China und die DDR in den 1980er Jahren – Feinde, Schönwetterfreunde und Komplizen
Der Beitrag gibt einen Einblick in die Anstrengungen der DDR in den 1980er Jahren eine eigenständige Außenpolitik zur Volksrepublik China aufzubauen und sich zum Vermittler zwischen der Sowjetunion und China zu machen, die seit den 1960er Jahren keine diplomatischen Beziehungen unterhielten.
Einleitung
[1]Als Erich Honecker, Generalsekretär der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands (SED), Peking im Oktober 1986 besuchte, unterhielten die Sowjetunion und China aufgrund des sogenannten chinesisch-sowjetischen Risses[2] der 1960er Jahre keine diplomatischen Beziehungen.[3] Honecker überschätzte sich und seinen Einfluss auf politische Entscheidungsträger in Moskau und Peking und erklärte sich selbst zum „Chefschlichter“ zwischen China und der Sowjetunion.
Der Versuch der Reaktivierung der chinesisch-ostdeutschen Beziehungen sollte Honecker wohl auch als Beweis dafür dienen, dass die DDR in der Lage war, eine von der Sowjetunion unabhängige und eigenständige Außenpolitik zu führen. Staatsempfänge in Peking, der Austausch von Universitätsprofessoren, Wissenschaftlern und Studenten und das Unterzeichen von Wirtschafts-und Handelsabkommen in den 1980er Jahren haben allerdings, um es salopp auszudrücken, wenig geholfen. Die 1980er Jahre standen im Zeichen des Ausbaus von Chinas Handels-und Wirtschaftsbeziehungen zur Bundesrepublik.
Die DDR hatte China wenig bis gar nichts anzubieten, was das Land für die Modernisierung seiner Wirtschaft benötigt hätte. Das sollte sich 1989 ändern, als Peking jemanden brauchte, der die dortige Meinung teilte, dass der Panzereinsatz und das Schießen in die Menge auf dem Tiananmen-Platz in der Nacht vom 4. auf den 5. Juni die „Niederschlagung eines konterrevolutionären Aufstandes“ war. Und die DDR war sofort zur Stelle, um der chinesischen Führung nach der gewaltsamen Niederschlagung friedlicher Demonstrationen auf dem Tiananmen-Platz ihre volle Solidarität zu bekunden.[4]
Peking begrüßte die Unterstützung aus Ost-Berlin und die dortige Bereitschaft, die Erklärungen Chinas zu übernehmen. Man revanchierte sich dafür am Ende des gleichen Jahres, nach der Öffnung der innerdeutschen Grenze, mit der Verbreitung von Falschinformationen rund um den Zusammenbruch der DDR.
Schadensbegrenzung
In den frühen 1980er Jahren begannen ostdeutsche Universitätsprofessoren wieder nach China zu reisen – zu einer Zeit, in der auch die Beziehungen zwischen der SED und der Kommunistischen Partei Chinas (CCP) wiederaufgenommen wurden.[5] Außerdem ordnete Ost-Berlin gegenüber den DDR-Verlagshäusern an, chinakritische Veröffentlichungen aus dem Verkehr zu ziehen.Im Februar 1981 – im Rahmen des zehnten SED-Parteitages – kündigte Honecker an, die Beziehungen mit China zu normalisieren: „Die DDR ist dazu bereit, die Beziehungen mit der Volksrepublik China auf der Basis von Gleichheit, Respekt für Souveränität, territorialer Integrität und Nichteinmischung zu unterhalten.”[6] Im Juli 1981 reiste eine Delegation von Vertretern der Abteilung für Internationale Beziehungen des SED-Zentralkomitees, die von Bruno Mahlow angeführt wurde, nach Peking. Dort traf sie Funktionäre des chinesischen Außenministeriums und Wissenschaftler des Instituts für Internationale Beziehungen.[7] Auf diesen Besuch folgte kurze Zeit später ein Besuch zweier Funktionäre des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei (KP) Chinas in Ost-Berlin.
