Rezensiertes Werk
Etienne François, Kornelia Kończal, Robert Traba und Stefan Troebst (Hg.), Geschichtspolitik in Europa seit 1989. Deutschland, Frankreich und Polen im internationalen Vergleich, Wallstein Verlag, Göttingen 2013, 560 S.
Ob die Bewertung der kolonialen Vergangenheit in Frankreich, die Interpretation des Warschauer Aufstands 1944 in Polen oder ganz aktuell die Erinnerung an den Ersten Weltkrieg zum 100. Jahrestag des Kriegsausbruchs in ganz Europa - geschichtspolitische Debatten liefern immer wieder Zündstoff für öffentliche Diskussionen. Die Deutung der Vergangenheit ist ein Politikum, aus dem nicht selten finanzielle oder politische Forderungen abgeleitet werden. Zugleich hat die Auseinandersetzung mit geschichtspolitischen Strategien auch als wissenschaftliches Forschungsfeld Konjunktur. Der von Etienne François, Kornelia Kończal, Robert Traba und Stefan Troebst herausgegebene Sammelband greift diese beiden Strömungen auf und widmet sich in europäischer Perspektive den Herausforderungen der Geschichtspolitik seit dem Epochenjahr 1989.
Etienne François, Kornelia Kończal, Robert Traba und Stefan Troebst (Hg.), Geschichtspolitik in Europa seit 1989. Deutschland, Frankreich und Polen im internationalen Vergleich (© Wallstein Verlag)
Etienne François, Kornelia Kończal, Robert Traba und Stefan Troebst (Hg.), Geschichtspolitik in Europa seit 1989. Deutschland, Frankreich und Polen im internationalen Vergleich (© Wallstein Verlag)
Inhaltlich knüpft die Publikation an das 2007 in Berlin organisierte internationale Symposium zum Thema "Strategien der Geschichtspolitik in Europa seit 1989. Deutschland, Frankreich und Polen im internationalen Vergleich" an, in dessen Rahmen Historiker und Vertreter anderer Disziplinen über die politischen, zivilgesellschaftlichen, wissenschaftlichen und medialen Dimensionen und Problematiken der Geschichtspolitik diskutierten.
Den Einstieg in das kontrovers diskutierte Forschungsfeld ermöglicht Stefan Troebst mit seinem einleitenden Artikel "Geschichtspolitik. Politikfeld, Analyserahmen, Streitobjekt", in dem er die anhaltenden Debatten um Definitionen, Herangehensweisen und Begriffsrivalitäten resümiert. Vor allem mit Blick auf die deutsche Forschungsgemeinschaft zeichnet Troebst die terminologischen und konzeptuellen Entwicklungen seit der Begriffsschöpfung im Zuge des westdeutschen Historikerstreits in der zweiten Hälfte der 1980er Jahre nach. Als problematisch hebt er den "gleichsam okzidentalisierende[n], ja germanozentrische[n] Kern des neuen Konzepts"
Als Antwort auf die in der Einleitung formulierten Forschungsdesiderate beleuchten die nachfolgenden Fallstudien Strategien und Formen von Geschichtspolitik in Europa unter den Gesichtspunkten "Akteure der Geschichtspolitik", "Konkurrenz der Opfer", "Meistererzählungen" und "Inszenierungen". Beiträge zu nationalen und regionalen Fallstudien werden ergänzt mit Überlegungen zu Projekten auf EU-Ebene und erzeugen einen multiperspektivischen Einblick in das weitläufige Forschungsfeld.
"Akteure der Geschichtspolitik"
Den ersten Teil "Akteure der Geschichtspolitik" eröffnet Edgar Wolfrum mit einem Fragenkatalog für den wissenschaftlichen Umgang mit diktatorischen Vergangenheiten.
Am Beispiel regionaler und lokaler Initiativen in polnischen Grenzgebieten zeigt Anna Wolff-Powęska die Vielfältigkeit der sich seit den 1990er Jahren in den post-diktatorischen Gesellschaften des östlichen Europas konstituierenden Zivilgesellschaft auf und präsentiert eine abseits von politischen Entscheidungsträgern agierende Akteursgruppe.
