Die Macht der leisen Mutigen: „Es lohnt sich anständig zu sein“
Über die Aktualität des demokratie-philosophischen Lebenswerks von Ludwig Mehlhorn
Basil Kerski
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Eine späte Würdigung. Unter den Bürgerrechtlern und -rechtlerinnen der DDR gilt der Mathematiker Ludwig Mehlhorn als einer der wesentlichen Inspiratoren, vor allem durch viele Brücken, die er nach Osteuropa und speziell Polen baute, wo vor 45 Jahren die unabhängige Gewerkschaft Solidarność entstand. Der Runde Tisch in der DDR Ende 1989 folgte dem polnischen Modell. Zwar starb Mehlhorn bereits 2011, wurde aber erst jetzt mit einer Gedenktafel in Berlin geehrt. Festredner war der Direktor des Solidarność-Zentrums in Danzig, der deutsch-polnische Publizist Basil Kerski, der in seinem Beitrag daran erinnert, wie weit die Denkanstöße Mehlhorns auch in unsere Gegenwart reichen, weit hinaus über den Sturz von Mauer und Eisernem Vorhang vor nunmehr über 35 Jahren.
"Er war unser großer Freund. (…). Seine große Bescheidenheit ist mir immer aufgefallen und die Tiefe, mit der er seine Haltung als Christ verstand. Er war immer ein innerlich freier Mensch. Er war freundlich und den Menschen zugetan.“
Diese Worte über Ludwig Mehlhorn äußerte Polens erster frei gewählter Ministerpräsident Tadeusz Mazowiecki, einer der Protagonisten der Solidarność-Revolution, kurz nach Ludwigs Tod im Frühjahr 2011. Diese Sätze von Tadeusz Mazowiecki spiegeln treffend das Wesen von Ludwig wider.
Ludwig konnte Freundschaft aufbauen und pflegen, er war von Freunden umgeben, er war ein bescheidener, leiser Mensch, ein leiser Revolutionär. Das Christentum gab ihm Orientierung, ob in Zeiten der kommunistischen Diktatur oder in der Demokratie. Sein christlicher Glaube, seine hohen ethischen Ansprüche an sich und die Gesellschaft waren für ihn keine schwere Last, sondern gaben ihm Leichtigkeit, gaben ihm Freiheit.
Václav Havel schrieb in den düsteren 1970er Jahren, im Angesicht der Repressionswelle des tschechoslowakischen Regimes gegen die Bürgerrechtler, über die „Macht der Machtlosen“. Ludwig Mehlhorn hätte einer der Protagonisten dieses Essays des Prager Theaterautors und Intellektuellen über die politische und moralische Autorität der demokratischen Außenseiter in Diktaturen sein können. Inspiriert von Václav Havel würde ich im Falle Ludwigs lieber von der Macht der Mutigen, oder präziser formuliert, von der Macht der leisen Mutigen sprechen wollen.
Ein Architekt deutsch-polnischer Freundschaft
Die eingangs zitierten Sätze der Anerkennung von Tadeusz Mazowiecki galten einem der konsequentesten Bürgerrechtler Ostdeutschlands und einem Architekten der deutsch-polnischen Partnerschaft. Die Worte Mazowieckis, eines Geistesverwandten, Weggefährten und Verbündeten Ludwig Mehlhorns, des ersten demokratischen Ministerpräsidenten Polens und des gesamten Ostblocks, deute ich als eine der wichtigsten Auszeichnungen für unseren Freund Ludwig. Es ist die bedeutendste symbolische Würdigung Mehlhorns neben der, die Ludwig bereits 2009 erfahren durfte, als Władysław Bartoszewski auf ihn und den DDR-Bürgerrechtler Wolfgang Templin die Laudatio anlässlich der Verleihung des DIALOG-Preises der Deutsch-Polnischen Gesellschaften hielt, und beide in die Reihe der wichtigsten Protagonisten der deutsch-polnischen Versöhnung nach dem Zweiten Weltkrieg stellte, als Bartoszewski ihren Lebensweg mit seinem eigenen verband.
In seiner Dankesrede zum DIALOG-Preis konzentrierte sich Ludwig in seiner für ihn typischen Bescheidenheit nicht auf sein und Wolfgang Templins Engagement, sondern drückte seine Bewunderung für Bartoszewskis Mut aus, für dessen christliche Unbeugsamkeit in der Hölle von Auschwitz sowie in den Gefängnissen und Internierungslagern der Kommunisten. Bartoszewski habe vorgelebt, wie wichtig es sei, wie lebensrettend es sei, anständig zu bleiben, betonte Ludwig. „Es lohnt sich anständig zu sein“, so das Lebensmotto von Bartoszewski war auch die Lebensphilosophie von Ludwig Mehlhorn. Ich möchte an dieser Stelle nicht nur auf sein abgeschlossenes Lebenswerk blicken, nicht nur die historische Bedeutung des Engagements von Ludwig Mehlhorn für die Entwicklung der demokratischen Kultur Deutschlands und für die deutsch-polnische Verständigung würdigen, sondern auch nach der Aktualität von Ludwigs Lebenswerk fragen. Wie können wir aus seinem zivilgesellschaftlichen Wirken Inspirationen für die Zukunft schöpfen?
Was von Mehlhorn für die Zukunft lernen?
Ich bin überzeugt, dass Ludwigs Werk uns Orientierung geben kann in einer Zeit eines großen Krieges in Europa, der die freiheitlich, demokratische Ordnung Europas gefährdet - in einer Zeit, in der Gewalt wieder Mittel der Politik ist, ausgerechnet, jetzt, eingerahmt von bedeutenden Jahrestagen, die in diesen Monaten für Deutsche und Polen wichtig sind.
Da ist zum einen der 80. Jahrestag des Endes des Zweiten Weltkrieges sowie der 60. Jahrestag der Ostdenkschrift der Evangelischen Kirche Deutschlands und des Briefwechsels der katholischen Bischöfe von 1965.