Dieser Besuch dauerte fünf Wochen, und interessanterweise gibt es kein Protokoll, aus dem hervorgeht, was die chinesischen Funktionäre in Ost-Berlin besprachen. Das Protokoll des Besuchs unterstrich lediglich, was nicht besprochen wurde: die Beziehungen zwischen beiden Ländern sowie der KP Chinas und der SED.[8] Dass Ost-Berlin entschied, keine Details zu dem fünfwöchigen Aufenthalt der chinesischen Delegation zu veröffentlichen, mag damit zusammengehangen haben, dass die DDR-Führung eine negative Reaktion aus Moskau befürchtete: Schließlich war das sowjetisch-chinesische Verhältnis alles andere als konfliktfrei.[9] Ost-Berlins Sorge war berechtigt. So warnte ein Schreiben eines Funktionärs des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei der Sowjetunion (KPdSU) vom Juni 1982, dass Pekings Versuch, die Beziehungen zur DDR zu verbessern, das Ziel habe, einen Keil zwischen Ost-Berlin und Moskau zu treiben. „Kennzeichnend für die Pekinger Taktik gegenüber der DDR sind hartnäckige Aufforderungen, die bilateralen Beziehungen auszubauen sowie Bemühungen, dieses Land zur UdSSR in Gegensatz zu bringen.”[10]
„Neutralisierung“ Pekings
Ost-Berlin bestritt, von Peking benutzt worden zu sein. Das genaue Gegenteil, behauptete die DDR-Führungsriege, sei der Fall gewesen. Abgesehen davon, dass die DDR China erfolgreich davon abgehalten habe, westdeutschen „Revanchismus“ zu unterstützen, erklärte Ost-Berlin den Genossen in Moskau, dass die Annäherung an China den Zweck habe, Peking zu „neutralisieren“, um es dann später in den Kampf gegen den globalen Imperialismus einzubinden. In einem Brief an das Zentralkomitee der KPdSU erklärte das Zentralkomitee der SED, dass alle Instrumente – Handels- und Wirtschaftsbeziehungen, Wissenschafts- und Kulturbeziehungen – zu diesem Zwecke eingesetzt werden würden.[11] Um Moskau weiter zu beruhigen, hieß es in dem Schreiben, dass Gespräche über den Aufbau von Militärbeziehungen weiterhin Tabu seien. Ost-Berlins Erklärung, dass der Ausbau von Handels-, Wissenschafts-, und Kulturbeziehungen China davon abhalten würde, seine Beziehungen mit dem „imperialistischen Westen“ zu verstärken, muss sich allerdings in Moskau äußerst unglaubwürdig angehört haben. Unglaubwürdig deshalb, weil China für den Erfolg der von seinem Führer Deng Xiaoping verfolgten Wirtschaftsreformen der späten 1970er Jahre nicht auf den Ausbau von Handelsbeziehungen mit der DDR, sondern auf die Intensivierung der Handelsbeziehungen mit den USA, Japan und der Bundesrepublik Deutschland angewiesen war. Dazu zählten auch Technologieexporte aus diesen Ländern.Den politischen und geopolitischen Realitäten der zweiten Hälfte der 1980er zum Trotz stellte der Brief in Aussicht, dass nach der Phase der „Neutralisierung“ Chinas das Land einbezogen werde, zusammen mit anderen sozialistischen Ländern den (nicht näher definierten) „Hauptstoß gegen den Hauptfeind, den Imperialismus der USA, zu führen.“ Bevor all das erreicht werde, wurde geschlussfolgert, würde China allerdings wie jeder andere „imperialistische Handelspartner“ behandelt werden.
