalyse der für Spionageabwehr zuständigen Hauptabteilung (HA) II des Ministeriums für Staatssicherheit der DDR (MfS), Arbeitsgruppe (AG) Polen mit 30.312 Personen, gefolgt von den Ungarn mit 15.338 Personen von insgesamt 83.815 "Bürgern ausgewählter Länder" (ohne Diplomaten), die sich längerfristig in der DDR aufhielten. In der Bundesrepublik dagegen hielten sich derselben Analyse zufolge zur gleichen Zeit ca. 3.950.000 Ausländer längerfristig auf.[6]
Die DDR linderte mit dem Einsatz ausländischer Vertragsarbeiter ihren Arbeitskräftemangel und sicherte auf diesem Wege die Planerfüllung in der Wirtschaft. Der Vorteil für die Partnerländer bestand darin, dass die Jugendlichen eine Berufsausbildung erhielten und ihre Beschäftigung in der DDR den Arbeitskräfteüberschuss daheim milderte. Zugleich erhöhte sich der Lebensstandard der Vertragsarbeiter, denn die Löhne in der DDR waren bedeutend höher als in den Partnerländern.
Vertragsarbeiter aus Polen und Ungarn im Vergleich
Das Regierungsabkommen mit Ungarn über die Beschäftigung von "Vertragsarbeitern" diente als Muster für gleichartige Abkommen mit den bereits genannten Ländern. Als zweites folgte vier Jahre später das nach langwierigen Verhandlungen im Mai 1971 in Warschau unterzeichnete Abkommen zwischen dem staatlichen Amt für Arbeit und Löhne der DDR und dem Komitee für Arbeit und Löhne der Volksrepublik Polen.[7] Die Beschäftigungsdauer polnischer Vertragsarbeiter betrug wie die der aus Ungarn in der Regel zwei bis drei Jahre. Ungarische Vertragsarbeiter verlängerten ihren Arbeitsaufenthalt mitunter auf fünf bis acht Jahre. Polnische Pendler hatten aber bereits zwei Jahre vor dem Abkommen mit Ungarn unbefristete Arbeitsverträge erhalten. Es pendelten ganz überwiegend Frauen über Oder und Neiße, die "bis dato keinen Beruf erlernt hatten und in der DDR qualifiziert werden sollten".[8] Die ersten 75 Pendlerinnen arbeiteten ab 1965 in einem Pilotprojekt in grenznahen Betrieben der DDR. Das Pendlerabkommen mit Polen vom März 1966 war somit das erste Abkommen über die Beschäftigung ausländischer Arbeitskräfte in Betrieben der DDR überhaupt.
In der Folge betrug die Zahl in der DDR beschäftigter polnischer Pendlerinnen vom Anfang der 70er-Jahre bis 1989/90 relativ konstant 3.000–4.000.[9] Eine kostenträchtige Bereitstellung von Wohnraum, Kinderkrippen- und Kindergartenplätzen erübrigte sich bei der Einstellung polnischer Pendlerinnen. Doch es gab Ausnahmen: Da für Pendlerinnen des Halbleiterwerks Frankfurt (Oder) kaum eine Möglichkeit bestand, Betriebskindergärten in ihren Herkunftsorten zu nutzen, richtete das Werk auf polnischem Gebiet einen eigenen Kindergarten ein. Auch fuhren polnische Kinder in Betriebskinderferienlager in die DDR.[10]
Neben den Pendlerinnen wurden im Rahmen von gesonderten Außenhandelsverträgen jährlich 10.000–30.000 polnische Fachkräfte für Bau- und Montagearbeiten in die DDR entsandt. Seit dem Regierungsabkommen über Vertragsarbeiter aus Polen vom Mai 1971 waren junge polnische Arbeitskräfte auch aus entfernteren Gebieten Polens an verschiedenen Industriebetrieben der DDR nicht nur in Grenznähe beschäftigt. Ihr Einsatz erfolgte auf Wunsch der polnischen Regierung vorrangig in Betrieben, die in der Volksrepublik benötigte Waren herstellten oder in denen sich die Vertragsarbeiter für einen Beruf qualifizieren konnten, der in Polen gefragt war. Jährlich wurden bis zum Ende der DDR 6.000–8.000 Vertragsarbeiter entsandt. Sie waren wie die Ungarn getrennt nach Geschlecht in sogenannten "Arbeiterwohnheimen" untergebracht. In der Regel waren das Neubauwohnblocks innerhalb einer Wohnsiedlung. "Die Betriebe der DDR hatten den polnischen Werktätigen die Inanspruchnahme der kulturellen, sportlichen, und sozialen Einrichtungen sowie der Versorgungs- und Dienstleistungseinrichtungen des Betriebes zu ermöglichen."[11] Ein dauerhafter Verbleib polnischer Arbeitskräfte in der DDR, etwa nach Eheschließungen, war von Seiten des polnischen Staates nicht gewünscht und blieb auch eine Ausnahme. Zwar enthielt auch das Abkommen mit Ungarn in Artikel 4 und das Folgeabkommen in Artikel 7 einen Passus, wonach – abgesehen von "besonders zu würdigenden Fällen" – eine Übersiedlung ungarischer Arbeiter in die DDR nicht genehmigt werde, doch führte eine beträchtliche Anzahl von Eheschließungen zur Übersiedlung in die DDR, auch wenn viele Ungarn ihre Staatsbürgerschaft behielten.