Im Sommer 2025 werden wir außerdem an den Streik in der Danziger Leninweft vor 45 Jahren erinnern und damit an die Gründung der großen, zehn Millionen Mitglieder versammelnden Bürgerbewegung Solidarność. Und nicht zu vergessen: Vor genau 35 Jahren, im März 1990, fanden die ersten freien Wahlen zur Volkskammer statt, eine Folge des Runden Tisches in der DDR, freie Wahlen, die zur deutschen Einheit führten. In der Erinnerung an diese grundlegenden Jahrestage verbergen sich die Lebensthemen Ludwig Mehlhorns, spiegelt sich sein zivilgesellschaftliches Engagement wider:
Die Versöhnung mit den Nachbarn
Erinnerungskultur als Grundlage für Demokratie
Demokratischer Widerstand gegen totalitäre Regime und Diktaturen
Die Folgen des Zweiten Weltkrieges und deren Überwindung (Teilung Deutschlands, die Widererlangung der Souveränität von Polen)
Transformationen und die Frage nach den Grundlagen für stabile Demokratien.
Welches Europa meinen wir, wenn wir von europäischer Solidarität sprechen?
Der Krieg und seine Folgen, Versöhnung und demokratischer Widerstand
Erlauben Sie mir zunächst im Kontext des 80. Jahrestages des Zweiten Weltkriegs und des 60. Jahrestag der bahnbrechenden Versöhnungsinitiativen von EKD und der katholischen Bischöfe auf Ludwig Mehlhorns Lebenswerk blicken.
Jerzy Pomianowski, ein polnischer Intellektueller jüdischer Abstammung sowie Übersetzer von Isaak Babel und Alexander Solschenizyn, versuchte seinen russischen Freunden die widersprüchliche Haltung der Polen zum Weltkriegsende 1945 mit folgenden Worten zu erklären: „Ihr habt uns gerettet, aber nicht befreit!“ 1945 ging zwar das „Dritte Reich“ unter, aber die Zeit der Unfreiheit ging für den östlichen Teil des Kontinents, für Ostdeutschland und Polen weiter. Die Teilung des Kontinents in politische Einflusszonen der Weltmächte wurde mit zunehmendem Abstand zum Weltkriegsende vielfach als ein stabilisierender Faktor angesichts einer potenziellen Gefahr eines globalen Nuklearkrieges interpretiert. Auch die deutsche Teilung, vor allem der Mauerbau ab 13. August 1961, wurden trotz aller Verurteilung mit zeitlichem Abstand im Westen als stabilisierend gedeutet. Und nicht nur Polen, auch viele Deutschen verstanden die Teilung Deutschlands, die Berliner Mauer, als einen politischen Preis, gar als einen „moralischen Preis“ für die deutschen Kriegsverbrechen.
Mehlhorns anderer, tiefer gehender Blick
Die Begegnung mit Polen, vor allem mit den christlich-demokratischen Oppositionellen eröffnete Ludwig eine ganz andere Perspektive auf die deutsche Frage und Europa. Zunächst die Perspektive von Jerzy Pomianowski: Das NS-Regime war zwar untergegangen, vorbei, aber die Teilung Europas, und damit Deutschlands, war nicht die endgültige Antwort auf den Zweiten Weltkrieg.
Die Teilung Europas wurde von Polen nicht als eine gerechte Ordnung verstanden, sie war keine Friedensordnung, die Demokraten und Bürgerrechtler akzeptieren konnten. Die Teilung Europas, die Berliner Mauer widersprachen auch ethischen Grundsätzen von Menschenrechtlern.
Als Władysław Bartoszewski 1986 in der Frankfurter Paulskirche den Friedenspreis des deutschen Buchhandels entgegennahm, betonte er in seiner Dankesrede seinen grundlegenden Widerstand gegen alle Mauern und gewaltsamen Teilungen, gegen die Mauern der Ghettos der Nazi-Verbrecher, aber nicht nur dagegen. Bartoszewski, der Ehrenbürger Israels, betonte zudem seine Nichtakzeptanz des Stacheldrahtes, der Jerusalem trennte, und er nannte in diesem Zusammenhang auch die Berliner Mauer.
Die demokratische Opposition Polens in kommunistischen Zeiten, ob im Exil oder im Land, verstand, dass die Teilung Deutschlands keine Sicherheitsgarantie für Polen bedeute, sondern der Sowjetunion die Herrschaft über halb Europa sicherte. Daher engagierten sich polnische Oppositionelle und Exilanten in ihrem friedlichen Kampf für die Unabhängigkeit Polens auch für ein neues, vereinigtes Europa, für Verständigung mit den Nachbarn und für die deutsche Vereinigung. Die Protagonisten dieses Denkens waren vor der Gründung der Solidarność 1980 vor allem Exilanten (Pariser Exilzeitschrift „Kultura“) und katholische Intellektuelle aus den Redaktionen von „Tygodnik Powszechny“, „Znak“ und „Więź“. Das waren jene polnischen Kreise, die in den 1970-er Jahren Ludwig Mehlhorn und die ostdeutsche „Aktion Sühnezeichen“ unter der Leitung von Lothar Kreyssig und Günter Särchen stark geprägt hatten.
Diese polnischen Laienkreise traten auch für eine christliche Erneuerung der katholischen Kirche im Geiste des Zweiten Vatikanischen Konzils ein. Der Gedanke der Ökumene war unter ihnen sehr stark, der Dialog mit den östlichen Kirchen, den Protestanten und vor allem mit dem Judentum. Diese Menschen, darunter Tadeusz Mazowiecki und Władysław Bartoszewski, wurden zu Vorreitern der Versöhnung mit den Nachbarn, mit den Schwestern und Brüdern anderer Religionsgemeinschaften.
Die Redaktionen und Leser von Tygodnik Powszechny, Znak oder Więź richteten auch einen selbstkritischen Blick auf die eigene polnische Geschichte. Vor allem die Erfahrung des Antisemitismus, die Passivität der christlichen Bevölkerung gegenüber dem Holocaust waren Themen, die diese polnischen Partner Ludwig Mehlhorns sehr beschäftigten, aber auch andere in der Zeit des Kommunismus von der Zensur verbotene Themen, wie die Vertreibung der Deutschen aus Polen oder der blutige polnisch-ukrainische Konflikt. Aus dieser polnischen Auseinandersetzung mit den historischen Tabus erwuchs nicht nur eine besondere ethische Verantwortung für alle Facetten der Kriegserfahrung, sondern ein neuer kritischer Patriotismus, der die Grundlage für eine moderne demokratische Kultur bildete, einer Kultur im Gegensatz zur nationalistischen Haltung.
