Regionale Macht-Räume im Zentralismus? Die "Eigenverantwortung" der örtlichen Organe der DDR
Funktionäre und Fachplaner waren in der DDR politischen Programmen und Planvorgaben verpflichtet, die für die drängenden Probleme in ihren Städten und Gemeinden oftmals keine adäquaten Lösungen boten. Lena Kuhl verfolgt in ihrem Beitrag die Frage, inwieweit solche Konstellationen zur Entwicklung von "Macht-Räumen" in den Handlungsbereichen der Regionalpolitik beitrugen und was das für das politische System bedeutete. Interviews mit ehemaligen Funktionären geben Aufschluss über informelle Vorgänge und deren Deutung.
I. Macht-Räume im regionalen Staatsapparat
Die DDR-Führung hatte den Anspruch, mit ihren Programmen zur städtebaulichen und territorialen Entwicklung umfassende Lösungen durchzusetzen. In den Städten und Gemeinden der DDR bot sich jedoch häufig ein ganz anderes Bild.In den 1970er Jahren verfielen in Karl-Marx-Stadt, dem heutigen Chemnitz, in der Innenstadt hunderte Altbauwohnungen. Um die Wohnungsnachfrage in der wachsenden Bezirksstadt bedienen zu können, sollten im Fritz-Heckert-Gebiet am Rande der Stadt statt der bisher geplanten 25.000 Wohneinheiten 37.000 Wohnungen neu gebaut werden. Aus städtebaulicher wie volkswirtschaftlicher Sicht schien die Entscheidung unverantwortlich. Rückblickend äußerte der damalige Stadtarchitekt Karl-Joachim Beuchel:
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"Wir mussten das erweitern! Weil die Modernisierungen nicht in Gang kamen wie eigentlich geplant. Da mussten immer mehr Neubauwohnungen am Rande der Stadt gebaut werden, und damit das Neubaugebiet erweitert werden. Und da war klar: Das kann so nicht richtig sein – da geht was verkehrt!"[1]
Städtebauprogramme und ihre Bedeutung für die Regionen
Das Problem wurzelte bereits in einer Haltung, die mit dem Fokus auf den Aufbau des Sozialismus die vermeintlich temporäre Vernachlässigung einer Reihe von Aufgaben und Problemen in Kauf nahm. In den 1950er und 1960er Jahren strebte die politische Führung die Umgestaltung der gesamten Republik an: Die Unterschiede im Lebensniveau zwischen Stadt und Land sowie zwischen dem ländlichem Norden und dem urbanisierten Süden sollten ausgeglichen werden. Frankfurt (Oder), im heutigen Land Brandenburg östlich von Berlin gelegen, galt als Vorzeigebeispiel für die Entwicklung eines ländlichen Agrarbezirks zum Industriebezirk. Hier entstanden an der polnischen Grenze Eisenhüttenstadt und Schwedt als neue sozialistische Städte mit industrieller und symbolischer Bedeutung. Ganz im Gegensatz zur Idee der egalisierenden Urbanisierungspolitik begann der Aufbau entsprechend mit einer massiven territorialen Ungleichbehandlung. Mit dem Blick auf die anderen Kreise, die kaum Aufbauleistungen erhielten, erklärte Harry Mönch, Ratsvorsitzender des Bezirkes Frankfurt (Oder), dass Schwerpunktsetzungen immer auch die Vernachlässigung anderer bedeuteten:
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"Da wurde ich in einer Sitzung mit Genosse Stoph, da ging es um Wohnungsbau, wurde ich von der Plankommission gelobt, weil im Bezirk Frankfurt (Oder) achtzig Prozent des komplexen Wohnungsbaus auf fünf Standorte verteilt war – hat der gesagt, "Das ist gut!". Ja. Aber so gut wie schlecht. Denn die anderen Kreise-, ist ja Ihre Frage auch, die haben nichts gekriegt. […] da haben wir alle nur Reparatur […] gemacht, aber wenig neuen Wohnungsbau."[2]
Städtebau als örtliche Aufgabe in den 1970er und 1980er Jahren
