Die Friedliche Revolution – eine „protestantische Revolution“?
Beobachter und Beteiligte der Friedlichen Revolution in der DDR schrieben der evangelischen Kirche große Bedeutung für den Umbruch zu. Mancher sprach sogar von einer ,protestantischen Revolution‘, um auf die Rolle der Kirche als institutionellem Schutzraum der Opposition und auf den christlichen Glauben als Motivation für viele Oppositionelle hinzuweisen. So rasch, wie diese Etikettierung aufkam, verschwand sie allerdings auch wieder, angesichts der insgesamt ambivalenten Haltung der evangelischen Kirche gegenüber der DDR. Zudem überlagerte die Fokussierung auf den Beitrag der evangelischen Kirche deren tatsächliche Bedeutung für die Ereignisse.
Die Bedeutung des ostdeutschen Protestantismus für die Friedliche Revolution bestand vor allem in seiner institutionellen Verfasstheit: Die evangelischen Landeskirchen standen dem SED-Staat 40 Jahre lang als einzige nichtstaatliche Großorganisation mit breitem Rückhalt in der Bevölkerung gegenüber. In einer eigentümlichen Mischung aus Widerstand, Anpassung und Rückzug – den drei möglichen Strategien, mit denen Religionsgemeinschaften auf die Herausforderung durch einen totalitären Staat reagieren
Erfahrungen und Traditionen
Die sich gegenüber der totalitären Herausforderung behauptende institutionelle Verfasstheit der Kirche war allerdings nicht denkbar ohne die Glaubensinhalte, die zudem die besondere Art und Weise, wie sich einzelne Religionsgemeinschaften verhielten, mitbestimmten. Für den DDR-Protestantismus gilt, dass für ihn zum einen die Tradition des reformatorischen Christentums und zum anderen die Erfahrungen der Bekennenden Kirche während des Drittens Reichs das Verhalten gegenüber dem SED-Staat geprägt haben. Diese Tradition und Erfahrungen waren während der ganzen Zeit der DDR gegenwärtig und bestimmten den Blick auf die Wirklichkeit und den Umgang mit ihr. Immer wieder wurden sie auch offen zur Diskussion gestellt und vor allem im Zusammenhang mit den Weichenstellungen für den weiteren Weg des ostdeutschen Protestantismus für neue Herausforderungen nutzbar gemacht. Zu nennen sind hier etwa die innerkirchlichen Diskussionen Anfang der 1970er Jahre im Rahmen der Selbstfindung des Bundes Evangelischer Kirchen in der DDR und die Diskussionen der späten 1970er und frühen 1980er Jahre um das kirchliche Engagement für Menschenrechte, Friedenserhaltung und Umweltschutz. Grundlegend für diese Diskussionen und auch für den Beitrag des ostdeutschen Protestantismus zur Friedlichen Revolution aber war eine Debatte, die Ende der 1950er und Anfang der 1960er Jahre geführt wurde und in einem im März 1963 veröffentlichten Papier gipfelte.
Johannes Hamel und die Diskussion über das christliche Leben im ostdeutschen Protestantismus der 1950er Jahre
Dass aus der Sowjetischen Besatzungszone (SBZ) ein eigenständiger deutscher Teilstaat werden würde und die politischen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse hier auf Dauer durch die Sowjetisierung bestimmt sein würden, war Ende der 1940er, Anfang der 1950er Jahre für viele nicht absehbar. Auch für die evangelischen Landeskirchen in der SBZ und der DDR, in denen die große Mehrheit der Bevölkerung Mitglied war, war die sich abzeichnende deutsche Teilung und die Eingliederung des östlichen Teilstaats in den sowjetischen Machtblock kaum mehr als eine aktuelle Herausforderung, auf die man ad hoc reagieren musste. Gedanken darüber, wie man auf Dauer in einem Gemeinwesen mit totalitärem Charakter existieren könnte, machte man sich kaum. Nur vereinzelt wurden Stimmen laut, die über den begrenzten Horizont aktueller Herausforderungen hinausdachten. Eine dieser Stimmen war die von Johannes Hamel, der bis 1955 als Studentenpfarrer in Halle (Saale) und seit 1955 als Dozent am Katechetischen Oberseminar Naumburg wirkte.