Kritischer Patriotismus
Diese Begegnungen mit polnischen katholischen Intellektuellen inspirierten den deutschen Protestanten Ludwig Mehlhorn zur Formulierung einer eigenen Ethik der historischen Verantwortung für die deutsche Geschichte, im Gegensatz zur kommunistischen Propaganda. Weder akzeptierte Mehlhorn das Privileg seiner Nachkriegsgeburt, noch das DDR-Narrativ des antifaschistischen Staates, der als internationalistischer sowie antifaschistischer Arbeiter-und-Bauernstaat von Verantwortung für die NS-Verbrechen frei sei.
Die Tradition des polnischen kritischen Patriotismus, die wir mit solchen Intellektuellen wie Jerzy Giedroyc, Jerzy Turowicz, Stanisław Stomma, Tadeusz Mazowiecki, Jan Józef Lipski, Józefa Hennelowa, Anna Morawska, Władysław Bartoszewski, Jacek Kuroń oder Adam Michnik verbinden, ist heute angesichts des neuen Nationalismus in Europa, neuer Retrotopien, neuer Relativierungen von faschistischen und kommunistischen Verbrechen, aber auch angesichts notwendiger künftiger Verständigungen, die nach neuen Kriegen folgen sollten, nicht nur von großer Bedeutung für Polen, sondern auch eine Inspiration für andere Europäer.
Die ethische Revolution polnischer Christen bildete eine der wichtigen programmatischen Grundlage für die Solidarność vor 45 Jahren. Die Solidarność verband die christliche Haltung der Laien-Bewegung und Teilen der polnischen katholischen Bischöfe, vor allem von Karol Wojtyła, dem späteren Papst Johannes Paul II, mit dem zivilgesellschaftlichen Ethos linker, antikommunistischer und antimarxistischer Kräfte des 1976 entstandenen Komitees zur Verteidigung der Arbeiter (KOR).
Die KOR-Philosophie war die folgende: Eine Reform des Realsozialismus ist eine Illusion. Nur eine pluralistische, auf Menschenrechten basierende Demokratie kann soziale Gerechtigkeit herstellen. Nur eine offene, demokratische Gesellschaft kann die Basis für ein würdiges Menschenleben sein. Eine Arbeiter- und Bauerndiktatur schafft nur ein Gewaltregime und unterdrückt damit die arbeitenden Menschen.
Die jungen KOR-Aktivisten riefen die Polen auf, möglichst im Land zu bleiben und friedlich Räume der gesellschaftlichen Freiheit in der kommunistischen Diktatur zu schaffen. Sie folgten dem Ideal, in der Wahrheit zu leben, Solidarität untereinander pflegen und eine unabhängiges Zivilgesellschaft, quasi eine Parallelgesellschaft aufbauen. Diese politische Philosophie formulierten Jacek Kuroń und Adam Michnik in ihren politischen Schriften. Von großer Bedeutung war auch Adam Michniks Aufruf, in der demokratischen Opposition verschiedene geistige und politische Strömungen zu vereinen. So trat er vor allem für einen Dialog zwischen Linken, katholischen Laien und der Kirche ein. Die politischen und ethischen Entwürfe der polnischen Demokratiebewegung waren mit denen der tschechoslowakischen Charta 77 verwandt. Václav Havels legendärer Essay „Die Macht der Machtlosen” entstand aus dem unmittelbaren Dialog mit polnischen Freunden von KOR.
Das ansteckende Ende der Machtlosigkeit 1980
Mit der Solidarność endete die Machtlosigkeit. Zehn Millionen Menschen wurden Mitglieder der Bewegung. Als Gewerkschaft registriert, baute die Solidarność eine professionelle, demokratische Massenorganisation auf, die größer war als die Vereinigte Polnische Arbeiterpartei PZPR. Die Solidarność brach das Machtmonopol der Kommunisten, die moskautreuen Machthaber verloren ihre politische Legitimation, womit die sowjetische Herrschaft in Mitteleuropa grundsätzlich in Frage gestellt wurde.
Das Honecker-Regime reagierte auf die Solidarność mit der Aufhebung des visa- und passfreien Reiseverkehrs mit Polen sowie mit einer antipolnischen Kampagne, die die Fremdenfeindlichkeit in der DDR förderte. Gefährdet durch den polnischen Freiheitsvirus versuchte Honecker zudem die DDR zu konsolidieren, indem sein Regime marxistisches Vokabular mit deutsch-nationalistischem verband. Eine Form von DDR-Nationalismus entstand, den Polen als äußerst befremdlich empfanden, weil darin eine Neubewertung deutscher, autoritärer Traditionen stattfand, etwa eine Neuentdeckung Preußens und Bismarcks.
Die Isolation der DDR von Polen schränkte ab 1980 sehr stark die Kontakte zwischen Ostdeutschen und Polen ein. Unter dem Druck der polnischen friedlichen Revolution nahmen die Repressionen in der DDR zu, die auch Ludwig Mehlhorn durch Berufsverbot und Reiseverbot erlebte. Dennoch versuchte Ludwig Mehlhorn in der Isolation der 1980-er Jahre die Praxis des polnischen demokratischen Widerstandes in die Realität der DDR zu übersetzen. Ludwig organisierte unabhängige Lesungen in seiner Wohnung, sowie Seminare innerhalb der „Aktion Sühnezeichen“ und beteiligte sich an der Produktion unabhängiger Schriften (Radix-Blätter) und politischer Strukturen (Demokratie Jetzt).
