Verklärung der Geschichte als Zukunftsrezept
Wie Russland aus Geschichtsverklärung ein utopisches Potenzial zu schöpfen versucht
Anna Schor-Tschudnowskaja
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Warum stößt Putins Krieg gegen die Ukraine ausgerechnet in dem Land nicht auf mehr Widerstand, das nach dem Zweiten Weltkrieg das „Nie wieder!“ so beschwor, in Russland? Weil offensichtlich Verklärer Geschichte erklären. Ein Blick auf den langfristig herbeigeführten Wandel der russischen Geschichtsschreibung von der Wiener Soziologin und Psychologin Anna Schor-Tschudnowskaja.
Die russländische oppositionelle Zeitung Novaja gazeta hielt bereits im Sommer 2021 fest, dass „im Bereich der Geschichte eine Vorkriegssituation herrscht“. Die Wahrscheinlichkeit, dass sie damals den großen Krieg gegen die Ukraine (wie er im Februar 2022 beginnen sollte) für möglich oder gar unausweichlich hielt, ist eher gering. Dennoch legen die damaligen Beobachtungen diesen metaphorischen Vergleich nahe: Das Blatt berichtete über eine neue „Kommission für die historische Aufklärung“, der Vladimir Medinskij vorsitzen sollte – genau jener Historiker und ehemaliger Minister für Kultur Medinskij, der schon im Februar 2022 die russische Delegation bei den Verhandlungen zwischen der Ukraine und Russland in Istanbul leitete, im Frühjahr 2025 erneut damit betraut wurde und die Moskauer Forderungen nach der faktischen Kapitulation der Ukraine auch und gerade mit obskurantistischen historischen Mythen untermauerte.
So hat Medisnkij die in dem an die Ukraine überreichten Memorandum mit russischen Forderungen unter anderem mit einem erfundenen Zitat von Otto von Bismarck kommentiert. Laut Medinskij habe bereits Bismarck gewarnt: "Er sagte immer: 'Versuche nie, die Russen zu betrügen oder ihnen etwas zu stehlen. Denn früher oder später kommen die Russen immer und holen sich, was ihnen gehört." Mit diesem falschen Zitat von Bismarck "Die Russen kommen immer und holen sich, was ihnen gehört" sollten die im Memorandum stehende Maximalforderungen nach Aufgabe der territorialen, militärischen und politischen Souveränität der Ukraine mit dem Verweis, dass die Ukraine allein durch ihre Existenz 'den Russen etwas gestohlen' habe, begründet werden.
Medinskij fällt bereits seit vielen Jahren durch beständige Bemühungen auf, Geschichte in ein Instrument für Ideologie und Konfrontation zu verwandeln. Seine „Kommission“ sollte insbesondere aus Vertretern von Wladimir Putins Präsidialadministration, der Staatsanwaltschaft, des russländischen Sicherheitsrates, der Ministerien für Äußeres und Verteidigung sowie des Föderalen Sicherheitsdienstes (FSB) bestehen. Die von diesen Behörden angestrebte „Aufklärung“ mündete in einen Kampf um die „einzig richtige“ Version historischer Ereignisse, von der – so die zentrale, hinter der „Kommission“ stehende Idee – das Überleben Russlands und seine innen- wie außenpolitische Sicherheit angeblich abhängen. Inzwischen wissen wir, dass die Novaja gazeta Recht behielt. Die sich seit Jahren intensivierende ideologische Verklärung der Geschichte in Russland spielt eine entscheidende Rolle bei der Rechtfertigung des Großangriffs auf die Ukraine – und auch bei der drastischen Verschärfung des repressiven Charakters des Putin-Regimes.