Bedeutsam für Hamels Konzeption war, dass er nicht die Frage des Verhältnisses von Kirche und Staat und die damit zusammenhängenden Fragen nach der Legitimität der weltlichen Obrigkeit oder nach der politischen Verantwortung der Kirche in den Mittelpunkt stellte, wie es der Protestantismus üblicherweise im Anschluss an Römer 13 tat, sondern vom einzelnen und seinem Leben in der DDR ausging.
1957/58 entfaltete Hamel diese Überlegungen zum christlichen Leben in der DDR in mehreren breit rezipierten Publikationen
Ein vierfaches ,Ja'
Hamel sah in der Bibel ein vierfaches ,Jaʻ und ein einfaches ,Neinʻ bezeugt, das genauso damals wie heute Leitlinie christlichen Lebens in der Welt sei. Das vierfache ,Jaʻ besage erstens, dass die innerweltlichen Machthaber von der Warte Gottes aus gesehen stets nur „Instrumente“ seien: so etwa die Israel bedrohenden Herrscher Assyriens, Babyloniens oder Persiens, so etwa die Jesus zum Tode verurteilenden und hinrichtenden römischen Autoritäten, und so auch die marxistischen Machthaber des Ostblocks.
Zweitens besage dieses ,Jaʻ, dass diese Instrumente Werkzeuge von Gottes Gerichtshandeln seien: Die Bedrückung durch die innerweltlichen Machthaber sei nicht bloß unverschuldetes Leiden, sondern auch Gottes Aufruf zur Umkehr; sie werde zum Anlass, sich selbst zu hinterfragen und das Selbstverständnis und die Praxis der Kirche auf den Prüfstand zu stellen.
Drittens besage dieses ,Jaʻ, dass Gott durch die Indienstnahme der innerweltlichen Mächte für seine Zwecke und den hier laut werdenden Ruf zur Umkehr eine „neue Stunde“ für die Christen ankündige, ja, dass er diese neue Stunde bereits heraufführe, indem gerade die äußere Bedrängnis der Gemeinde ihr neue Wirkungsmöglichkeiten erschließe.
Viertens meine es die Bejahung der gegebenen, wenn vielleicht auch schwierigen oder gar verzweifelten Situation der Christen. Wie der Prophet Jeremia den Deportierten schreibe, sich in Babylon eine neue Existenz aufzubauen und das Beste ihrer Stadt zu suchen, so gelte auch für die Christen in der DDR, dass hier der Ort ihres christlichen Lebens und dass es gerade Gott sei, der wolle, dass sie ihren Alltag hier unter der Parteidiktatur der SED lebten. Hamel ist sich sicher, dass „der Glaube an Jesus Christus […] überall Möglichkeiten zu verantwortlichem Tun“
Das alles will keine theologisch verbrämte Kapitulation vor dem SED-Staat sein, sondern versteht sich als biblisch begründete Anleitung zum christlichen Leben in der DDR: zur verantwortlichen Wahrnehmung des Berufs, zum freundlichen Umgang mit den Mitmenschen, zur Fürsorge für die Schwachen, zur „Mitwirkung an der Gestaltung und Füllung“ der „Ordnungen der Gesellschaft“, und zwar gerade auch „einer vom Marxismus-Leninismus geprägten und geführten Gesellschaft“.
Ein klares ,Nein'
Dass Hamel mit seiner Einschärfung des christlichen Gehorsams im Zeichen des Evangeliums nicht vor dem SED-Staat kapituliert, wird gerade auch durch den fünften Punkt – das „Nein zum Götzendienst“ – deutlich. Denn es gebe auch Grenzen, selbst wenn davon erst im Anschluss an das vierfache ,Ja' und nur in einem einzigen Punkt die Rede ist. Die Grenze, die Hamel hier zieht, ist weniger eine Grenze für die innerweltlichen Machthaber als vielmehr eine Grenze für die Gemeinde. Der Götzendienst – sprich: „Übernahme fremder Gottesbilder (aus politischen oder anderen Gründen), Tarnung faktischer Anbetung des Geschaffenen durch fromme Vokabeln und frommes Tun, Verharmlosung von Rechtsbruch und Gewalttat, von Lebensgenuß unter Mißachtung der Armen und Elenden, von Selbstüberhebung wie von Verzagtheit“
Die Rezeption von Hamels Dialektik
Hamels Dialektik von Gehorsam und Freiheit wurde in der zweiten Hälfte der 1950er Jahre von vielen evangelischen Christen in der DDR als hilfreiche Wegweisung empfunden. Kirchliche Gremien rezipierten seine Überlegungen, und 1959 begann die Evangelische Kirche der Union (EKU) mit breit angelegten Beratungen über die wesentlich von Hamel mitverfasste kirchliche Handreichung „Das Evangelium und das christliche Leben in der Deutschen Demokratischen Republik“. Diese Frage nach dem „christlichen Leben“ und die von Hamel und seinen Mitstreitern skizzierten Antworten erwiesen sich als das rechte Wort zur rechten Zeit. Sie zeigten gerade mit ihrer streng religiösen Fassung der zu diesem Leben anleitenden Formel Gehorsam und Freiheit, dass auch die DDR der Ort christlichen Lebens war und dass dieses Leben in der Verantwortung gegenüber Gott und der Welt geführt werden konnte.