Ludwig Mehlhorn und seine Weggefährten aus der demokratischen Opposition vertraten zwar eine Minderheit am Rande der DDR-Gesellschaft, aber ihre Wirkung sollte nicht unterschätzt werden. Vor allem dank der Arbeit der westdeutschen Medien erreichten ihre Forderungen Millionen von Menschen östlich des Eisernen Vorhangs. Die demokratische Opposition in der DDR war zwar nicht so groß wie die polnische Freiheitsbewegung, aber sie war bedeutsam, weil sie Teil einer mitteleuropäischen Bewegung zusammen mit der Charta 77 und Solidarność war. Die Größe und Macht der Solidarność machten die DDR-Oppositionellen in den Augen der kommunistischen Machthaber zu bedeutenden und gefährlichen Akteuren. Die demokratische Massenorganisation Solidarność legitimierte den Widerstand in der DDR, gab ihm einen neuen Sinn.
Die Solidarność wurde ab 1980 zum Katalysator für Veränderungen in Europa. Moskau musste auf diese Bürgerbewegung reagieren, zunächst mit Gewalt, als am 13. Dezember 1981 in Polen das Kriegsrecht eingeführt und die Solidarność verboten wurde. Aber nur vier Jahre später unter Generalsekretär Michail Gorbatschow antworteten die Sowjetkommunisten mit Reformen, die Anfang 1989 die Chance zum Runden Tisch in Warschau eröffneten (siehe Foto):
Die politischen Entscheidungen am polnischen Runden Tisch führten nicht nur zur Legalisierung der Solidarność im April 1989, sondern zum Zusammenbruch des kommunistischen Herrschaftssystems in Polen und dann in weiteren Ländern des Sowjetimperiums. Ludwig Mehlhorn war vom polnischen Reformmodell fasziniert und trat in der DDR ab Sommer 1989 nach dem polnischen Modell für einen ostdeutschen runden Tisch ein, der schließlich im Dezember 1989 eingesetzt wurde, womit der demokratische Umbau des ostdeutschen Staates begann.
Nach dem Sieg der demokratischen Revolutionen
„Die Mitte liegt ostwärts“: Karl Schlögels Buch, unter diesem Titel 1986 in West-Berlin erschienen, beschrieb treffend das politische Klima der Zeit der mitteleuropäischen Revolutionen, für die stellvertretend als einer ihrer wichtigen, leisen Protagonisten Ludwig Mehlhorn steht. Intellektuelle wie Mehlhorn und Schlögel verstanden schon in den 1980-er Jahren, dass der Schlüssel zur Überwindung der Teilung des Kontinents und Deutschlands nicht nur in den Hauptstädten der Weltmächte lag, sondern dass es viele Schlüssel gab und dass davon viele im Osten lagen, im Osten Deutschlands, in Polen und noch weiter östlich, in den baltischen Staaten, in der Ukraine.
Im Zusammenhang mit dem Beitritt der Demokratien des östlichen Mitteleuropas zur NATO und zur EU forderte Karl Schlögel Anfang des neuen Jahrhunderts eine kulturelle Perspektiverweiterung. Die Erweiterungen der militärischen und politischen Organisationen reiche nicht aus, um das demokratische Europa zu stärken, es dauerhaft zu einen, es brauche neue kulturelle Kompetenzen, so Schlögel. Der spanische Schriftsteller und ehemalige Buchenwald-Häftling Jorge Semprun betonte wiederum 2004 die Bedeutung einer gemeinsamen Erinnerungskultur an die totalitären Erfahrungen als Basis für ein neues, demokratisches Bewusstsein Europas.
Ludwig Mehlhorn war ebenso wie Schlögel oder Semprun ein Fürsprecher und Gestalter der geforderten kulturellen Perspektiverweiterung in Europa nach 1989: als Studienleiter der Evangelischen Akademie, als Berater der Heinrich-Böll-Stiftung, als Netzwerker der Arbeitsgemeinschaft Ost-West der Bundestagsfraktion von Bündnis 90/Die Grünen im Deutschen Bundestag, als Mitinitiator der europäischen Erinnerungs- und Begegnungsstätte in Kreisau.
„Die Zukunft ist offen“. Aktualität und Lehren aus Ludwig Mehlhorns politischem Lebenswerk
Was bleibt heute von Ludwigs Mehlhorn Lebenswerk, von seiner zivilgesellschaftlichen und politischen Erfahrung? Wie kann sein politisches Vermächtnis heute zum Frieden und zur Stärkung der Demokratie beitragen? Ich will sechs Erfahrungen nennen, die mir heute wichtig erscheinen.
1.) Ludwig Mehlhorn hat oft betont, dass er in seinem Leben die Erfahrung gemacht hat, dass die Zukunft offen ist, nicht etwa im pessimistischen Sinn, sondern im optimistischen. Havels Machtlose, die leisen Mutigen wie Mehlhorn, die Anständigen wie Bartoszewski können, selbst in dunklen politischen Zeiten, auf positive Veränderungen in Folge Ihres Handelns hoffen. Eine Veränderung zum Besseren ist immer möglich. Handeln wir mutig und widersetzen uns den politischen und gesellschaftlichen Zuständen, die wir nicht akzeptieren.
2.) Demokratie braucht ein Bewusstsein für demokratische Traditionen. Ein Hauptbestandteil der demokratischen Tradition von Deutschen und Polen ist die Geschichte von Mutigen ohne politische Macht, von der Macht der Machtlosen und der Macht der Anständigen. Europäische Demokratiegeschichte besteht nicht nur aus der demokratischen Erfahrung des alten Westens. Das politische Europa hat viele kulturelle Quellen. Das hat Ludwig Mehlhorn beeindruckend in seiner Ausstellung über den Widerstand gegen Diktaturen im 20. Jahrhundert in Kreisau dokumentiert. Ohne ein Bewusstsein für die Vielfalt demokratischer Traditionen in Europa, ohne europäische politische Bildung, schaffen wir keine starken politischen und kulturellen Verbindungen unter uns Europäern, kein Gefühl der Nähe, der Solidarität.