2016 vertrat Medinskij öffentlich die Meinung, dass man selbst dann an behauptete historische Ereignisse glauben soll, wenn sie sich als Frucht menschlicher (oder staatlicher) Fantasie herausstellen – unter der Bedingung, dass sie den heldenhaften Charakter der nationalen Geschichte untermauern. Diese (und viele andere) Einlassungen Medinskijs machten völlig klar, dass es ihm nicht um geschichtswissenschaftliche Forschung und Erkenntnisse geht, sondern um die politisch nützliche Glorifizierung des russischen Staates. Dieser Ansatz erleichterte ihm eine glänzende Karriere im Machtapparat Putins, vom Abgeordneter 2003 zum Kulturminister 2012-2020 und Vorsitzenden der Russischen Militärhistorischen Gesellschaft 2015 (die Stalin zu rehabilitieren versucht). Jetzt triumphiert Medinskij in Istanbul vor laufenden Fernsehkameras und sieht sich in seiner Überzeugung bestätigt, dass historische Mythen effektiver als Fakten seien.
Sowjetisches utopisches Erbe?
Die Fragen, was Putin von seiner Sozialisation in der Sowjetunion (und beruflich in deren Komitee für Staatssicherheit/KGB) übernommen hat und welche Züge des Sowjetregimes er seit seinem Aufstieg zur Macht (1999/2000) restaurieren möchte, werden seit Jahren diskutiert. Direkte Parallelen zwischen seinem Regime und dem Sowjetsystem sollte man nicht ziehen, denn Putin ergänzt die erkennbaren Tradierungslinien immer wieder um neue Aspekte. Daher ist dem russländischen Soziologen Dmitrij Gorin nur partiell zuzustimmen, als er bereits 2013 bemerkte, dass die eifrigen Versuche, „unter grundlegend neuen Bedingungen [unter Putin – A.S.]“ die Vergangenheit nach Lust und Laune zu konstruieren, „Stereotypen reproduzieren, die aus der gescheiterten Versöhnung von Utopie und Realität [in der Sowjetunion] stammen“.
Betrachten wir die Bemühungen Medinskijs und seiner Gleichgesinnten im russländischen Staatsapparat genauer, dann geht es kaum um eine zu entwerfende Utopie (wie die in der Sowjetzeit versprochene „lichte Zukunft“), sondern um die sehr zweckrationale Frage nach der Effektivität von gegenwärtiger Herrschaft: Wie kann man trotz aller Veränderungen und neuen Trends der Zeit zuverlässig an der Macht bleiben? Historischen Mythen kommt dabei eine ganz besondere Rolle zu, weil sie – zumal, wenn sie verführerisch und schmeichelhaft genug sind – Menschen recht effektiv an die Herrschenden binden können.
Es ist eine interessante, aber nicht einfach zu beantwortende Frage, ob der Verfall des sowjetischen Utopieprojekts immer noch im Gange ist. In manchen Bevölkerungsschichten Russlands sind sicherlich auf unterschiedliche Art und Weise postutopische Tendenzen zu spüren. Gorin ist bei seiner folgenden Beschreibung jedenfalls zuzustimmen:
„Die äußerst widersprüchliche ideologische Ausgestaltung des gegenwärtigen russländischen politischen Regimes ist weitgehend auf die Mischung aus einer konservativen Logik des Staatskapitalismus, stalinistischen Utopien, die bis heute attraktiv sind, sowie neuen postsowjetischen Retrotopien zurückzuführen.“
Doch die Verklärung und Heroisierung der russländischen Geschichte unter der Leitung von Akteuren wie Putin und Medinskij und unter der wachsamen Kontrolle der repressiven Organe des russländischen Staates haben wohl nicht nur damit etwas zu tun.
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Zuerst und vor allem geht es um die möglichst nachhaltige Etablierung eines Rechts der Stärkeren und einer eigenartigen Herrschaftsautonomie – mit der Folge, dass weder die Anforderungen noch die Struktur der existierenden Staatsmacht von innen wie außen kritisiert oder wie auch immer angegriffen werden dürfen.