Im Rahmen der mutmaßlichen „Neutralisierungspolitik“ schlossen Ost-Berlin und Peking Anfang 1983 ihr erstes bilaterales Abkommen im Telekommunikationssektor ab. Im April des gleichen Jahres wurden regelmäßige Treffen eines gemeinsamen Komitees für wirtschaftliche, handelspolitische und wissenschaftliche Zusammenarbeit vereinbart. Anhand zusätzlicher Abkommen verpflichtete sich die DDR, China in den Bau- und Entwicklungsphasen von mehr als 40 Industrieprojekten zu assistieren. Die Abkommen und die neu vereinbarte und implementierte Zusammenarbeit wurden von gegenseitigen Besuchen 1984, 1985 und 1986 komplementiert.[12]
Die DDR-Staatsmedien wurden derweil angewiesen, ihre positive China-Berichterstattung zu intensivieren. 1982 galt das auch für die Berichterstattung vor Ort in China. Kurt Vogel, Generalsekretär des DDR-Journalistenverbands, schwärmte nach seiner Rückkehr aus Peking im Winter 1982 in der Zeitschrift Horizont, dass sein Besuch „Ein bewegendes Wiedersehen mit chinesischen Genossen und Kampfgefährten aus den fünfziger Jahren, die den Glauben an die Richtigkeit und Überlegenheit unserer Weltanschauung nicht verloren haben, gewesen ist.“[13]
Die nachfolgenden gegenseitigen Besuche hochrangiger Politiker und Funktionäre in den Jahren 1984 und 1985 sahen weiterhin (viel) weniger nach „Neutralisierung“ als vielmehr nach „Einbindung“ oder Engagement aus. DDR-Vizeaußenminister Herbert Krolikowski reiste z. B. im Mai 1984 nach Peking. Ein Besuch, bei dem unter anderem die Weiterführung eines bilateralen politischen Dialoges beschlossen und ein Außenministertreffen vorbereitet wurden. Außerdem beschloss man während des Besuchs die Wiederaufnahme von offiziellen Beziehungen zwischen der DDR-Volkskammer und Chinas Nationalem Volkskongress und eine Reihe von bilateralen Abkommen in den Bereichen Gesundheit, Handel und Wirtschaft sowie Wissenschaft und Technologie.[14] Auf Krolikowskis Besuch in China folgte ein Besuch von Politbüromitglied Li Peng[15] im Sommer 1985 in Ost-Berlin,[16] der allerdings zeitgleich mit einem Besuch von Politbüromitglied Zhao Ziyang in Bonn stattfand.[17] Aus der Sicht Ost-Berlins ohne Zweifel ein ausreichend hochrangiger Besuch, um Honecker und seine Kollegen glauben zu lassen, dass die DDR von China als Handelspartner und politischer Verbündeter (der ja eigentlich „neutralisiert“ werden sollte) von Bedeutung sei.
Im Juli 1985 traf Gerhard Schürer, Vorsitzender der Staatlichen Planungskommission, Hu Yaobang, Generalsekretär der KP China.[18] Hu allerdings muss Schürer enttäuscht haben, als er davon sprach, dass China eine „friedliche Koexistenz“ zwischen beiden Staaten unterstütze und Ost-Berlins „Dauerbrenner-Verschwörungsthese“, dass in Westdeutschland „revanchistische Kräfte“ an einem Komplott gegen die DDR arbeiten, als unbegründet abtat.[19]
Selbsternannter Chefvermittler Honecker
1986 entschied Honecker, die Sache selbst in die Hand zu nehmen, und kündigte an, sich als „Vermittler“ zwischen Moskau und Peking einzubringen. Er besuchte China vom 21. bis 26. Oktober 1986 und wurde mit allen Ehren in Peking empfangen. Seine chinesischen Gastgeber sahen in ihm einen Mann, in dessen Augen „Weisheit“ und „Selbstvertrauen“’ zu finden seien.