3.) Die Bürger-Revolutionen endeten nicht 1989, und sie waren nicht überall friedlich. Der Kampf um die nationale Unabhängigkeit der Staaten der Sowjetunion und das blutige Auseinanderbrechen Jugoslawiens sind Bestandteile unserer europäischen Revolution nach 1989. Ohne die nationale Souveränität der Ukraine, von Belarus und Moldau sowie ohne die Integration des Westbalkans wird das demokratische Europa nicht funktionieren, wird es keinen dauerhaften Frieden geben. Die Versöhnung zwischen Frankreich, Deutschland, Polen und der Ukraine ist eine wichtige Grundlage für die europäische Integration heute.
4.) Deutsche und Polen – ihre nationale Souveränität, ihre Demokratien sind miteinander auf engste verbunden. Ohne den Sieg der Solidarność wäre es nicht zur Demokratisierung der DDR gekommen, hätte sich keine Chance zur deutschen Einheit eröffnet. Und wiederum ohne den Rückzug der russischen Truppen aus Ostdeutschland in Folge der deutschen Einheit hätte es keine volle Souveränität Polens gegeben. Die revolutionären Veränderungen der Jahre 1989-1990 waren nur möglich, weil beide Nationen zusammengingen, ihre Interessen zusammenführten und sich nicht gegeneinander engagierten. Das war eine neue Erfahrung in der modernen polnischen und deutschen Nationalgeschichte. Das Bündnis polnischer und deutscher Demokraten von 1989 leitete das Ende der negativen deutschen Polen-Politik ein, einer destruktiven Tradition, die Europa mehrfach Krieg und Konflikte brachte. Wir brauchen ein stärkeres Bewusstsein für die schicksalhafte Verflechtung der beiden Nationen, damit unsere politische Partnerschaft auch in Zukunft positiv auf Europa wirken kann.
5.) Versöhnung ist nicht nur eine ethische Verpflichtung, der sich die Generation des Weltkrieges stellen musste. Und Versöhnung besteht nicht nur aus Gesten von Staatsoberhäuptern. Die moralische und politische Verantwortung für Kriege ruht auch auf den Schultern aller Generationen, auch von jungen Menschen. Denn die kritische Auseinandersetzung mit Kriegen sowie die Verständigung mit Nachbarn stärkt die Demokratie. Initiativen des internationalen, zivilgesellschaftlichen Dialogs schaffen Verständigung, Versöhnung, sie schaffen Frieden. Schätzen wir sie, unterstützen wir sie.
6.) Der Zustand der politischen Zivilgesellschaft ist auch heute entscheidend für die Stärke des demokratischen Verfassungsstaats. Die Macht der Mutigen ist auch heute noch wichtig für eine demokratische Ordnung, denn demokratische Verfassung und soziale Marktwirtschaft sichern nicht alleine eine auf Freiheit und Menschenrechten basierende Ordnung. Dazu bedarf es einer breit in der Gesellschaft verwurzelten demokratischen Überzeugung.
Eine fehlende deutsche Kulturrevolution?
Die Transformation nach 1989 verstand Ludwig Mehlhorn nicht als eine nachholende Modernisierung des Ostens, sie war für ihn keine Kopie des alten, im Westen Bewährten. Denn nach 1989 begann für ganz Europa eine neue Zeit des politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Wandels. Diese neue Zeit brauchte, so Mehlhorn, eine neue demokratischen Kultur. Sorgen machte er sich vor allem über den Zuwachs extremistischer Haltungen in Zeiten der Transformation. In einem Essay von 1993 über die negativen politischen Folgen deutschen Einheit forderte Ludwig Mehlhorn gar eine Kulturrevolution in Deutschland. Es ist aus meiner Sicht eine sehr aktuelle Idee. Fasziniert von diesem Gedanken will ich meine Rede daher mit den Worten Ludwig Mehlhorns beenden:
Zitat
„Wenn die demokratische Kultur der Bundesrepublik mehr gewesen sein soll als ein Luxus für die fetten Jahre, der Ruf nach Demokratie Jetzt mehr als ein Kampfbegriff gegen die SED-Diktatur, dann braucht Deutschland eine Art Kulturrevolution. Ein Kulturwandel lässt sich jedoch weder von der Politik in Szene setzen, noch durch marktgerechte finanzielle Anreize stimulieren.
Liberaler Staat und Marktwirtschaft allein sind keine sich gegenseitig stabilisierenden Elemente für die demokratische Ordnung, wenn nicht ein drittes Element dazu kommt. Der Zusammenbruch des Sozialismus hat gezeigt, dass dieses Element nicht vom Staat erzwungen werden kann. Verantwortungen und Bürgersinn, Solidarität und Zivilcourage können nur von unten wachsen, im Rückgriff auf Unabgegoltenes in früheren Kulturschöpfungen, in der erinnernden Vergegenwärtigung unserer Erfahrungen, im Widerstand gegen die Banalität des Alltags, die immer häufiger in Brutalität umschlägt.
Die Kulturrevolution bestünde gerade darin, den Boden für ein solches Bewusstsein zu bereiten und der Politik wieder Denk- und Handlungsmöglichkeiten erschließen zu helfen, um den bedrohten Damm zu befestigen. ‚Keine Freiheit ohne Solidarität‘ - die polnische Lektion der 80er Jahre war in diesem Sinne eine Lektion für uns alle. Ihre Kraft bestand darin, dass - bei aller notwendigen Unterscheidung von Moral und Politik - nach der geistigen Verwahrlosung durch die totalitären Ideologien wieder ethische Fundamente der Politik zur Geltung kamen.“
„Liebe Heimgard, verehrte Familienmitglieder, sehr geehrte Gäste, liebe Freunde,
vor 14 Jahren haben wir von Ludwig Mehlhorn Abschied genommen. Es ist viel passiert in diesen Jahren. Ich denke, ich schulde ihm deshalb meine kurze Berichterstattung:
Lieber Ludwig, die Begegnung mit Polen hat dir viel bedeutet, wie du selbst oft sagtest. Und du hast dir gewünscht, dass dein Polen seinen Freiheitsmythos bewahrt. Dass wir unserer gemeinsamen Erfahrung der 80er Jahre treu bleiben und weiterhin die Ansicht vertreten, dass es die Menschen sind, die „Geschichte machen“. Schon zu deiner Zeit gab es aber in dieser Hinsicht manche Rückschläge. Heute will ich dir sagen, dass das Polen, welches du mochtest, nicht ganz verschwunden ist. Es ist sogar wieder da. Im Oktober 2023 fanden bei uns Parlamentswahlen statt, und in Zeiten eines weit verbreiteten europäischen Pessimismus haben wir eine optimistische Geschichte erzählt. Dies war möglich dank der außergewöhnlichen Mobilisierung der Wähler. Ja, wieder haben die Menschen „Geschichte gemacht“. Das hätte dich bestimmt gefreut.