Die Kurskorrektur wurde mit der Ablösung Walter Ulbrichts durch Erich Honecker als Erstem Sekretär des Zentralkomitees der SED eingeleitet. Mit der "Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik" wurde die wachstumsorientierte Strukturpolitik der Ära Ulbricht von einer gegenwartsorientierten Versorgungspolitik abgelöst, mit der die Lebensverhältnisse in der DDR unmittelbarer verbessert werden sollten.[4] Investitionen, die bisher vor allem in den Aufbau von Industriestädten und repräsentativen Stadtzentren geflossen waren, wurden nun in das breiter aufgestellte Wohnungsbauprogramm gelenkt. Fachplanerische Leitbilder sollten sich stärker am bestehenden Siedlungsnetz und der Idee einer Einheit von Neubau, Werterhaltung und Modernisierung orientieren. Auch die zuvor als Überbleibsel überwundener Gesellschaftsordnungen ideologisch abgewerteten, vernachlässigten und zunehmend verfallenden Altbauwohnungen wurden langsam als wertvolle Ressource verstanden. Damit diversifizierten sich die legitimen städteplanerischen Optionen.[5]
Für Lothar Fichtner, 1981 bis 1990 Ratsvorsitzender des Bezirks Karl-Marx-Stadt, bedeutete das in seiner Verantwortung gegenüber dem gesamten Bezirk eine ganz andere Ausgangssituation als für den eben gehörten Harry Mönch in Frankfurt (Oder): In allen Kreisen des Bezirkes waren bis zum Ende der 1980er Jahre Neubauvorhaben umgesetzt worden. Doch der Verfall der Altbausubstanz, die brennende Frage des Städtebaus, blieb davon unberührt. Die Neuorientierung in der Baupolitik ließ sich mit den großen Plattenbauwerken und Baukombinaten der Bezirke, die auf den industriellen Wohnungsneubau ausgerichtet waren, nicht ohne weiteres umsetzen.[6] Weder die Wohnungsbautypen, die vorgefertigten Bauelemente noch die für die Montage benötigten Kräne waren für die Lückenbebauung in den historischen Altstädten ausgelegt. Die technisch-ökonomische Ausrichtung des Bauwesens schränkte die politische und auch fachplanerische Ausrichtung und Praxis deutlich ein. Erst mit der Entwicklung der Wohnungsbauserie 70 (WBS 70) zu Beginn der 1970er Jahre wurden kleinteiligere Anpassungen an die bestehenden städtebaulichen Strukturen möglich. Wenn die bestehenden Gebäude erhalten, saniert oder modernisiert werden sollten, konnten die großen Baubetriebe mit der industriellen Bauweise nicht weiterhelfen. Diese drängende und über Jahre vernachlässigte Aufgabe lag vielmehr bei den traditionell arbeitenden örtlichen Baubetrieben. Es war entsprechend nicht der "lange Arm" der Zentrale, der für die Modernisierung und Instandhaltung der Altbaugebiete sorgen konnte. Beim Erfahrungsaustausch der Gemeindeverbände in Karl-Marx-Stadt 1976 machte der Bezirksratsvorsitzenden Heinz Arnold deutlich, was das Wohnungsbauprogramm für die Kommunen bedeutete: Es gelte die Vorgabe des Zentralkomitees der SED,
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"daß es keine Stadt oder Gemeinde geben darf, in der bis 1980 die Wohnverhältnisse der Bürger nicht durch Modernisierung oder Neubau von Wohnungseinheiten verbessert werden."
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"Das erfordert, in den Gemeindeverbänden die Initiativen der Bürger, der Kollektive aus kleineren Betrieben und den LPG für die Modernisierung und den Eigenheimbau zu mobilisieren und auch örtliche Reserven und Potenzen zur Bereitstellung von Baumaterial zu erschließen."[7]
II. Entwicklung regionaler Macht-Räume im Rahmen der zentralistischen Planwirtschaft
Grenzen der Planwirtschaft und regionale HandlungsräumeInformelle Strategien spielten dann eine zentrale Rolle in der Herrschaftspraxis, wenn die Möglichkeiten ausgeschöpft waren, um wichtige Projekte im formal vorgesehenen Rahmen zur realisieren. Leitende Funktionäre im regionalen Staatsapparat hatten zwar die Möglichkeit, Aufgaben und Investitionen für ihren Verantwortungsbereich in den jährlichen Planberatungen zu verhandeln. Die verschiedenen Schwerpunktsetzungen und Programme, die auf zentraler Ebene entschieden wurden, ließen jedoch wenig Spielraum für lokalpolitische Entscheidungen. Konfrontiert mit Problemen, die im Rahmen der Planwirtschaft entsprechend nicht gelöst werden konnten, setzte beispielsweise der Ratsvorsitzende des Bezirks Karl-Marx-Stadt Lothar Fichtner in einem projektbezogenen Netzwerk zusammen mit den leitenden Wirtschaftsfunktionären, Baudirektoren und Kreisräten des Bezirkes die Modernisierung des Chemnitzer Opernhauses um, die im rechtlich verbindlichen Plan nicht vorgesehen war. Weithin sichtbare Projekte wie dieses wurden so als "Schwarzbauten" umgesetzt und beim Besuch des Bauministers beispielsweise als Arbeit an Fernwärmetrassen ausgegeben.