Die SED verfolgte diese Debatten innerhalb der evangelischen Landeskirchen aufmerksam und versuchte, auch lenkend einzugreifen. Dazu übte sie nicht direkten Druck von außen aus, sondern bediente sich staatsloyaler Gruppen und Akteure innerhalb der Kirche. Da gab es etwa den Thüringer Landesbischof Moritz Mitzenheim, der von der SED hofiert wurde, weil er ableugnete, dass das christliche Leben in der DDR überhaupt ein Problem sei, und stattdessen ein friedlich-schiedliches Nebeneinander von Kirche und Staat propagierte. Zu den von der SED gesteuerten Blockparteien gehörte die Ost-CDU, die mit ihrem „Christlichen Realismus“ die Öffnung für den Sozialismus unterstützte und das Bemühen um eine differenzierte Stellungnahme zum SED-Staat ebenfalls kritisch sah. Ähnlich bemühten sich auch ,progressive‘ innerkirchliche Gruppen wie der ,Bund evangelischer Pfarrer‘ oder der Weißenseer Arbeitskreis, die kirchliche Meinungsbildung im Sinne der SED zu beeinflussen. All diese Bemühungen blieben allerdings ohne großen Erfolg, war doch der Grundkonflikt zwischen der Religions- und Kirchenfeindschaft der SED und der christlichen Prägung großer Teile der Bevölkerung und den institutionell immer noch starken christlichen Kirchen unübersehbar.
Die Herausforderung durch den Mauerbau
Die Schließung des letzten passierbaren Teilstücks der innerdeutschen Grenze im August 1961 lenkte die Diskussion über das christliche Leben in der DDR in neue Bahnen, gab es nunmehr doch nicht mehr die Flucht als Alternative des Sich-Einlassens auf die gegebene Situation in DDR und wurde damit doch die Aufforderung zum im Glauben auf sich genommenen „Bleiben in der DDR“
Die „Zehn Artikel“ gehen auf mehrere Papiere zurück, die Johannes Hamel im Auftrag des Ausschusses der Evangelischen Kirche der Union für öffentliche Verantwortung im Herbst 1961 konzipiert hatte und in denen er seine in den 1950er Jahren entwickelte Konzeption den neuen Herausforderungen anzupassen versuchte.
Die im März 1963 verabschiedeten „Zehn Artikel“ wurden innerkirchlich verbreitet und diskutiert. Die Zensur verhinderte einen Separatdruck und eine Zeitschriftenveröffentlichung in der DDR, sodass der Text nur als Vervielfältigung für den innerkirchlichen Dienstgebrauch zirkulieren konnte. Als „der Kirche heute in Auslegung von Schrift und Bekenntnis gegebene Wegweisung“ – so die Charakterisierung der Artikel im Beschluss der Konferenz der Kirchenleitungen – stieß sie auf ein überwiegend positives Echo. Anders als erhofft etablierten sie sich aber nicht als eine Art neue „Barmer Theologische Erklärung“, also als allgemein anerkannte und auf Dauer präsente Leitlinie kirchlichen Lebens und Handelns.
Abschluss
Wenn Rainer Eppelmann im Rückblick auf die späten 1980er Jahre feststellt, dass das politische Engagement, das sich in den 1980er Jahren im Raum der ostdeutschen Landeskirchen entwickelte, in der „evangelischen Freiheit“ gegründet habe,
Zitierweise: Andreas Stegmann, „Dienst und Freiheit“ – Die Neubesinnung auf das christliche Leben in der DDR Ende der 1950er und Anfang der 1960er Jahre, in: Deutschland Archiv, 15.3.2018, Link: www.bpb.de/266152