Kaum jemand hat so viel für die Aussöhnung zwischen Polen und Deutschen getan wie du. Wobei du auf bloße Beschwörungsformeln oder Versöhnungsmasken immer allergisch reagiert hast. Du wusstest es am besten: Wirkliche Aussöhnung erfordert den Mut, die eigene nationale Erzählung zu hinterfragen und sich dem Nachbarn emotional und intellektuell zu öffnen. Diese Kunst hast du übrigens meisterhaft beherrscht. Gleich, ob beim Kochen von Suppen nach polnischem Rezept oder beim Übersetzen polnischer Lyrik. Es war dein aufrichtiger Wunsch, die Errungenschaft der deutsch-polnischen Annäherung in Europa öffentlich wirksam zu machen. Am liebsten in Kreisau, wo das Projekt eines gemeinsamen Europas vorgedacht wurde. Kreisau lag dir sehr am Herzen. Es wird dich deshalb interessieren, dass dort im Dezember letzten Jahres auf Initiative unserer Außenminister ein einwöchiges Seminar für Vertreter der Westbalkanstaaten organisiert wurde. Ihre derzeitigen Pläne, der Europäischen Union beizutreten, stecken noch oft in historischen Problemen.
Lieber Ludwig, die Erinnerung an die Zeit des Umbruchs von 1989 ist heute weitgehend verblasst. Die Ereignisse um die Wende der 90er Jahre werden oft auf den Zerfall ineffektiver Systeme an der Peripherie reduziert. Damit verkennt man allerdings die wahre Natur der neuen Gemeinschaften, die in den 90er Jahren ebenfalls von Menschen mit Diktaturerfahrung aufgebaut wurden. Mit diesem Ansatz wird die Beteiligung der Bürger als eine unbedeutende Fußnote der Geschichte abgetan.
Der Schock des russischen Angriffs auf die Ukraine hat die Erkenntnis bestärkt, dass der Westen die ostmitteleuropäischen Erfahrungen noch immer zu wenig berücksichtigt. Der Herbst 1989 hätte im europäischen Gedächtnis mehr Raum einnehmen sollen. Die Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen meint, man hätte auf diejenigen hören sollen, die das heutige Russland besser kannten und mit ihm mehr zu tun hatten. Das klingt wie ein Eingeständnis nicht erledigter Hausaufgaben.
Lieber Ludwig, ich möchte dir sagen, dass Europa gerade dabei ist, diese Hausaufgaben nachzuholen. Es hat beschlossen, östlicher zu werden. Das östliche Element sollte mithin deutlicher zum integralen Bestandteil der kollektiven Identität Europas werden. Darauf hast du ja selbst lange hingearbeitet und gehofft. Es kommen auch Stimmen auf, wir sollten die Bedeutung des Wendepunktes von 1989 aufs Neue lesen, wenn wir die gegenwärtige Entwicklung auf dem Kontinent in ihrem vollen Ausmaß begreifen wollen. Europa muss als geopolitischer Akteur auch seine jüngeren Fundamente identifizieren. Möglicherweise hat die Fehlinterpretation des Umbruchs von 1989 verhindert, dass wir unser europäisches Schicksal nicht schon früher in die eigenen Hände genommen haben.
Der Urlaub von der Geopolitik ist nun zu Ende. Das hat Konsequenzen für die EU, die jetzt anders über sich selbst zu denken beginnt. Sie verwandelt sich von einer Regelfabrik in eine Schicksalsgemeinschaft. Das kollektive Glück zu verwalten, genügt nicht mehr. Nicht immer scheint die Sonne, manchmal hagelt es sogar. Genauso durfte auch der Kommunismus – und das sind deine Worte – „nicht bloß als eine miese, aber letztlich ungefährliche Operette betrachtet werden“. Lieber Ludwig, wenn du den, der unsere Wege lenkt, siehst, dann koche ihm doch bitte eine Suppe nach polnischem Rezept.“
Dieser Text basiert auf einer Rede, die der Autor, der stellvertretende polnische Außenminister Marek Prawda, am 28. April 2025 vor der Französischen Friedrichstadtkirche in Berlin zur Erinnerung von Ludwig Mehlhorn gehalten und anschließend für das Deutschland Archiv überarbeitet hat. Zitierweise: Marek Prawda, „Der Urlaub von der Geopolitik ist nun zu Ende“, in: Deutschland Archiv vom 21.05.2025. Link: www.bpb.de/562270. Alle Beiträge im Deutschlandarchiv sind Recherchen und Meinungsbeiträge der jeweiligen Autorinnen und Autoren, sie stellen keine Meinungsäußerung der Bundeszentrale für politische Bildung dar und dienen als Mosaikstein zur Erschließung von Zeitgeschichte. (hk)
QuellentextStephan Bickhardt: „Versöhnung ist Heilung in friedlosen menschlichen Beziehungen". Eine weitere Erinnerung an Ludwig Mehlhorn
Eine weitere Würdigung von Ludwig Mehlhorn vom 28. April 2025, vorgetragen von Stepan Bickhardt, seit 2019 leitet er die Evangelische Akademie Sachsen. Wie auch Ludwig Mehlhorn war er ein Vertreter der Bürgerrechtsbewegung in der DDR.