[20] Honecker bestand darauf, herauszustellen, dass sein Besuch weder von Moskau beordert noch koordiniert wurde. Deswegen war es auch aus Honeckers Sicht konsequent, dass er seinen Besuch in China als das Resultat seiner jahrelangen Anstrengungen darstellte, das „Chinesisch-Sowjetische Zerwürfnis“ der frühen 1960er Jahre zu bewältigen und den Weg in Richtung Normalisierung der chinesisch-sowjetischen Beziehungen zu fördern. In Peking allerdings hatte Honecker wenig mehr anzubieten als dramatisch klingende Rhetorik, die von „sozialistischer Brüderschaft“ und einem „gemeinsamen Kampf gegen den imperialistisch-revanchistischen Westen“ handelte.Mitte der 1980er Jahre allerdings hatte Chinas Führungsriege Abstand von allzu martialisch klingender Rhetorik genommen. Der Generalsekretär der KP Chinas Hu Yaobang ließ Honecker während ihres Treffen in Peking z. B. wissen, dass China fortan nicht mehr von „US-Imperialismus”, „Japanischem Militarismus” und „Westdeutschem Revanchismus” sprechen werde.[21] Honeckers Vorschlag hingegen, die von Michail Gorbatschow während des Reykjaviker Gipfels im Oktober 1986 unterbreitete Idee gutzuheißen, auf eine Verbesserung der chinesisch-sowjetischen Beziehungen hinzuarbeiten, wurde zensiert und erschien nicht in den chinesischen Medien. Honecker jedoch ließ nicht locker und behauptete, dass sein Besuch in China für den Beginn der Intensivierung bilateraler Wirtschafts- und Handelsbeziehungen stand. Auch das entsprach nicht den Tatsachen. Kurz nach seinem Besuch in China kündigte Peking an, den Export von chinesischen Nutzfahrzeugen in die DDR von jährlich 10.000 auf 6.000 Stück zu reduzieren. Ost-Berlin reagierte darauf, indem es der chinesischen Anfrage, gemeinschaftlich einen kohlenstoffchemischen Industriekomplex in der chinesischen Stadt Wuhai zu bauen, eine Absage erteilte.
Als Peking während des Besuchs an einer Stelle von der „Nation DDR“ sprach, wies Bonn seinen Botschafter in Peking, Per Fischer, an, dem chinesischen Außenministerium zu erklären, dass es nur eine deutsche Nation gebe. Peking erklärte daraufhin (wenig überzeugend), dass es sich bei seinem Konzept einer Nation um ein „idiomatisches Konzept“ handele und nicht um eine Feststellung, dass es zwei deutsche Nationen gibt.
Bis in die frühen 1970er Jahre hatte sich China zuweilen dazu hinreißen lassen, Walter Ulbrichts (abstruse) „Theorie“ zu unterstützen, dass die Teilung Deutschlands nicht nur das Entstehen zweier deutscher Staaten, sondern auch zweier deutscher Nationen gewesen sei – einer friedlichen sozialistischen und einer kapitalistisch-faschistischen.
Im September 1972, einen Monat vor der Aufnahme diplomatischer Beziehungen zwischen Bonn und Peking, ließ Chinas Premierminister Zhou Enlai verlautbaren, dass „Niemand den Deutschen das Recht auf Wiedervereinigung verweigern kann. Man darf hoffen, dass sich die Beziehungen zwischen beiden deutschen Staaten durch den Grundlagenvertrag verbessern werden.”[22] Mitte der 1970er Jahre im Rahmen der Besuche des Ministerpräsidenten von Rheinland-Pfalz und CDU-Parteivorsitzenden, Helmut Kohl, des Bundesaußenministers, Hans-Dietrich Genscher, und des Bundeskanzlers, Helmut Schmidt, ließ China alle drei Gäste aus der Bundesrepublik wissen, dass es aus der Sicht Chinas zwar zwei deutsche Staaten, aber nur eine deutsche Nation gebe.[23]
Besonders Helmut Kohl wurde während seines neuntägigen Besuches in China im September 1974 mehr als einmal – begleitet von Trinksprüchen beim Abendessen – versichert, dass Peking sich von Ost-Berlins „Zwei-deutsche-Nationen-Theorie" endgültig verabschiedet hatte. Nicht zuletzt wohl auch deswegen, weil die Politik der CDU unter Parteichef Kohl gegenüber der Sowjetunion in Peking als ein Gegenpol zu Willy Brandts Ostpolitik verstanden wurde (die von Peking gefürchtet wurde, weil sie den chinesischen Interessen entgegenstand).
