Wie stellt der Klassenfeind die preußische Geschichte aus?
Die Wahrnehmung und Wirkung der 1981 in West-Berlin gezeigten Sonderausstellung „Preußen – Versuch einer Bilanz“ in der DDR

Die Rückkehr zweier Preußenkönige
„Reitet für die DDR“ – unter dieser Überschrift berichtete die Zeit im Dezember 1980 über ein für westdeutsche Leserinnen und Leser verblüffendes Ereignis: Die Rückkehr des Reiterstandbilds Friedrich II. nach Ost-Berlin.[1] Dreißig Jahre zuvor war das Standbild mit der Begründung, Friedrich reite gen Osten, in einen entlegenen Winkel des Schlossparks von Sansscouci verbannt worden.[2] Nun kehrte der Preußenkönig auf Beschluss Erich Honeckers zurück auf seinen Sockel Unter den Linden und verkörperte recht wirkungsmächtig einen geschichtspolitischen Umschwung in der DDR. Preußen, bisher vor allem als Hort des Militarismus und Junkertums in der ostdeutschen Geschichtsschreibung verankert, sollte nun ebenfalls in die DDR-Nationalgeschichte integriert werden.[3] Dies wiederum fand im Westen einige Beachtung, wie auch die flächendeckende Berichterstattung über die Rückkehr des Reiterstandbildes zeigt.[4]Wenige Monate später schwebte erneut ein Preußenkönig durch Berlin – diesmal allerdings im Westteil der Stadt. Im Zuge der Aufbauarbeiten zur großen Sonderausstellung „Preußen – Versuch einer Bilanz“ installierten die West-Berliner Ausstellungsmacher ein Reiterstandbild von Wilhelm I. unter der Decke des Lichthofs im Martin-Gropius-Bau. Genau wie die Wiederaufstellung seines Ahnen Friedrich erregte auch der schwebende Wilhelm einiges Aufsehen.[5] Schon die Debatten um das Projekt an sich und später auch um seine Konzeption und Realisation wirbelten in Westdeutschland einigen Staub auf. Die über Jahre geführten Kontroversen im Vorfeld des Ausstellungsprojekts sind gut dokumentiert.[6] Denkbar wäre aber auch, dass die direkt an der Grenze zur DDR im Martin-Gropius-Bau gezeigte Ausstellung über die Mauer hinweg wirkte. Aus der Feind- und Fremdbildforschung entwickelte Forschungsansätze gehen davon aus, dass vor allem in Zeiten politischer Feindschaft und Systemkonkurrenz eine intensive Beobachtung des Gegners stattfindet. Teilweise kann es dabei sogar zu bewussten oder unbewussten Lernprozessen zwischen den Opponenten kommen. Interessierten sich also politische Akteure oder auch Museumsfachleute vor dem Hintergrund einer verschärften System- und Geschichtskonkurrenz in den frühen 1980er Jahren für die Preußen-Ausstellung in West-Berlin?
Preußen auch in Ost-Berlin? Planungen für eine Ausstellung in der Hauptstadt der DDR
Die sich verschärfende geschichtspolitische Konkurrenzsituation der beiden deutschen Staaten beschäftigte in der DDR auch hohe politische Gremien wie den Rat für Geschichtswissenschaft beim Zentralkomitee (ZK) der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands (SED). In West-Berlin, darüber waren die ostdeutschen Funktionäre bereits informiert, konkretisierten sich Ende der 1970er Jahre die Pläne für eine Sonderausstellung zur preußischen Geschichte. Diese solle, so berichtete der Rat, „nach jüngeren Presseberichten 1981 direkt an der Staatsgrenze der DDR im wiederaufgebauten Gebäude des ehemaligen Kunstgewerbemuseums eröffnen“. In einem „vertraulich“ gestempelten Vorschlag für eine zentrale Ausstellung in Ost-Berlin Anfang 1981 hielten die Funktionäre zunächst fest, dass derzeit eine „Verschärfte ideologische Klassenauseinandersetzung zwischen Sozialismus und Imperialismus“ herrsche. Auf lange Sicht, so mahnte der Rat weiter, müssten-
„planmäßig und kontinuierlich alle Möglichkeiten ausgeschöpft werden, um den Anspruch der sozialistischen DDR auf alle progressiven Traditionen der deutschen Geschichte in ihrer ganzen Vielfalt und Breite hervorzuheben und ihn im Kampf gegen den in der BRD vertretenen Antikommunismus und bürgerlichen Nationalismus massenwirksam zur Geltung zu bringen“.