Putins Geschichtspolitik
Der Geschichtspolitik unter Putin ist in einem besonderen Maße eine beständige Verdrehung von Begriffen eigen. Sie werden dabei in ihren Bedeutungen ausgedehnt und mitunter bis zur Unkenntlichkeit mit neuen Inhalten angereichert. Ein aktuelles Beispiel dafür findet sich in der von Putin im Dezember 2024 unterzeichneten „Konzeption zur Extremismusbekämpfung“. Ihr zufolge zählen zu „Extremismus“ unter anderem Tätigkeiten, die auf eine „bewusste Verzerrung der Geschichte“, zum Beispiel durch „die Revision der Ansichten über den Platz und die Rolle Russlands in der Weltgeschichte“ abzielen.
Für eine solche „Revision der Ansichten“ ist eine strafrechtliche Verfolgung vorgesehen. Als „Verzerrung der Geschichte“ gilt alles, was „den Platz und die Rolle Russlands“ nicht ausreichend groß und heldenhaft darstellt. Wie der russländische oppositionelle Historiker Nikita Sokolov in einem (freilich nicht in Russland) gehaltenen Vortrag festhielt, propagieren die Moskauer Machthaber
„ein archaisches Geschichtsbild, charakteristisch eher für das 19. als für das 20. Jahrhundert. Dieses Bild zeichnet sich durch einen Eklektizismus der Großartigkeit aus: Die Geschichte Russlands ist immer und zu allen Zeiten großartig. Das Zarenreich, das Imperium und die UdSSR verschmelzen zu einer Einheit.“
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Möglicherweise ist die Geschichtspolitik jenes Feld, auf dem im Rückblick besonders gut ersichtlich wird, wie schleichend, aber zielstrebig die Konsolidierung der autoritären Verhältnisse unter Putin erfolgte.
Anhand eines Berichts der Internationalen Föderation für Menschenrechte (FIDH) lässt sich verfolgen, wie die Verteidigung der einzig wahren Geschichtsdeutung im Sinne der „Großartigkeit“ zur Angelegenheit von nationaler Bedeutung wurde:
„Die offizielle Geschichtsdarstellung wurde im Jahr 2020 in der russländischen Verfassung verankert. Eine Reihe von Verfassungsänderungen erklärt die Russländische Föderation zum ‚Nachfolger‘ der Sowjetunion (Artikel 67.1 Absatz 1), verkündet, dass die Russländische Föderation ‚das Andenken an die Verteidiger des Vaterlandes ehrt‘ und ‚die historische Wahrheit schützt‘ (Artikel 67.1 Absatz 3), warnt, dass ‚die Bedeutung des Heldentums des Volkes bei der Verteidigung des Vaterlandes nicht geschmälert werden darf‘ (Artikel 67.1 Absatz 3) und weist die Regierung an, Kindern ‚Patriotismus beizubringen‘ (Artikel 67.1 Absatz 4). Die Kontinuität mit der Sowjetunion, die Heiligkeit des sowjetischen Sieges im Zweiten Weltkrieg sowie das staatliche Monopol auf die Geschichtsdeutung zählen zu den Grundlagen des heutigen politischen Systems Russlands.”