Die Würdigung heute berührt einen Wesenszug Ludwig Mehlhorns. Ludwig fragte mehr als andere, welche Wirkungen von uns Deutschen auf unsere polnischen Nachbarn ausgehen. Welche Wirkungen gehen von mir selbst und anderen Deutschen auf unsere Nachbarn aus? Diese Frage beschäftigte ihn zu allererst. Und der Respekt, die Zuneigung und die Freundschaft zu Menschen in Polen wurden ihm wichtiger als seine Tätigkeiten in den Arbeitsstellen. Aktion Sühnezeichen/ Friedensdienst hatte einst den Anstoß dazu gegeben.
Was haben wir Deutschen angesichts der Geschichte und der gemeinsamen Zukunft in Europa zu lernen? Heute: Solidarität mit der Ukraine im Geist der Solidarnosc. Mit Ludwig Mehlhorn ehren wir einen Menschen mit der Eigenschaft radikal vom anderen her zu denken und zu empfinden. Ludwig verband den biblischen Versöhnungsgedanken mit dem Bewusstsein für Demokratie und Menschenrechte einzustehen.
Ludwig reiste über 100 mal nach Polen. Er liebte das Land und die Menschen. Die Klubs der Katholischen Intelligenz, das Komitee zur Verteidigung der Arbeiter, die Gewerkschaft Solidarnosc, die Stiftung Kreisau für Europäische Verständigung und polnische Zeitschriften bildeten Kontaktflächen. Wer Polen begegnet, lernt Vertrauen – zugleich das Vertrauen in die eigene Zukunftsfähigkeit.
Ludwig lernte die polnische Sprache. Und wie die polnische Literaturprofessorin Maria Zadenscka einmal sagte: „Ludwig spricht akzentfrei!“ Er hatte sich die Sprache autodidaktisch angeeignet. Wer die Sprache der anderen spricht, versteht besser. Ludwig solidarisierte sich – zum Beispiel mit den streikenden Arbeitern der Ursus-Werke in Radom bei Warschau 1976. Wir sammelten damals Geld unter Freunden und gemeinsam mit seiner Frau Heimgard Mehlhorn brachte er dann das Geld über Zgorzelec dorthin. Einer seiner wiederholten Sätze lautete: wir müssen konkret werden.
Ludwig verständigte, das war sein Lebenselixier. Im Blick auf Veranstaltungen der Evangelischen Akademie oder in Kreisau/ Krzyzowa fragte er zuerst: wer kommt aus Polen, der Ukraine, aus Belarus? In seinem Sinne gesprochen: Wer Verständigung anstrebt, sucht mehrheitlich, die Menschen aus anderen Nationen um sich zu versammeln. Ludwig zeigte sich gelegentlich aufgeregt über Polen. Mit Unverständnis sprach er manchmal von der Zersplitterung der Gewerkschaft Solidarnosc, der wir seit 1980 die Revolution des kommunistischen Systems verdanken. Mit Ludwig gesprochen: Wirkliche Vorbilder können auch mal schwierig sein. Und Gerd Poppe schließt an anderer Stelle eine Würdigung mit den Worten: „Ihm ging es immer um Solidarität im Sinne von Solidarnosc.“
Operativvorgänge „Mühle“ und „Knacker“
Ludwig wurde verfolgt vom Staatssicherheitsdienst der DDR (Operativvorgänge „Mühle“ und „Knacker“). Er ließ sich nicht abbringen für deutsch-polnische Kontakte und den Austausch von Schriften in der demokratischen Opposition zu sorgen. Er würde sagen: das war der Anfang, heute können wir gemeinsam aktiv sein und Organisationen gründen, wie die Stiftung Kreisau für Europäische Verständigung, das Europäische Zentrum der Solidarnosc in Danzig, das Deutsch-Polnische Jugendwerk. Welche Initiativen kommen hinzu? Ludwig las und las immer wieder aus polnischer Literatur. Er konnte auch deshalb von Polen her denken, weil er Czeslaw Milosz und Zbigniew Herbert oder Hanna Krall las. Er übersetzte - für die radix-blätter. Und sprach mit den Bauern in den Masuren oder in den südlichen Bergen. Ludwig sagte einmal: Literatur und Gespräch gehören zusammen.
Ludwig schrieb Texte zur Klärung, ringend um Genauigkeit. Im Samisdat (Selbstverlag) brachten wir gemeinsam mit Gerd Poppe ein Buch zur Friedensbewegung heraus. Er schrieb darin Folgendes: „Versöhnung ist Heilung in friedlosen menschlichen Beziehungen. Da dies ein zutiefst personales Geschehen ist, setzt es die Freiheit und Autonomie der handelnden Menschen voraus. Wer Frieden durch Versöhnung will, muss daher für die Achtung der Menschenrechte eintreten – zuerst für die der anderen – und die emanzipatorischen Bewegungen von Völkern unterstützen, die politisch, kulturell oder wirtschaftlich unterdrückt sind.“ Ludwig sagt: zuerst für die Menschenrechte der anderen eintreten, das ist sein Vermächtnis.
Ludwig Mehlhorn hatte Humor: Ein selbst verlegtes Buch mit literarischen Texten aus Polen nannte Ludwig ODER, nach dem Grenzfluss Oder. Oder – die Alternativen liegen jenseits des Flusses. Alternativen können niemals nur für Deutschland formuliert werden. Dann sind sie keine. Fragt und fahrt nach Polen. Das ist in Ludwigs Sinne.
Stephan Bickhardt, Französische Friedrichstadtkirche Berlin, 28. April 2025. www.bpb.de/562269
QuellentextFriederike Krippner über Ludwig Mehlhorn: "In der Wahrheit leben"
„Ludwig Mehlhorn war ein Mensch, der sich im Glauben getragen wusste. […] [Er] war ein nachdenklicher, ein einfühlsamer Mensch. Er konnte ganz gegenwärtig sein, humorvoll, schlagfertig, aber er konnte auch ganz in Gedanken sein, wie abwesend. Seine Sätze brauchten Zeit. […] Ein Satz aber galt sicherlich immer, ein Satz aus dem kleinen Prinzen, dem ersten Buch, das Ludwig und Heimgard Mehlhorn gemeinsam […] gelesen haben: ‚Man sieht nur mit dem Herzen gut."