Als passenden Ausstellungsort legte der Rat für Geschichtswissenschaft zunächst das Museum für Deutsche Geschichte (MfDG) fest. Es folgten erste Finanzpläne und Konzepte zur inhaltlichen Ausstellungsgestaltung. Der Direktor des MfDG, Wolfgang Herbst, gab allerdings früh zu bedenken, dass die Realisierung des Ausstellungsvorhabens die Eröffnung der aktuell in der Überarbeitung befindlichen Dauerausstellung massiv verzögern würde und dass dieses Vorhaben momentan absolute Priorität im MfDG haben müsse.[8] Letztlich scheint sich Herbst mit diesem Argument gegen die politischen Planer durchgesetzt zu haben; die „zentrale Ausstellung“ kam trotz eines Beschlussentwurfs für das Politbüro über das Planungsstadium nicht hinaus. Eine Sonderausstellung in Ost-Berlin, die mit „Preußen –Versuch einer Bilanz“ vergleichbar gewesen wäre, kam 1981 nicht zustande.
ZK-Mitglieder, Historiker und ein Museumsdirektor auf geheimer Mission in der Preußen-Ausstellung

Werner Gahrig begab sich gemeinsam mit zwei Mitarbeitern der Abteilung Wissenschaft und Propaganda des ZK sowie einem Mitarbeiter des Instituts für Marxismus-Leninismus nach West-Berlin, um die Preußen-Ausstellung zu besuchen und hinterher an seine Vorgesetzten „über die bei der Besichtigung der Ausstellung gesammelten Eindrücke und erkennbar gewordenen politischen Absichten der Veranstalter rasch zu informieren“.[10] Gahrig skizziert in seinem Bericht kurz den zeitlichen Rahmen und die in der Ausstellung gezeigten Themenbereiche. Auffallend ist, dass er immer wieder fast mit Begeisterung von der Ausstellung berichtet. So lobt er beispielsweise die
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„Orientierung auf die sogenannte Sozialgeschichte, einer Geschichtsauffassung, die Geschichte nicht einseitig als politische Geschichte behandelt, sondern zugleich auch andere Faktoren, besonders der wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung sichtbar macht“.
Gahrigs Bericht bewegt sich nahezu in jedem Absatz im Spannungsfeld zwischen fachlichem Interesse und einer Anerkennung des auf West-Berliner Seite geleisteten und der parteilich verordneten Ablehnung gegenüber der „bürgerlichen“ Geschichtspräsentation im Gropius-Bau. Die Ausführungen des Ost-Berliner Historikers bestätigen in der Praxis, was die Historiker Martin Aust und Daniel Schönpflug in ihrer Feind- und Fremdbildtheorie über systemübergreifendes Lernen in Zeiten politischer Gegnerschaft beschreiben.[11] Werner Gahrigs Bericht über die Preußen-Ausstellung offenbart gleichermaßen einen Verschleiß des Gegnerbildes und den ebenso hartnäckigen Versuch, an diesem Gegnerbild festzuhalten.
