Zwischen Ost und West
Die Publikationsgeschichte von Stefan Heyms "Erzählungen"
Ab Mitte der 1960er-Jahre galt Stefan Heym in der DDR als Dissident. Mit dem Machtwechsel von Ulbricht zu Honecker schien sich das Verhältnis zwischen dem Literaten und der Staatsmacht zu entspannen. Die Publikationsgeschichte seiner "Erzählungen" zeigt aber, dass Stefan Heym immer eine Sonderrolle inne hatte.Stefan Heym nahm im Literaturbetrieb der DDR eine Sonderrolle ein. Seine Schriften wurden in der Bundesrepublik veröffentlicht, meist noch vor der Publikation in der DDR. Gleichzeitig thematisierte Heym diese Teilung kritisch in seinen Werken, womit man ihn als literarischen Grenzgänger zwischen Ost und West bezeichnen kann. Die Problematik dieser Sonderrolle soll hier anhand des Druckgenehmigungsverfahrens zu Heyms Band "Erzählungen", der 1976 im LDPD-Verlag Der Morgen erschien, dargestellt werden.
I
War Heym für seinen Antikriegsroman "Kreuzfahrer von heute" Anfang der Fünfzigerjahre noch gefeiert worden, schränkte ihn das sozialistische Regime wegen seiner kritischen Äußerungen immer mehr ein. Nach dem 11. Plenum des SED-Zentralkomitees im Dezember 1965 war dem Schriftsteller in der DDR praktisch ein Druckverbot auferlegt worden. Als der Cheflektor des Buchverlags Der Morgen, Heinfried Henniger, 1970 erstmals Kontakt zu Stefan Heym aufnahm, war dieser im öffentlichen Kulturbetrieb der DDR nicht mehr präsent. Erst mit dem politischen Wechsel von Walter Ulbricht zu Erich Honecker und einer damit einhergehenden Neubewertung "problematischer" Schriftsteller, konnten drei seiner bislang verbotenen Romane – "Lassalle" (1968), "Schmähschrift oder Königin gegen Defoe. Erzählt nach den Aufzeichnungen eines gewissen Josiah Creech" (1970) und "Der König David Bericht" (1972) – erscheinen. Heym gehörte damit zu den Schriftstellern der DDR, "die am meisten von dieser neuen positiven Einstellung profitierten."[1]
Die staatlichen Einrichtungen sollten Heym als geschlossene Einheit gegenüberstehen und sich gegenseitig über seine Aktivitäten informieren. Das galt insbesondere für die Buchprojekte. Von den drei freigegebenen Romanen durfte der Buchverlag Der Morgen den "König David Bericht" 1973 publizieren. Der Verlag zeigte starkes Interesse für eine weitere Zusammenarbeit mit dem renommierten Autor. Im Frühjahr 1974 kam die Idee auf, einen Band mit Erzählungen zu veröffentlichen. Das Buch sollte gedruckte und ungedruckte Prosa aus Heyms Feder enthalten. Im November 1974 hatte der Verlagsleiter des Morgen, Wolfgang Tenzler, die erste Unterredung in der Hauptverwaltung Verlage und Buchhandel, um über den geplanten Erzählband zu berichten. Zwei Monate später reichte der Verlag den Druckgenehmigungsantrag mit 13 Erzählungen bei der HV ein.
Weil die Zensorin Marion Fuckas das Außengutachten von Eckhardt Krumbholz als "ziemlich oberflächlich, und die 'Lesart' der Erzählungen doch zu 'wohlwollend'"[3] empfand, fertigte sie Mitte Februar eine eigene Bewertung an. In Einzelkritiken urteilte sie über Heyms Prosa und stellte schließlich bei allen 13 Geschichten politische oder literarisch-qualitative "Schwächen" fest. Trotzdem tat sich die Zensorin schwer, das Buch komplett zu verbieten: "Es ist eine schwere Entscheidung, zum ersten Buch Heyms, das wieder original [sic!] in der DDR editiert werden soll, Nein zu sagen", schrieb sie an ihren Vorgesetzten.