Die Verhandlungen über die Beschäftigung polnischer Vertragsarbeiter verliefen aufgrund des historisch belasteten Verhältnisses zwischen Deutschland und Polen kompliziert. Assoziationen zur Zwangs- und Saisonarbeit auf deutschem Boden kamen auf polnischer Seite ins Spiel. Diese trug somit aus "Prestigegründen" eine Bitte vor, die als Bedingung angesehen wurde: Publiziert werden sollte über den Einsatz polnischer Arbeitskräfte in der DDR weder in den Medien der DDR noch in denen der Volksrepublik Polen. Dagegen berichteten die Medien der DDR und Ungarns ab 1967 ausführlich über den Einsatz ungarischer Vertragsarbeiter. Das Abkommen mit Polen wurde wegen der oben genannten polnischen Bedenken nicht, wie bei zwischenstaatlichen Abkommen üblich, von der Volkskammer der DDR und vom polnischen Sejm in Kraft gesetzt, sondern durch die Vorsitzenden der Ministerräte beider Länder.
Art und Umfang der Beschäftigung
ungarischer Vertragsarbeiter
Die Zahl ungarischer Vertragsarbeiter betrug bis Mitte der 70er-Jahre ca. das Anderthalbfache der polnischen (nicht mitgerechnet die polnischen Pendler). Sie lag Ende der 60er-Jahre bei 12.000[12], 1975 bei 10.400.[13] 8.000 davon waren auf der Grundlage des Regierungsabkommens vom 7. Mai 1973 entsandt. Die übrigen 2.400 hielten sich auf der Basis von Montage- und Dienstleistungsverträgen zeitweilig in der DDR auf. Sie galten bis Ende der 70er-Jahre nach den zeitweilig in der DDR beschäftigten polnischen Staatsbürgern als zweitstärkste Gruppe der dort tätigen Ausländer.[14]
Seit den 70er-Jahren nahm der Arbeitskräfteüberschuss in Ungarn und die Zahl ungarischer Vertragsarbeiter in der DDR permanent ab. Weitere geburtenstarke Jahrgänge waren in Ungarn nicht zu erwarten, und die Nichteinführung des ab 1968 geplanten "neuen wirtschaftlichen Mechanismus" verhinderte die Freisetzung von Arbeitkräften in größerem Ausmaß. So wurde "zur Durchführung des Abkommens anlässlich der XIV. Tagung des Gemeinsamen Wirtschaftsausschusses DDR/UVR [Ungarische Volksrepublik] im Jahre 1975 vereinbart, dass bis 1980 jährlich 2.000 bis 3.000 ungarische Jugendliche in sozialistischen Betrieben der DDR und 200 DDR-Facharbeiter in sozialistischen Betrieben der UVR eingesetzt werden."[15] 1978 waren 4.000 ungarische Jugendliche in 45 Betrieben der DDR und 330 Facharbeiter aus der DDR in sechs Betrieben in Ungarn tätig. 1979 sank die Zahl der ungarischen Vertragsarbeiter auf 1.155 und 1980 auf 895.