Der (ernüchternde) Blick aus China
Peking, so schreibt der Politikwissenschaftler Joachim Krüger, habe den Besuch Honeckers in China für seine Zwecke im Rahmen von einer „Differenzierungspolitik“ benutzt. Die angebliche (aber nicht ernst gemeinte) Verbesserung der Beziehungen zur DDR sei darauf ausgerichtet gewesen, einen Keil zwischen Ost-Berlin und Moskau zu treiben.[24] Es kann außerdem davon ausgegangen werden, dass Peking Ost-Berlin nur bedingt über den Weg traute, und deswegen nicht an die selbsternannte Vermittlerrolle Honeckers glaubte. Chinas „semi- pensionierter“[25] „Oberster Führer“ Deng Xiaoping fand zwar Zeit, Honecker in Peking zu treffen, zeigte aber sehr wenig Interesse an Gesprächen über bilaterale Beziehungen und Fragen der internationalen Politik. Deng beschränkte sich darauf Honecker mitzuteilen, dass China Beziehungen mit den beiden deutschen Staaten auf der Basis von „friedlicher Koexistenz“ zu führen beabsichtige. Ansonsten verwies er auf Hu Yaobang[26] und Zhao Ziyang als Ansprechpartner für Themen der internationalen Beziehungen. „Ich kümmere mich nicht mehr um solch konkrete Themen, und meine Aufgabe ist es, Sie zum Abendessen einzuladen.”[27] Das entsprach allerdings nicht den Tatsachen, da sich Deng Mitte der 1980er noch sehr wohl um konkrete Themen der chinesischen Innen-und Außenpolitik kümmerte. Es war Deng, der 1985 und 1986 höchstpersönlich anordnete, jegliche Form der organisierten politischen Opposition und Proteste gegen Chinas politische Führung mit aller Härte zu verfolgen und zu bestrafen.[28]Glückwünsche aus Ost-Berlin
Als Peking in der Nacht vom 4. auf den 5. Juni 1989 entschied, die friedlichen und gewaltfreien Demonstrationen mit militärischer Gewalt zu beenden, platzierte sich Ost-Berlin in der ersten Reihe der Gratulierenden. Der Allgemeine Deutsche Nachrichtendienst (ADN), die Nachrichtenagentur der DDR, stimmte am 5. Juni mit Peking überein, welches die Ereignisse auf dem Tiananmen-Platz „einen konterrevolutionären Aufstand“ nannte. Es handele sich um eine mutmaßlich vom Ausland finanzierte und gesteuerte Gruppe von „konterrevolutionären Elementen“, die das Ziel hätten, die Regierung in Peking zu stürzen.In Wirklichkeit handelte es sich bei der kleinen Gruppe von „Konterrevolutionären“ um eine landesweite Bewegung von ca. 100 Millionen Bürgerinnen und Bürgern, die von der Regierung einforderten, was diese in den 1980er Jahren versprochen aber nicht geliefert hatte: soziale und politische Reformen.[29] Am 8. Juni sicherte die DDR-Volkskammer der chinesischen Staatsführung ihre „uneingeschränkte Solidarität“ zu und stellte fest, dass „die Regierung gezwungen war, die Ordnung und Sicherheit durch militärische Gewalt wiederherzustellen. Unglücklicherweise führte das zu Toten und Verletzten.“[30] Ende Juni diktierte das SED Zentralkomitee dem Neuen Deutschland, dass die westlichen Medien „Horrornachrichten“ zu den Ereignissen auf dem Tiananmen-Platz verbreitet haben und bestand darauf, dass es sich bei der Niederschlagung der Demonstrationen strikt um eine innere Angelegenheit handelt, in die sich keiner von außen (der „imperialistische“ Westen war gemeint) einzumischen hat.[31] Peking bedankte sich für Ost-Berlins Solidarität, indem es eine Woche nach den gewaltsamen Ausschreitungen auf dem Tiananmen-Platz Außenminister Qian Qichen in die DDR entsandte. Qian und DDR-Außenminister Oskar Fischer entschieden sich dafür, Tiananmen überhaupt nicht anzusprechen und stattdessen über den Ausbau bilateraler Beziehungen zu reden. Beide Seiten bestätigten sich gegenseitige Solidarität im Falle des Versuches des Westens einen Keil zwischen sie zu treiben und „zu retten-was zu retten ist“. Optimisten in Ost-Berlin und Peking sprachen mitunter von dem Einrichten einer „Ost-Berlin-Peking-Achse“ als Gegenreaktion auf den vermeintlichen sowjetischen „Liberalismus“ unter Gorbatschow.[32]