Zum Abschluss des ersten Teils führt Stefan Troebst die Europäische Union sowohl als "Arena wie zugleich als Akteur"
"Konkurrenz der Opfer"
Mit einer gesamteuropäischen Problematik, der sogenannten "Konkurrenz der Opfer", befasst sich der gleichnamige zweite Teil des Sammelbandes. Anhand von neun Thesen führt Włodzimierz Borodziej in das komplexe Wechselverhältnis zwischen Geschichtspolitik und Opferkonkurrenz ein und diskutiert den rasanten Aufstieg des Begriffs in Forschung und Öffentlichkeit während der letzten Jahre. "Nie zuvor", ist Borodziej überzeugt, "nahmen Menschengruppen, die Unrecht erfahren haben, eine derart wichtige Stellung in der europäischen Gesellschaft ein wie zu Beginn des 21. Jahrhunderts."
Wie sehr Fragen um Schuld und Opferstatus die Beziehungen von Staaten bestimmen können, zeigt Benjamin Stora am Beispiel des "Erinnerungskrieges" zwischen Frankreich und Algerien. Dieser flammte, als Reaktion auf einen vom damaligen französischen Ministerpräsidenten Lionel Jospin unterstützten Beitrag in der kommunistischen Zeitung L’Humanité, im November 2000 erneut auf, da der Artikel eine öffentliche Verurteilung der im Namen Frankreichs begangenen Folter in Algerien forderte. Anhand der Dokumentation der medialen, politischen und wissenschaftlichen Diskussionen der Debatte zeichnet Stora ein Panorama der Akteure und Streitlinien des transnationalen Konflikts. Mit der abschließenden Kritik, es fehle bis heute an einer unparteiischen Geschichtsschreibung auf beiden Seiten, appelliert Stora zudem an die Historikerzunft dazu beizutragen, "dass an der Zukunft gearbeitet und die Vergangenheit als abgeschlossene Realität betrachtet werden kann."
In seiner "Fallstudie zur deutschen Vergangenheitspolitik"
Mit der Ukraine präsentiert Tomasz Stryjek eine postsowjetische Gesellschaft, deren Eliten durch vergangenheitspolitische Maßnahmen einen kollektiven Erinnerungswandel anstreben.
Unter dem Titel "Europa als gemeinsamer Ort der Erinnerungen?"
"Meistererzählungen"
Eine Fokussierung auf das Opfergedenken stellt auch Martin Sabrow im ersten Beitrag des dritten Teils "Meistererzählungen" fest.
Am Beispiel des Umgangs mit der eigenen kolonialen Vergangenheit in Frankreich seit 1999 diskutiert Matthias Middell eine weitere Veränderung in den europäischen Erinnerungslandschaften.
Michael Kopeček widmet sich anschließend der zentralen erinnerungskulturellen Herausforderung im östlichen Mitteleuropa, der Auseinandersetzung mit der kommunistischen Vergangenheit. Am Fallbeispiel Tschechien erörtert er die Etappen der Geschichtspolitik seit 1989, deren Ausrichtungen er zwischen dem nationalgeschichtlichen Paradigma und einer wachsenden "Ostalgie" seit der Jahrtausendwende verortet. Ein kritisches Resümee zieht Kopeček in Bezug auf die Institute der nationalen Erinnerung, deren Zielsetzung, "eine ganz spezielle Version der ‚nationalen Erinnerung’ zu schaffen und zu kultivieren",
In seinem Beitrag über die Rhetorik der politischen und intellektuellen Rechten Portugals zeigt Manuel Loff die Bedeutung des Epochenjahrs 1989 für die Erinnerung an die eigene autoritäre Vergangenheit auf. Loff konstatiert, der Zusammenbruch der DDR sei von den politischen Führern um Cavaco Silva als Kontext zur Schaffung einer "Art Deckerinnerung"
Im letzten Artikel zur Thematik der "Meistererzählungen" fragt Bo Stråth nach gemeinsamen Mustern der Geschichtsschreibung und Erinnerungspolitik in den nordischen Ländern.
"Inszenierungen"
In der Eröffnung des vierten Teils "Inszenierungen" hinterfragt Joachim Baur das Verhältnis von Geschichtspolitik und Museen.
Siegerentwurf im Wettbewerb um das Haus der Europäischen Geschichte in Brüssel von JSWD Architekten Köln (© JSWD Architekten)
Siegerentwurf im Wettbewerb um das Haus der Europäischen Geschichte in Brüssel von JSWD Architekten Köln (© JSWD Architekten)
Über nationale Konzepte der musealen Geschichtsaufbereitung hinausgehend diskutieren sowohl Camille Mazé
Monika Flacke benennt in ihrem Beitrag zur Bildbenutzung schließlich ein essenzielles Problem musealer Geschichtsaufbereitung. Fotografien und andere bildliche Darstellungen würden in vielen Fällen ohne die Berücksichtigung ihres Entstehungskontextes und der bildeigenen Narrative in Ausstellungen eingebunden. Eine solche unreflektierte Verwendung ikonografischer Quellen unterschätze jedoch die Deutungsmacht von Bildern. Diese seien keineswegs simple Illustrationen der Ausstellungstexte, sondern transportierten eigene Interpretationen und Perspektiven auf das Vergangene. Ohne einen kritischen Umgang mit ihnen trügen Ausstellungen zur Aktualisierung von "tradierten Gedächtnismodelle[n] [bei], statt sie zu dekonstruieren".
