"Politikverdrossenheit"
Das Schlagwort "Politikverdrossenheit" verweist auf Unbehagen mit den politischen Zuständen im Lande - mit der Tendenz einer Abwendung vom Politischen. Bei näherem Hinsehen erweist sich diese Bestimmung (und der damit verknüpfte Begriff) allerdings als wenig aussagekräftig und führt zudem leicht auf manchen Holzweg.I.

Besonderes Aufsehen erregte knapp drei Jahre später das Ergebnis einer repräsentativen Umfrage, die die ARD in Auftrag gegeben hatte und nach der erstmals in der Geschichte der Bundesrepublik weniger als die Hälfte der erwachsenen Bevölkerung "mit der Regierungsform zufrieden" war.[3] Immerhin veranlasste das kurz darauf die evangelische und die katholische Kirche in Deutschland zu einer Denkschrift, über die die "Hannoversche Allgemeine Zeitung" unter der dramatischen Überschrift berichtete: "Bischöfe bangen um die Demokratie".[4] Abgesehen davon, dass diese Feststellung, so sie einigermaßen gesichert ist, angesichts der jüngeren deutschen Geschichte durchaus eine politisch erfreuliche Seite hat, den Einsatz der Kirchen für die Demokratie, – hier ist etwas anderes festzuhalten, nämlich ein methodologisches Manko, das für die allermeisten Befragungen zur "Politikverdrossenheit" charakteristisch ist: dass die benutzten Kategorien und Indikatoren für die Bestimmung von "Politikverdrossenheit" in mancherlei Hinsicht fragwürdig sind und so auch der Begriff selbst alles andere als eindeutig ist. Daraus ergibt sich, dass viele der in exakten Prozentangaben ausgewiesenen Befragungsergebnisse mit Vorsicht zu genießen sind.
Die genannten Vorbehalte ignorieren nun keineswegs, dass es in nennenswertem Umfang Skepsis und Unbehagen gegenüber der etablierten Politik gibt und dass diese Distanz in den letzten Jahren offensichtlich zugenommen hat. Sieht man auf bestimmte gesellschaftliche Entwicklungstendenzen, ist das auch nicht verwunderlich. So dürfte eine politisch-normativ entkernte, durch sogenannte Sachzwänge bestimmte und/oder im Krisenmanagement aufgehende Politik kaum Zuversicht in ihre Gestaltungsmöglichkeiten wecken – zumal im Kontext ökonomisch dominierter Globalisierungsprozesse.[5] Damit verknüpft sind die zahlreichen Deregulierungen, die eine erhebliche Umverteilung ökonomisch-sozialer Lasten von "oben nach unten" im Gefolge hatten – gewissermaßen "garniert" mit publik gewordenen moralisch fragwürdigen oder gar als kriminell geltenden Praktiken wirtschaftlich ohnehin Privilegierter (zum Beispiel Steuerhinterziehungen großen Stils). Ebenso gehört dazu die häufige Intransparenz politischer Entscheidungen auch in bürgernahen Bereichen, etwa im Zusammenhang strittiger Großprojekte.
Eine ganz andere Frage ist, ob sich die Unzufriedenheits-Reaktionen der Bevölkerung unter dem Stichwort "Politikverdrossenheit" zusammenfassen lassen. Allein die Politisierungsschübe, die in letzter Zeit zu beobachten sind, lassen daran zweifeln. "Stuttgart 21" zum Beispiel oder auch der kometenhafte Aufstieg der Piraten-Partei sprechen für und gleichzeitig gegen "Politikverdrossenheit". Es gibt also gute Gründe für eine Beschäftigung mit diesem Begriff.