Im September wurde Egon Krenz, stellvertretender Vorsitzender des Staatsrates der DDR, nach Peking entsandt, um Chinas politischer Führung zu der erfolgreichen Niederschlagung des „konterrevolutionären Aufstands“ persönlich und im Namen des SED-Politbüros zu gratulieren. Krenz und Qiao Shi, Mitglied des Ständigen Ausschusses des Politbüros, waren sich einig, wer für die Demonstrationen und Gewalt auf dem Tiananmen-Platz verantwortlich war: Die USA und der Westen, zusammen mit „reaktionären Kräften“ in Taiwan, Hong Kong und Macao.[33] Ost-Berlin, so versicherte Krenz Qiao Shi, hätte genau wie Peking gehandelt, wenn die Bürger der DDR wie die Studenten in Peking demonstriert hätten.[34] Krenz offensichtliche Bereitschaft, friedliche Demonstrationen mit Gewalt niederzuschlagen, führte dazu, dass „chinesische Lösung“ – vor der sich Demonstrierende in Leipzig, Dresden und Ost-Berlin Ende des Jahres 1989 fürchten mussten – zum geflügelten Wort wurde.[35]
Ein interner SED-Bericht kam wenig überraschend zu dem Schluss, dass „ausländische Verschwörer“ dafür verantwortlich seien, dass Peking in der Nacht vom 4. auf den 5. Juni 1989 mit Gewalt reagieren musste. Außerdem stimmte die DDR-Führung ihren Genossen in Peking zu, dass KP-Generalsekretär Zhao Ziyang, der am 19. Mai gegen den Willen der Partei auf den Tiananmen-Platz die Studenten in einer emotionalen Rede[36] bat, ihren Hungerstreik zu beenden und den Platz zu räumen, einen Teil der Verantwortung trage.[37] In dem Bericht wurde außerdem geschlussfolgert, dass die Gewalt eskaliert sei, weil die chinesische Führung das Ausmaß und die möglichen Konsequenzen der Studentendemonstrationen unterschätzt und zu spät reagiert habe und die Streitkräfte schlecht auf ihren Einsatz vorbereitet gewesen seien. Tatsächlich waren Teile der Führung der Armee anfangs nicht bereit, den Befehl zu befolgen, die Demonstrationen mit Gewalt zu beenden.[38]
Eine parallele Realität
Ende 1989 war Peking an der Reihe, seinen ostdeutschen Waffenbrüdern seine Solidarität zu bekunden, tat das aber nur indirekt. Die auf den Straßen Ost-Berlins, Leipzigs und Dresdens demonstrierenden Bürgerinnen und Bürger, war in der chinesischen Presse zu lesen, wären nicht der Anfang vom Ende, sondern im Gegenteil das Bestärken des Sozialismus in der DDR.[39] Chinas Staatsmedien berichteten außerdem nicht, dass Tausende von DDR-Bürgerinnen und -Bürgern die DDR verließen und Zuflucht in westdeutschen Botschaften in Budapest und Prag suchten.Die Fehlinformation der chinesischen Regierung erreichten einen vorläufigen Höhepunkt, als die People’s Daily am 11. November 1989 berichtete, dass das Öffnen der innerdeutschen Grenze eine von der DDR-Regierung aus freien Stücken gefällte Entscheidung gewesen sei.[40] Der Artikel berichtete an den Umständen der Öffnung der innerdeutschen Grenze vorbei und warnte davor, dass ostdeutsche Flüchtlinge zukünftig mit der westdeutschen Bevölkerung um Arbeitsplätze und Wohnraum in Konkurrenz treten werden.