Die partielle Kritik an Preußen, so rettet sich Gahrig am Ende aber wieder zurück auf den korrekten sozialistischen Standpunkt, sei freilich nichts weiter als ein geschickter Schachzug des West-Berliner Senats und bundesdeutscher Politiker und diene dazu, „das gegenwärtige imperialistische System der BRD zu rechtfertigen“. Ziel der politischen Akteure im Hintergrund, wie auch der Ausstellungsmacher, sei es Gahrigs Meinung nach gewesen, „eindeutig glaubhaft zu machen, dass die Bundesrepublik das fortschrittliche Preußen verkörpere und die SPD in den Traditionen des demokratischen Teils Preußen“ stehe. Gahrigs Ausführungen, obwohl schlussendlich wieder „auf Linie“, machen deutlich, dass jede Beschäftigung mit dem Gegner die Gefahr birgt, dass die jeweiligen Akteure nicht nur das bisher gehegte Feindbild bestätigt finden, sondern auch die positiven Aspekte des gegnerischen Schaffens für sich erkennen. Darüber hinaus legt Gahrigs Bericht Zeugnis über die teilweise langfristige Wirkung, die auch einzelne Ausstellungsprojekte auf die geschichtswissenschaftlichen und geschichtspolitischen Entscheidungen und Entwicklungen im Konkurrenzstaat entfalteten. Er verweist explizit darauf, dass der Rückstand der DDR gegenüber der Bundesrepublik beim Thema „Preußen-Ausstellung“ und „Berlin-Geschichte“ sich beim 750-jährigen Berlin Jubiläum 1987 keinesfalls wiederholen dürfe – und deshalb akuter Handlungs- und Aufholbedarf auf diesem Feld bestehe – zumal es bisher noch immer keine brauchbare sozialistische Berlin-Historiografie gebe, nach der man das Jubiläum und die dafür geplanten Ausstellungen ausrichten könne. Gahrig beschreibt deshalb nicht nur Inhalt und Intention der Preußen-Ausstellung für seine Auftraggeber sondern stellt auch schon eine ausführlichere Analyse in Aussicht, in der er dann „Aussagen und Wertungen zur Geschichte Berlins“ aufzeigen wolle um daran abzulesen, welches Berlin-Bild man im Westen 1987 präsentieren wolle.
Ein zweiter Bericht lässt bereits einen wesentlich schärferen politischen Ton erkennen. Hier fehlt die Auseinandersetzung mit Ausstellungsinhalt und -gestaltung völlig. Stattdessen steht die politisch-ideologische Beurteilung im Vordergrund. Die Ausstellung, so führt Gahrig aus, „folgt eindeutig politischen Interessen.“[12] Ziel sei es, das Fortbestehen einer einheitlichen deutschen Kulturnation zu propagieren, West-Berlin mit kulturellen Aktivitäten aufzuwerten und die Bundesrepublik als „Bewahrer und Vollender aller progressiven Bestrebungen in der preußischen Geschichte“ vor westdeutschem und internationalem Publikum zu präsentieren. Die Ausstellung weise außerdem einen „antidemokratischen und antikommunistischen Grundzug“ auf.
Soweit überrascht auch diese Einschätzung, zumal von politischer Seite in Auftrag gegeben, nicht. Gahrig leitet aus dem Besuch der Preußen-Ausstellung aber auch konkrete Konsequenzen für das zukünftige Handeln in Ost-Berlin bezüglich preußischer Geschichte und Berliner Stadtgeschichte ab. Er fordert eine
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„Verstärkung der Anstrengung bei der Erforschung und Propagierung der nationalen Traditionen der DDR […] namentlich auch der revolutionären, demokratischen und humanistischen Traditionen der Hauptstadt der DDR, Berlin“.
Diese Forderungen, die der Leiter des Stadtarchivs hier vorbringt, greifen Ideen und Tendenzen auf, die unter Ost-Berliner Historikern bereits vorhanden, von Parteiseite aber bisher weder großartig beachtet noch unterstützt worden waren. Schon 1980 hatten sich Mitarbeiter der Humboldt-Universität zu Berlin mit einem Vertreter der Bezirksleitung getroffen, um über die Entwicklung der Berlinhistoriografie und die Stärkung des Geschichtsbewusstseins in der Ost-Berliner Bevölkerung zu diskutieren. Er hielt die von den Fachwissenschaftlern vorgebrachten Vorschläge, die er allerdings nicht näher benennt, für richtig und unterstützenswert. Darüber hinaus habe auch ihm „die Information über die Vorbereitung einer Preußen-Ausstellung in West-Berlin“ Anlass gegeben, eine eigene ostdeutsche Berlinforschung zu etablieren. Der Blick über die Mauer brachte demnach vor allem im geteilten Berlin die jeweils andere Forschungs- und Ausstellungslandschaft voran. Der Druck im Konkurrenzkampf zu bestehen, eröffnete so auch neue Möglichkeiten und Spielräume für die Akteure auf beiden Seiten. Gahrig nutzt die gegnerische Ausstellung und die Warnung vor der Vereinnahmung bestimmter Geschichtsfelder durch den Systemkonkurrenten, um die bisher von Funktionärsseite stark vernachlässigte Berlin-Historiografie im Osten voranzutreiben. Er wusste die Berichte über die Preußen-Ausstellung also auch für seine eigenen Zwecke einzusetzen.
