Das Notaufnahmelager Gießen
Vom Provisorium zur Institution: Jeanette van Laak beschreibt den schrittweisen Prozess der Verstetigung und Modernisierung von Lagerstrukturen zur Aufnahme von Flüchtlingen aus der sowjetischen Besatzungszone und der DDR in Gießen.
Das Notaufnahmegesetz gab also den Lagern in Uelzen-Bohldamm, Gießen und Marienfelde ihre Namen. Das Gießener Flüchtlingslager war 1946 gegründet worden und bestand als kleinstes der drei Lager bis 1990 als Erstaufnahmeeinrichtung für Übersiedler aus der DDR. Im Folgenden werden seine Entstehung und seine Verstetigung skizziert sowie nach Kontinuitäten von äußeren Lagerstrukturen gefragt.
Ein Flüchtlingslager entsteht

Auch in Gießen waren die Lebensverhältnisse für die ca. 31.000 Einwohner in dieser Zeit schwierig: Alliierte Bombenangriffe und ein sich anschließender Großbrand im Winter 1944/45 hatten einen Großteil der Gebäude und der innerstädtischen Infrastrukturen zerstört. Von ehemals 3.800 Gebäuden im inneren Stadtbezirk waren nur 45 Gebäude unbeschädigt geblieben, und von ehemals 12.000 Wohnungen galten nur ca. 865 als unversehrt.[5] Lediglich der Bahnhof und ein Großteil der Wehrmachtskasernen blieben erhalten und funktionsfähig. Viele Gießener wurden in die umliegenden Gemeinden evakuiert oder hausten in den Kellern der zerstörten Stadt, als die amerikanischen Besatzungstruppen in Gießen Quartier bezogen. Die US-Army beschlagnahmte die Kasernen und einen Teil der unversehrten Häuser und Wohnungen, womit sich die Wohnungslage in der Stadt zusätzlich verschärfte.[6] Bereits im Frühjahr 1945 wurde in Gießen eine Sozial- und Flüchtlingsverwaltung gegründet, die den Heimatlosen und Durchwanderern vorübergehend Unterbringung und Versorgung anbot.[7] Diese organisierte auch die - möglichst rasche - Weiterreise.[8] Zum 1. Juli 1945 bezog das Sozialamt deshalb das notdürftig instandgesetzte Hotel Lenz gegenüber dem Bahnhof.[9]
Ende Oktober 1945 teilte die US-amerikanische Besatzungsmacht der hessischen Landesregierung mit, dass etwa 600.000 Volksdeutsche in Hessen aufzunehmen seien. Die neue Landesregierung wiederum forderte verschiedene Städte und Gemeinden auf, unter ihnen die Stadt und der Landkreis Gießen, Räumlichkeiten für die anstehenden Aufgaben der Registrierung, der medizinischen Versorgung, der Versorgung mit Nahrungsmitteln und der kurzfristigen Unterbringung der Umzusiedelnden bereitzustellen.[10] Die vorbereitenden Maßnahmen beinhalteten, dass die kommunale Sozial- und Flüchtlingsverwaltung dem Staatskommissariat für das Flüchtlingswesen unterstellt wurde, welches seinerseits dem Hessischen Ministerium für Arbeit und Wohlfahrt zugeordnet war.[11] Der Staatskommissar für das Flüchtlingswesen ernannte - in Rücksprache mit den Kommunalverwaltungen - den Flüchtlingskommissar für die Stadtverwaltung und den für den Landkreis Gießen.[12] Während der erste vom Hotel Lenz aus arbeitete, bezogen letzterer sowie das Gesundheitsamt die untere Etage des Hotels Kobel, ebenfalls in Bahnhofsnähe gelegen. Beide Einrichtungen schienen eng zusammenzuarbeiten, der Flüchtlingskommissar der Stadt koordinierte die organisatorischen Vorbereitungen.[13]
1946 standen den Umzusiedelnden in der Stadt Gießen drei Gebäude als provisorische Unterkünfte zur Verfügung, die als "Flüchtlingslager" bezeichnet wurden. Hierbei handelte es sich um das Hotel Lenz für 100 Personen, um die studentische Unterkunft Otto-Eger-Heim mit einer Kapazität für 600 Personen sowie um zwei Baracken in Bahnhofsnähe für zusammen 100 Personen. Die Flüchtlingslager des Landkreises befanden sich in Lich (350 Personen), am Flugplatz Ettingshaus (150 Personen) und in Freienseen (100 Personen).[14] Damit zeichneten sich in der Stadt Gießen und im gleichnamigen Landkreis dezentrale Strukturen für Flüchtlingseinrichtungen in der amerikanischen Besatzungszone ab. Dies kann - wie am Beispiel Gießens - auf die allgemein beengte Raum- und Gebäudesituation der Stadt zurückgeführt werden. Der Hauptgrund mag darin gelegen haben, dass die westlichen Alliierten Assoziationen mit einstigen NS-Lagern vermeiden wollten, weshalb in diesem Fall nicht auf vorhandene Lagerstrukturen zurückgegriffen wurde, sondern vielmehr Gaststätten, Schulen, Vereinshäuser oder eben Hotels als provisorische Unterkünfte für die Umzusiedelnden dienten.[15] Auf die bis dahin übliche äußeren Kennzeichen von Lagern, wie etwa auf einen Zaun und auf eine Schranke wurde in diesen Fällen verzichtet.
Dass sich dennoch die Frage nach der Kontinuität zur NS-Zeit aufdrängen konnte, verdeutlicht der Bericht des Gießener Oberbürgermeisters, der dem Darmstädter Regierungspräsidenten im Dezember 1945 beflissen über den Stand der Vorbereitungen zur Aufnahme der Umzusiedelnden unterrichtete: "Gruppenweise werden die Ostrückwanderer unter Polizeischutz (...) vom Zug zur Entlausung in die von der Stadt bereitgestellten Baracke geführt. Von dort wird die jeweilige Gruppe in die Flüchtlingszentrale zur gründlichen Untersuchung gebracht (...). Erst nachdem die Rückwanderer auf ihrem Laufpass einen Vermerk ‚frei von Läusen und ansteckenden Krankheiten’ erhalten haben, können sie zu den für sie hergerichteten Quartieren weitergeleitet werden."[16] Die Gießener Stadtverwaltung konzentrierte sich formal an den Aufgaben von Polizeischutz und medizinischer Versorgung. Der sachliche Ton mag charakteristisch für die Verwaltungssprache jener Zeit gewesen sein und doch zeigt seine Wortwahl, wie eng das Wohl bzw. Wehe der Umzusiedelnden in solchen Provisorien beieinander liegen mochten.
Die Stadt Gießen und die mit der Aufnahme der Vertriebenen betrauten Institutionen waren jedenfalls auf den Tag X vorbereitet. Diese Maßnahmen konzentrierten sich auf Sicherheit und Kontrolle sowie auf stabile Verhältnisse in der Stadt. Bereits am 10. Februar 1946 traf der erste Flüchtlingszug aus Mähren ein. 600 Personen wurden nach Friedberg weitergeleitet, die anderen 600 fanden Unterkunft in den genannten Räumlichkeiten.[17] Nur einen Tag später lud die Landesregierung den Oberbürgermeister der Stadt, die Landräte verschiedener Landkreise, die Flüchtlingskommissare, den Polizeidirektor sowie Vertreter der Stadtverwaltung und hessischer Hilfsorganisationen zu einer "Konferenz ‚Flüchtlingsfragen’" in Gießen, vermutlich um so den Akteuren der Aufnahmeregion ihre Unterstützung zuzusichern.[18]