Multiperspektivität
Im abschließenden Resümee bündelt Etienne François ("Geschichtspolitik und Erinnerungskultur in Europa heute", S. 541-558) die innerhalb des Sammelbandes aufgeworfenen Fragen und Thesen zu Geschichtspolitik und Erinnerungskulturen in Europa seit 1989.
Diese Komplexität und Ambivalenz geschichtspolitischer Strategien und Diskurse innerhalb Europas nicht nur abzubilden, sondern auch in vergleichender Perspektive zu analysieren, war das erklärte Ziel des Sammelbandes. Dabei zeigen die 22 Beiträge ein beeindruckendes Panorama der seit 1989 in Europa und vor allem im Kontext der EU-Osterweiterung diskutierten erinnerungskulturellen Konflikte und Maßnahmen sowie der zahlreichen involvierten Akteure. Die Unterteilung des Bandes in vier Fragenkomplexe ist aufgrund der Zahl der Beiträge eine hilfreiche Strukturierung. Darüber hinaus benennen die Herausgeber hiermit die vier Kernproblematiken der Geschichtspolitik, die seit 1989 im gesamteuropäischen Kontext zu beobachten sind und innerhalb des Bandes eingehend behandelt werden.
Eine besondere Stärke des Bandes besteht zudem in der Multiperspektivität der versammelten Studien. So stehen Beispiele nationalstaatlicher Vergangenheitspolitik, wie die Regelung der Stasi-Renten (Wojciech Pięciak) oder der Umgang mit der kolonialen Vergangenheit in Frankreich (Matthias Middell), regionalen Studien, etwa über polnische Grenzgebiete (Anna Wolff-Powęska), gegenüber. Gleichzeitig öffnen Beiträge zu transnationalen Konflikten wie dem polnisch-russischen Geschichtsdiskurs (Wolfram von Scheliha) und gesamteuropäischen Fragestellungen (Pieter Lagrou) den Blick über nationalstaatliche Grenzen hinweg. Durch dieses Wechselspiel auf vier Ebenen schafft es der Sammelband nicht nur nationale Besonderheiten abzubilden, sondern auch staatenübergreifende Entwicklungen und Dynamiken aufzuzeigen.
Trotz der thematisch und geografisch breit gefächerten Auswahl an Beiträgen überwiegen jedoch Studien, die sich auf die neuen EU-Mitgliedsstaaten seit der EU-Osterweiterung beziehen, sodass das Konzept des trinationalen Vergleichs zwischen Deutschland, Frankreich und Polen zugunsten einer Schwerpunktsetzung auf den postsowjetischen Raum in den Hintergrund tritt. Zwar ist eine Betonung der besonderen Herausforderungen innerhalb der postsowjetischen Gesellschaften mit Blick auf das Epochenjahr 1989 nachvollziehbar, aufgrund der Vielzahl der hierzu versammelten Studien kommt es jedoch teilweise zu inhaltlichen Überschneidungen. Schließlich wäre eine intensivere Auseinandersetzung mit dem Forschungsfeld Geschichtspolitik aus europäischer Perspektive wünschenswert gewesen, da sich die Einleitung vorrangig den Entwicklungen in Deutschland widmet und eher streiflichtartig auf französische und polnische Unterschiede verweist. In seiner Konzeption bleibt der Sammelband somit primär deutschen Ansätzen verhaftet und benennt die Problematiken transnationaler Geschichtsschreibung mehr als zu ihrer Lösung beizutragen. Trotzdem schafft es der Sammelband insgesamt das kontroverse Forschungs- und Politikfeld Geschichtspolitik in seiner europäischen Vielfältigkeit darzustellen und zur Schließung bestehender Forschungslücken anzuregen.
Zitierweise: Marie-Christin Lux, Rezension: Geschichtspolitik in Europa seit 1989, in: Deutschland Archiv, 30.05.2014, Link: http://www.bpb.de/184550