Der Stellvertretende Direktor des Märkischen Museums, Heribert Hampe, begutachtete die Preußen-Ausstellung wenig später. Er reiste im November 1981 gleich für mehrere Tage nach West-Berlin, um sich insgesamt vier Ausstellungen zur preußischen Geschichte anzuschauen – darunter natürlich „Preußen – Versuch einer Bilanz“.[13] Seinem im Anschluss an den Ausstellungsbesuch verfassten Bericht für die Stadtleitung merkt man den Blick des Museumsmanns deutlich an. Für ihn stand zunächst klar das Interesse daran im Vordergrund, wie die Kollegen in West-Berlin sich dem Thema „Preußen“ genähert und mit welchen gestalterischen Mitteln sie gearbeitet hatten. Detailliert beschreibt er zunächst Gliederung und Themenwahl der Ausstellung und erwähnt lobend, dass bei der Schwerpunktsetzung und auch der Objektauswahl wirtschaftliche, künstlerische und kulturelle Entwicklungen „einen breiten Raum einnahmen“ und politischen und militärischen Belangen weit weniger Aufmerksamkeit gewidmet war.
Ansonsten lässt er aber weder inhaltlich noch gestalterisch ein gutes Haar an der Preußen-Schau des Klassengegners. Er bemängelt, dass aus seiner Sicht wichtige Ereignisse wie die Novemberrevolution oder die Gründung der KPD viel zu kurz, andere historische Ereignisse wie die Französische Revolution oder die sozialistische Oktoberrevolution überhaupt keine Beachtung fänden. Gehässig fährt er fort: „Die technische Aufbereitung der Ausstellung entsprach wie der Inhalt nicht dem neuesten Stand der Museologie“. Der Einsatz der Beleuchtung als Gestaltungsmittel sei „vollkommen misslungen“, der Vitrinenbestand veraltet. Die Texttafeln der Themenräume würden den Besucher mit Informationen überschütten. Zwar begrüßte er die Fülle der ausgestellten Alltagsgegenstände – die Präsentationstechnik sei aber erneut indiskutabel.
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„Dabei verzichtete man […] bewusst darauf, innerhalb eines Raumes Höhepunkte zu schaffen, besonders aussagekräftige Exponate hervorzuheben, Entwicklungslinien bzw. – Tendenzen herauszuarbeiten.“
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„Mit dieser positivistischen Arbeitsmethode erreicht man, daß der Betrachter nur die optisch wirksamsten Ausstellungsstücke betrachtet und dabei vermeintlich positive Akzente in sich aufnimmt.“
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„Unter dem Deckmantel der Objektivität erfolgte eine Verherrlichung der Preußischen Entwicklung, wurden emotionale Empfindungen, die die Keime eines Nationalismus in sich trugen, geweckt, eine kritische Analyse verhindert.“
Fazit

Die deutsch-deutsche Systemkonkurrenz war wenige Jahre später selbst Geschichte. Der „Alte Fritz“ überstand den politischen Wechsel unbehelligt – wurde aber 1997 erneut vom Sockel geholt. Diesmal allerdings zu Restaurierungszwecken. „Am Sonnabend reitet er wieder Unter den Linden“ berichtete Die Welt im Jahr 2000 zur Wiederaufstellung des Reiterstandbildes, das seine Rettung vor dem Verfall ausgerechnet Erich Honecker verdankte.[14]
Zitierweise: Anne Wanner, Wie stellt der Klassenfeind die preußische Geschichte aus? Die Wahrnehmung und Wirkung der 1981 in West-Berlin gezeigten Sonderausstellung „Preußen – Versuch einer Bilanz“ in der DDR, in: Deutschland Archiv, 20.4.2018, Link: www.bpb.de/267948