[8] Beispiele wie dieses, euphemistisch sprach man auch von "Initiativbauten", findet man so oder so ähnlich in der gesamten DDR. Der Frankfurter Ratsvorsitzende Harry Mönch verwies etwa auf die Errichtung des Krankenhauses in Rüdersdorf und des Hotels Stadt Frankfurt, die erstmal nicht eingeplant waren. All dies waren echte Herzensprojekte, die als Grundausstattung im Bezirk aber auch benötigt und von zentraler Stelle erwartet wurden, wie Mönch am Beispiel des Besuchs des Nobelpreisträgers Werner Forßmann im Bezirk deutlich machte:
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"Aber solche Leute unterzubringen war ein Problem! Ich kann doch nicht sagen, er muss nach Berlin fahren, also da gab's schon echte Probleme, wo wir also auch eine Lösung finden mussten, ja? […] da wurde gesagt, der Staatsapparat muss dafür sorgen, dass das und das besser wird. Ob das im Plan war oder nicht, hat ja die Leute nicht interessiert."[9]
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"Der Verteidigungsminister, hatte sein Ferienheim, also das Ferienheim des Ministeriums für Verteidigung oben in Oberwiesenthal, ne ganz kleine Hütte heute […]. Äh die hätten uns gesagt ‚Was seid ihr denn für’n Bezirk, bringen nicht mal so ne Bahn zustande? Kann doch wohl nicht wahr sein! Ne, setzt euch mal hin, überlegt mal was, wir, wir organisieren da ne ganze Verteidigung fürs ganze Land und ihr bringt nicht mal ne Schwebebahn hier zum Fahren. Das kann doch wohl nicht sein!‘ Na, die hätten uns dann Maß genommen dafür."[10]
Schwarzbauten, Zweckentfremdung staatlich verplanten Baumaterials und Feierabendtätigkeiten trieben im privaten wie planwirtschaftlichen Bereich teils anarchisch anmutende Blüten – wohl auch basierend auf der Erfahrung, dass die eigenen Vorhaben auf regulärem Weg kaum umsetzbar waren.[13] Und wenn wie durch solche Initiativen auch einige Verbesserungen erreicht werden konnten – die grundlegenden Probleme waren damit nicht gelöst, weil die Ressourcenausstattung und Entscheidungsbefugnisse der weisungsgebundenen Organe der zunehmenden Verantwortung nicht in entsprechendem Maße angeglichen wurden. Bereits zu Beginn der 1980er Jahren sahen die Räte der Kreise im Bezirk Karl-Marx-Stadt die Lösung der Wohnungsfrage bis 1990 als gescheitert an: Bei Realisierung des Plans läge der Modernisierungsbedarf in Plauen dann noch bei 10.000, in Freiberg bei noch 6700 Wohnungen.[14] Der Verfall der Altstädte in der gesamten Republik und die fehlenden Ressourcen der Städte und Gemeinden, diesen wirksam aufzuhalten, verwiesen weithin sichtbar auf die strukturellen Schwächen des Planungssystems und staatlichen Bauwesens.
Fachplanung im Staatsapparat

Erfolge wie die Modernisierung des Altbaugebietes Brühl in Karl-Marx-Stadt standen im krassen Gegensatz zur Konzentration der Ressourcen auf Neubauvorhaben wie das Fritz-Heckert-Gebiet, die auch durch die Verantwortlichen vor Ort nicht zu verhindern waren. Zu groß war der Druck auf den Wohnungsmarkt, zu gering die Kapazitäten für den Werterhalt. So trafen sich in den Projekten persönlicher Erfolg und Enttäuschungen über die Ausrichtung der Baupolitik: Das volkswirtschaftliche Paradoxon war unübersehbar – für jede zweite Wohnung, die gebaut wurde, verfiel eine Altbauwohnung und wurde unbewohnbar.[15] Die Forderungen nach einer kostendeckenden Mietpreispolitik und der Förderung des konventionellen Bauhandwerks waren als Problemlösungsansätze politisch zu lange unbeachtet geblieben.