So hat mein Vorgänger im Amt, Rüdiger Sachau, seine Predigt bei der Beerdigung von Ludwig Mehlhorn im Mai 2011 eingeleitet, nachdem Ludwig Mehlhorn – zu früh, nach kurzer, schwerer Krankheit – gestorben war. „Man sieht nur mit dem Herzen gut“ – anders als mein Vorgänger und viele von Ihnen, die heute hier versammelt sind, hatte ich nicht das Glück, Ludwig Mehlhorn persönlich kennenzulernen. Aber ich habe gefragt, in meinem Team, bei denjenigen, die ihn noch kennengelernt haben, die noch mit ihm zusammengearbeitet haben, was er denn für ein Mensch, was für ein Kollege er war, dieser Ludwig Mehlhorn. Und dies zog sich durch die Berichte: seine Freundlichkeit, seine Bescheidenheit und sein aufrichtiges Interesse am Gegenüber.
Dieses Interesse am Gegenüber, seine Neugier, sein christlicher Glaube und seine aus diesem Glauben getragene unverrückbarer Überzeugung, dass allen Menschen die gleichen Rechte zustehen, ja, dass allen Menschen vor allem ein Leben in Freiheit ermöglicht werden sollte, war Motor für sein unermüdliches gesellschaftspolitisches Wirken in zwei Staatsformen: zunächst in der DDR, dann später in der Bundesrepublik. Immer im Blick war ihm dabei Mittel- und Osteuropa, besonders aber Polen.
Ludwig Mehlhorn wurde in Sachsen geboren, in Bernsbach, später wurde er Berliner. Noch als Student, im Sommer 1970, kam er im Rahmen der Aktion Sühnezeichen nach Polen. Er brachte sich selbst Polnisch bei – so gut, dass er es später fließend sprach. Hart wird es ihn getroffen haben, dass er in den 1980er Jahren aufgrund seiner vielen Tätigkeiten in der DDR-Opposition nicht mehr nach Polen reisen durfte. Und dann aber wurde auf einmal alles ganz anders: 1989! Das Jahr der friedlichen Revolution, das Ende der DDR, das Jahr, in dem das kommunistische Regime in Polen abgesetzt wurde. Ludwig Mehlhorn hat das später so beschrieben, dass „die Revolutionen von 1989 ein Geschenk [gewesen seien], das wir uns gegenseitig gemacht haben“. Mehlhorn hat klar gesehen und immer wieder benannt, wie wichtig die Ereignisse in Polen für Deutschland waren. „Ein Geschenk, das wir uns gegenseitig gemacht haben“ – darin wird deutlich, wie sehr Mehlhorn über nationalstaatliche Grenzen hinweg dachte.
Brückenbauer über den Mauerfall hinaus
Dieses Denken, das nach dem Gemeinsamen sucht, wurde auch zu einem Motor für die Stiftung Kreisau, um die es ja auch heute noch gehen wird. Denn auch dort brach er nationalstaatliches Denken auf, wenn in der gemeinsam entwickelten Dauerausstellung „In der Wahrheit leben“ Porträts von Menschen aus verschiedenen Länder gezeigt werden, die sich auf unterschiedliche Weise totalitären Regimes widersetzten. Ludwig Mehlhorn wollte gemeinsame Brücken finden und bauen. Das galt auch für sein Wirken in der Evangelischen Akademie Berlin-Brandenburg, später dann in der Evangelischen Akademie zu Berlin, die Ost- und West-Akademie zusammenführte: Er war Brückenbauer, setzte auf die direkte Begegnung, beförderte Erinnerungsarbeit und setzte sich ein für Bürgerrechte, für Demokratie – all dies getragen von seinem Glauben, seiner Liebe zur Musik, der Faszination für unterschiedlichste Menschen und aus der Gewissheit „dass wir stets mit dem Herzen“ sehen sollten.
Ich bin sehr dankbar für die Initiative der Robert-Havemann-Stiftung, dass es nun eine Plakette gibt, die diesem außergewöhnlichen Menschen, Christen, Brückenbauer und Studienleiter gedenkt und uns alle daran erinnern möge, wofür einzustehen sich lohnt...Vor allem aber bin ich dankbar, dass wir in diesen Zeiten, in denen es manchmal auch schwer fällt, angesichts all der auf uns einprasselnden Nachrichten, angesichts eines furchtbaren Rechtsrucks in Deutschland und weiten Teilen Europas, dass wir angesichts von alldem hier zusammengekommen sind, gemeinsam nachdenken können, im Geiste Ludwig Mehlhorns, um uns allen je auch selbst die Frage zu stellen, was es denn wohl heute heißt, dieses Wort, das die Dauerausstellung in Kreisau ziert: „In der Wahrheit leben“. In der Wahrheit leben – wie kann das heute gelingen?
Friederike Krippner, Französische Friedrichstadtkirche Berlin, 28. April 2025. www.bpb.de/562858. Die Germanistin ist seit 2020 Direktorin der Evangelischen Akademie zu Berlin
Zitierweise: Basil Kerski, „Die Macht der leisen Mutigen, oder „Es lohnt sich anständig zu sein", in: Deutschland Archiv vom 22.05.2025 mit Begleittexten von Marek Prawda, Stephan Bickhardt und Friederike Krippner. Link: www.bpb.de/562269. Dieser Text basiert Reden, die die Autor*innen am 28. April 2025 in der Französischen Friedrichstadtkirche in Berlin zur Erinnerung von Ludwig Mehlhorn gehalten und anschließend für das Deutschland Archiv überarbeitet haben. Alle Beiträge im Deutschlandarchiv sind Recherchen und Meinungsbeiträge der jeweiligen Autorinnen und Autoren, sie stellen keine Meinungsäußerung der Bundeszentrale für politische Bildung dar und dienen als Mosaikstein zur Erschließung von Zeitgeschichte. (hk)
ist Direktor des Europäischen Solidarność-Zentrums in Danzig und Chefredakteur des deutsch-polnischen Magazins "Dialog" in Berlin. Er lebt in beiden Städten. E-Mail Link: ecs@ecs.gda.pl