Ein anderer Artikel in der People’s Daily vom 5. November berichtete, dass zwei ostdeutsche Bürger, die im September 1989 nach Westdeutschland geflüchtet waren, sich entschieden hätten, wieder in die DDR zurückzukehren, weil sie in der Bundesrepublik nicht die Konditionen vorfanden, die sie erwartet hätten. Die People’s Daily zitierte dabei einen Artikel der DDR-Zeitung Junge Welt, die berichtete, dass die beiden Bürger enttäuscht in die DDR – mit der (angeblichen) ausdrücklichen Erlaubnis der DDR-Behörden – zurückgekehrt seien, weil sie weder Arbeit noch eine für sie bezahlbare Wohnung finden konnten sowie mit zu hohen Lebenshaltungskosten konfrontiert gewesen seien.[41]
So gestaltete sich die Berichterstattung von Staatsmedien einer Diktatur, die sechs Monate zuvor in die Menge von Studierenden schießen ließ, die nur das erreichen wollten, was DDR-Bürgerinnen und Bürgern wenig später gelang: Demokratie und Reformen. Als dann auch die chinesische Staatsführung zugeben musste, dass die DDR Geschichte war bzw. dabei war, Geschichte zu werden, ließ sie einen Artikel in der Zeitung Guangming Ribao veröffentlichen, in dem stand, dass der Kollaps der DDR keineswegs für den Zusammenbruch des globalen Sozialismus stehe. In einer abschließenden Analyse, die sich wohl nur für diejenigen plausibel anhört, die den wirtschaftlichen und politischen Kollaps der DDR der letzten Monate – umgangssprachlich gesagt – nicht mitbekommen hatten, hieß es in dem Artikel, dass „Die Widersprüche des kapitalistischen Systems sich im Zuge der Wirtschaftsentwicklung der BRD verschärft haben, während das sozialistische System die Probleme im Laufe der Wirtschaftsentwicklung effektiv gelöst hat.“[42]
Dann fand der Niedergang der DDR endlich auch seinen Niederschlag in chinesischen Staatsmedien: Peking erklärte zu Beginn des Jahres 1990, dass es sich immer für die deutsche Wiedervereinigung eingesetzt, das Selbstbestimmungsrecht des deutschen Volkes respektiert und sich stets gegen Ulbrichts „Zwei-Nationen-Theorie“ ausgesprochen habe.
Wie Peking entschied sich auch die DDR-Volkskammer für eine „Korrektur“ einer früheren Erklärung. Im Juni 1990 veröffentlichte das erste frei gewählte DDR-Parlament eine Entschuldigung seiner neu gewählten Mitglieder dafür, dass ihre Amtsvorgängerinnen und -vorgänger ein Jahr zuvor der chinesischen Führung zur Niederschlagung des „konterrevolutionären Aufstands“ auf dem Tiananmen-Platz gratuliert hatten.[43]
Zitierweise: Axel Berkofsky, China und die DDR in den 1980er Jahren – Feinde, Schönwetterfreunde und Komplizen, in: Deutschland Archiv, 17.01.2020, Link: www.bpb.de/303741