Fachplaner wie Funktionäre erfuhren die Grenzen der eigenen Wirksamkeit im politischen System der DDR – und so dominierten neben dem Narrativ der persönlichen Machbarkeit resignative Momente: "Aber keiner konnte die Bremse einwerfen. Keiner konnte das ändern", "Aber, Beschluss ist Beschluss", "da konnte man nichts machen".[16] In den rückblickenden Erzählungen insbesondere der Fachplaner dominiert häufig Frustration und innere Distanzierung. Ausschlaggebend für die Einschätzung der eigenen Arbeit waren die Möglichkeiten, die Situation vor Ort wirksam verbessern und problemorientierte Lösungen umsetzen zu können. Im Gegensatz zu den Funktionären verfügten die Fachplaner im Staatsapparat kaum über Ressourcen und institutionelle Freiräume, um eigene Vorstellungen umzusetzen. Zudem gelang die Einbindung von Experten abseits der kleinteiligen, projektbezogenen Arbeit im Rahmen der planwirtschaftlichen und zentralistischen Organisation der Baupolitik, die für grundsätzliche Problematisierungen kaum Raum ließ, nicht.
Schluss
Die Beispiele zeigen eine immer wieder an den regionalen Bedürfnissen ausgerichtete Praxis der Fachplaner und Funktionäre, die sich – zur Not auch vorbei an den offiziellen Spielregeln und zentralen Vorgaben – unter Ausnutzung ihres sozialen Kapitals für Projekte vor Ort einsetzten. Diese Existenz von eigenen Macht-Räumen, das heißt der Möglichkeit, Vorhaben nach eigenen, auch abweichenden Vorstellungen umzusetzen, trug mittelfristig zur Stabilität in den Regionen und zur Bindung der Verantwortlichen an das Herrschaftssystem bei. Umfassende Erfolge waren in den so stabilisierten Strukturen jedoch nicht zu erreichen. Die Vorhaben blieben regional begrenzt, ausbleibende Grundsatzdiskussionen und Reformen verhinderten strukturelle Verbesserungen in der Organisation von Fachplanung und Planwirtschaft und die Entfaltung einer wirksamen Regionalpolitik.
Die politisch forcierte Ausrichtung auf die gesamtstaatliche Entwicklung, auf Kosten der nachgeordneten Ebenen, führte über die Jahre zu überall sichtbaren Problemen, die die Legitimation des Herrschaftssystems zunehmend in Frage stellten. Das Gefühl, dass verbindliche zentrale Programme an den Problemen vor Ort vorbeiführten, bestand auch in Teilen des Herrschaftsapparates, insbesondere der Fachplanung. Die Wahrnehmung von Defiziten bestärkte örtliche Funktionäre darin, von Auflagen und Programmen abzuweichen.
Die Orientierung und Ausrichtung der Akteure auf der regionalen Ebene des Herrschaftsapparates wurden in den Jahren 1989 und 1990 besonders deutlich. Architekten und Stadtplaner zogen sich auf ihre fachplanerischen Kriterien zurück, die oft im Widerspruch zur staatlichen Baupolitik gestanden hatten. Die leitenden Mitarbeiter des Staatsapparates gingen in vielen Fällen pragmatisch mit den veränderten Bedingungen um, was die sachbezogene Verwaltungsarbeit in den Territorien auch in der Übergangszeit ermöglichte. Besonders hart trafen Kritik und Anfeindungen aus den Reihen der Bevölkerung die Funktionäre des Parteiapparates, die mit ihrer Orientierung an Kurs und die Ideologie der Staatspartei kaum als Vertreter ihrer Region wahrgenommen worden waren.[17]
In der Krise der 1980er Jahre trat der regionale Herrschaftsapparat letztendlich nicht als Impulsgeber auf. Stattdessen war die Loyalität zum sozialistischen Staat ausschlaggebend: Auch die regional rückgebundenen Funktionäre argumentierten im Rahmen des autoritären Diskurses, statt ihre Machtpositionen abweichend, etwa im Sinne ihrer Territorien, auszuüben.[18] Regionale Macht-Räume stellten den zentralstaatlichen Herrschaftsanspruch nicht in Frage, beschränkten sich ganz im Sinne der "Eigenverantwortung" auf ortsbezogene Probleme und trugen damit zur prekären Stabilität der DDR bei.
Zitierweise: Lena Kuhl, Regionale Macht-Räume im Zentralismus? Die "Eigenverantwortung" der örtlichen Organe der DDR, in: Deutschland Archiv, 14.7.2016, Link: www.bpb.de/230157