Anders sah es der Leiter der Abteilung Belletristik, Kunst- und Musikliteratur im Ministerium der Kultur, Gerhard Dahne. Er machte gegenüber seinem Vorgesetzten, dem stellvertretenden Kulturminister Klaus Höpcke, eine eigene Rechnung auf:
"13 Erzählungen liegen vor
2 davon sind bereits bei uns erschienen
3 gehen inhaltlich nicht
2 sind künstlerisch sehr schwach
2 müssen noch bearbeitet werden,
also was soll es? Diese Anthologie hat keine Berechtigung."[4]

Die zweite Erzählung, die kritisch beurteilt wurde, war die Geschichte "Mein Richard", die hier inhaltlich kurz skizziert werden soll. Die Erzählung ist aus der Sicht der Mutter Zunk geschrieben, "eine alte Genossin und selbst Witwe eines alten Genossen"[6]: "Montag war DFD-Versammlung; Dienstag Gewerkschaftsleitung, Diskussion des Betriebskollektivvertrages; Mittwoch war Deutsch-Sowjetische Freundschaft, ein Film über die Baumwollernte in der Usbekischen Sowjetrepublik wurde gezeigt, und eine von unsern Frauen hat von ihrer Moskaureise erzählt …", schildert Frau Zunk einem Polizisten ihren Wochenablauf. Die alltägliche Routine wird mit der Verhaftung ihres Sohnes und des Nachbarjungen jäh durchbrochen. Die Mutter wird von der Polizei verhört, aber weder sie noch der Leser erfahren, warum die Kinder festgesetzt worden sind. Erst als Frau Zunk wieder nach Hause gebracht wird – sie wohnt direkt an der Berliner Mauer – und sie die Grenzpolizisten im und um das Haus sieht, vermutet sie, dass es sich um versuchte Republikflucht handeln könnte. Aber die Polizisten schweigen weiterhin. Auch der Rechtsanwalt Dr. Kahn, eine Anspielung auf den DDR-Juristen Friedrich Karl Kaul, darf mit ihr nicht über den Fall sprechen. Als sie beim Besuch im Gefängnis ihren Sohn nach dem Grund der Inhaftierung fragt, geht ein Wärter energisch dazwischen. Eine Wand aus Schweigen umgibt die Genossin. Bis zum Prozess hat Frau Zunk mit psychischen Problemen zu kämpfen, Angstzustände, Stumpfheit plagen die Mutter. Sie ist von ihrer Arbeit suspendiert worden und kämpft mit der Ungewissheit, bis die Verhandlung sie in die Wirklichkeit zurückholt: "Der Staatanwalt las von unserer Jungend, die in ihrer überwältigenden Mehrheit den Zielen und Errungenschaften den Sozialismus gegenüber eine positive Haltung einnahm und die nichts sehnlicher wünscht, als noch größere Errungenschaften erreichen zu helfen. Dann las er von dem antifaschistischen Schutzwall als einem Bollwerk im Kampf gegen den Imperialismus, und wie unsere Jugend in ihrer überwältigenden Mehrheit durch Wort und Tat bewies, dass sie dessen Wichtigkeit durchaus verstand und zu schätzen wusste – nicht so die beiden Angeklagten. Er verlas eine Vielzahl von Daten, vierzehn insgesamt, an denen die Angeklagten in voller Kenntnis der Strafbarkeit ihrer Handlungen besagten antifaschistischen Schutzwall in beiden Richtungen überquerten, immer an der gleichen Stelle, nämlich hinter der zu dem beiderseitigen elterlichen Wohnhaus gehörigen Garage, wobei sie den Posten, die diesen Abschnitt des Schutzwalls zu bewachen hatten, und den technischen Einrichtungen, durch welche die Posten alarmiert werden sollten, mit List aus dem Wege gingen und derart Paragraph So-und-so und So-und-so des Strafgesetzbuches der Republik absichtlich verletzten; sie seien sogar so weit gegangen, Vertretern der kapitalistischen Westpresse gegenüber sich ihrer Taten zu rühmen, wodurch sie die Gesetze und Einrichtungen unserer Republik der Lächerlichkeit preisgaben und Wasser auf die Mühlen der imperialistischen Propaganda gossen, wie aus Beweisstück A der Staatsanwaltschaft ersichtlich."[7]
Der Nachbar und Frau Zunks Sohn hatten 14-mal die Berliner Mauer in beiden Richtungen überwunden. Beweisstück A ist der Artikel einer westdeutschen Zeitung über die Besuche der beiden Jugendlichen in West-Berlin. Es ist letztlich das einzige Beweisstück in der gesamten Gerichtsverhandlung. In den Zeugenstand gerufen, erzählen die Jungen von den Kinobesuchen, der Currywurst und der Cola. Frau Zunk muss mit ansehen, wie sich die Jugendlichen selbst belasten. Schließlich das Urteil: Der 18-jährige Richard Edelweiß wird in die Armee einberufen, Richard Zunk muss in den Jugendwerkhof. Seine Mutter bleibt fassungslos zurück. Die Pointe der Geschichte hat sich Stefan Heym bis zum Schluss aufbewahrt. Nach der Verhandlung treffen sich der Staatsanwalt und Verteidiger Kahn zu einem kleinen Schwätzchen:
"'Wenn ich Sie gewesen wäre, Genosse Staatsanwalt, ich hätte einen Orden für die beiden Jungen beantragt.'
'Wieso das?' fragte der Staatsanwalt.
'Weil sie vierzehnmal hintereinander ihre absolute Treue zu unserer Republik unter Beweis gestellt haben.'"[8]
Dies bildet den ironischen Abschluss dieser skurrilen Erzählung. Heym gibt der Geschichte durch die Aussage Kahns eine neue Perspektive, nicht die Flucht in den Westen, sondern die Heimkehr aus dem kapitalistischen Ausland sei der eigentliche Skandal. Demnach hätten die Jungen eher Lob als Tadel verdient. Neben den Mauerspringern steht nun die Mutter Zunk, die von allen Seiten zu hören bekommt, dass sie in ihrer Erziehung versagt habe und ihrer Verantwortung als Genossin nicht nachgekommen sei.
Auch die Zensorin Fuckas stellt die Mutter in den Mittelpunkt ihrer Beurteilung, so schreibt sie: "Die Erzählung berührt Probleme, die sich aus der besonderen Lage der DDR ergeben, und darüber hinaus Fragen wie: was wissen Eltern von ihren Kindern, wie vereinbaren sich aktive gesellschaftliche Arbeit mit der Verantwortung für die Erziehung der Kinder, wie werden besonders alleinstehende Mütter damit fertig etc. Leider kommt es Heym offenbar weniger darauf an, anhand der aufgegriffenen 'unerhörten' Begebenheit, gesellschaftliche Widersprüche auszuloten, als Erscheinungen des gesellschaftlichen Überbaus zu kritisieren (…) Auf unangenehm wirkende ironische Art wird die Arbeit der Ermittlungs- und Justizorgane abqualifiziert; Stimmungen der Angst und Hoffnungslosigkeit dominieren (…) Heym ist auf Vorschläge des Verlages, die Geschichte zu überarbeiten, nicht eingegangen. So kann sie nicht akzeptiert werden."[9]