Jährlich unterzeichneten Vertreter des Staatssekretariats für Arbeit und Löhne beim Ministerrat der DDR und des Ministeriums für Arbeit der UVR "Protokolle über die Durchführung des Regierungsabkommens". Darin vereinbarten beide Seiten die Anzahl von Facharbeitern und Anlernkräften in Berufen wie Zerspaner, Dreher, Schleifer, Fräser, Hobler, Schlosser, Maschinenbauer, Elektromonteur, Elektromechaniker, Mechaniker, Metallurg, Schweißer oder Textilarbeiter. Die Festlegung im Protokoll für das Jahr 1980 über die Entsendung von lediglich 895 ungarischen Vertragsarbeitern in die DDR erfolgte auf Wunsch der ungarischen Regierung aufgrund der industriellen und demografischen Entwicklung. Im Gegenzug entsandte die DDR Arbeitskräfte wie festgelegt in Höhe von zehn Prozent der ungarischen Delegierungsgröße zur Arbeitsaufnahme nach Ungarn, das waren 80 Facharbeiter.[16] Einsatzbetriebe, Anzahl und berufliche Aufgliederung pro Betrieb wurden durch die Bevollmächtigten beider Regierungen gesondert festgelegt.
Das Abkommen lief auf ungarischen Wunsch für die Zeit nach 1980 aus, sodass die letzten Vertragsarbeiter 1983 nach Ungarn zurückkehrten. Drei Jahre zuvor hatte das Budapester Arbeitsministerium Verhandlungen über den Einsatz kubanischer Arbeitskräfte in Ungarn aufgenommen und sich beim Staatsekretariat für Arbeit und Löhne der DDR über die Erfahrungen beim Einsatz kubanischer Vertragsarbeiter in der DDR seit 1978 erkundigt.
Von 1967 bis 1978 stellten insgesamt 36.000 Jugendliche aus Ungarn in 150 DDR-Betrieben das Gros der ungarischen Vertragsarbeiter in der DDR. Im Gegenzug waren von 1974 bis 1978 in ungarischen Betrieben 760 Jugendliche aus der DDR tätig.[17] Diese ließ das MfS durch eine Gruppe von Inoffiziellen Mitarbeitern (IM) unter dem Führungs-IM (FIM) "Elbe" überwachen. Der FIM "Elbe" stand unter Anleitung der Hauptabteilung (HA) XVIII/4, zuständig für die Sicherung der zentralen Planungs- und Finanzorgane, Statistik/Datenverarbeitung, Materialwirtschaft, Arbeit und Berufsbildung, und der für Spionageabwehr zuständigen HA II/Operativgruppe Budapest.[18] Seit April 1975 erfolgte eine operative Zusammenarbeit zwischen der HA XVIII des MfS und der Abteilung 7 des Spionageabwehrbereichs des ungarischen Staatssicherheitsdienstes, wie aus einem Vermerk der HA XVIII des MfS von 1981 hervorgeht.[19] Der ungarische Staatssicherheitsdienst war ebenso wie der Auslandsgeheimdienst formell dem ungarischen Ministerium des Innern (MdI) unterstellt.
Das IM-Netz stellte vor allem illegale Geldausfuhr aus der DDR sowie illegalen Umtausch in Budapest fest, "Kontakthandlungen" zu Bürgern aus dem westlichen Ausland und "Konsumtion westlicher Zeitschriften und deren illegale Einfuhr in die DDR". Für Unzufriedenheit sorgten IM-Berichten zufolge Preiserhöhungen in Ungarn, die nur zum Teil durch Ausgleichszahlungen aufgefangen wurden. Junge DDR-Facharbeiter trugen sich mit dem Gedanken, ihren Einsatz in Ungarn vorzeitig zu beenden, falls es keine Lohnerhöhungen geben sollte. Weniger befriedigend befand das MfS die Zusammenarbeit mit dem ungarischen Geheimdienst bei der Postkontrolle von Sendungen aus dem westlichen Ausland an Facharbeiter aus der DDR. Obwohl das ungarische "Bruderorgan" um die Fortführung der Postkontrollen gebeten worden war, hatte die HA XVIII des MfS seit anderthalb Jahren keine Ergebnisse mehr erhalten.[20]
Bis zum Auslaufen des Abkommens 1983 hielten sich schätzungsweise insgesamt ca. 40–45.000 ungarische Vertragsarbeiter in der DDR auf.[21] Zur Zeit der Wiedervereinigung lebten in der DDR mehrere Tausend ehemalige Vertragsarbeiter, die mit Ostdeutschen verheiratet waren.[22] Ihre Zahl dürfte nach Schätzungen des Bundes ungarischer Organisationen in Deutschland (BUOD) heute etwa bei 10.000 liegen.[23] Der BUOD bezeichnet die in Deutschland verbliebenen ehemaligen Vertragsarbeiter als den bedeutendsten Teil der ungarischen Diaspora nach 1956.[24]