Ähnliche Entwicklungen werden erkennbar, wenn die Inhalte von Schulbüchern für den Geschichtsunterricht untersucht werden.Dar’ja Moskalenskaja stellte in einem in Russland erschienenen Artikel eine gravierende Änderung in Darbietung und Deutung fest: Während die Schulbücher der 1990er- und frühen 2000er-Jahre im Allgemeinen eine emotionalere Darstellung des Stoffes boten und die staatlichen Repressalien in der Sowjetunion unter Josef Stalin als Teil des totalitären Systems betrachteten, verschwand der Begriff „Totalitarismus“ in der Folgezeit. Die späteren Lehrbücher „zeichnen sich durch einen zunehmend vorsichtigen und zurückhaltenden Ansatz aus. Einige Autoren versuchen, die Behandlung dieses problematischen Themas zu minimieren. (…) Und die Ursachen der Repressionen stehen nach wie vor auf der Liste der ‚schwierigen Fragen‘, die in geschichtsdidaktischen Veröffentlichungen nicht angemessen angegangen werden.“
Das allmählich installierte staatliche Monopol für historische Deutung und Wahrheit lässt eine ganz konkrete Deutungsperspektive erkennen: An der historischen Front wird vor allem die Legitimität der Herrschenden gegen jede Kritik verteidigt. Auch hier finden systematische Verzerrungen der Begriffe statt: Man spricht von „Falsifikation“, „Diskreditierung“ und einem „Schwärzen“ der Geschichte, meint damit aber einzig und allein angebliche oder tatsächliche Kritik an den jeweils Herrschenden. Der Begriff „Kritik“ fehlt dabei gänzlich, alles, was als solche bezeichnet werden könnte, gilt als „feindliches Anschwärzen“ und „russophob“. Dazu wieder der Rückblick der FIDH:
„Im Juni 2012 gründeten große staatliche Universitäten, akademische Einrichtungen, Museen und Medienunternehmen (…) die Russländische Historische Gesellschaft (RHS). Den Vorsitz der RHS führt seit ihrer Gründung Sergej Naryškin, der Chef des Auslandsgeheimdienstes und ehemalige Leiter der Geschichtskommission von 2008 bis 2012. Auf der Eröffnungssitzung der RHS erläuterte Naryškin den Auftrag der Organisation: ‚Große Errungenschaften und Siege sind nur möglich, wenn wir uns auf die dauerhaften Werte des Patriotismus, des staatsbürgerlichen Bewusstseins und des hohen moralischen Dienstes am Staat einigen‘. Zu den Prioritäten der RHS gehört die Erinnerung an Ereignisse der russländischen Militärgeschichte und der Geschichte der Regierungsinstitutionen, beispielsweise des Auslandsnachrichtendienstes.“
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Die Geschichtspolitik unter Putin hat somit ein klares Ziel: Die Bevölkerung soll im Sinne eines „moralischen Dienstes am Staat“ erzogen werden, womit freilich unkritische Loyalität gegenüber der Staatsführung und passiv-wohlwollendes Hinnehmen von allen Deutungen und Weltbildern, die diese produziert, gemeint sind.
Gleichzeitig werden Kritik am Staat, an der Vergangenheit oder an der Gegenwart auf eine eigenartige Art und Weise miteinander verschmolzen, um sie sozusagen verschleiert, aber nicht minder effektiv zu verbieten.
Verschleiert ist diese repressive Geschichtspolitik auch deswegen, weil sie von Menschen betrieben wird, die zwar Posten im Staatsapparat bekleiden, aber zumindest der Funktion nach für etwas anderes zuständig sind, so zum Beispiel Valerij Fadeev, der Vorsitzende des Präsidialrates für Menschenrechtsfragen. Er sagte in einem Interview:
„Es gibt Befürworter des Stalinismus und von Stalin sowie Gegner des Stalinismus und von Stalin. Und so wird es noch viele Jahrzehnte lang bleiben. In der Gesellschaft gibt es keine Einigkeit. Soll man nun Stalin lieben oder hassen? Das ist unsere tragische und zugleich heldenhafte Geschichte. Die einen betonen das Heldentum, die anderen die Tragödie.“
Bemerkenswert an dieser Haltung ist nicht nur, dass Anhänger des Stalinismus mit seinen Gegnern gleichgestellt werden und ein irgendwie ausgewogenes gesellschaftliches Stimmungsbild suggeriert wird. Es fällt auch einmal mehr auf, dass die Geschichte laut der offiziellen Deutung nur aus Heldentum und Tragödien besteht; während Heldentum auf konkrete Menschen und konkrete Entscheidungen zurückgeht, sind Tragödien Ereignisse, für die quasi niemand (oder nur höhere Mächte) eine Verantwortung trägt. Und so gibt es in der Geschichte Russlands nur gute Taten und Helden, nicht aber schlechte Taten und Übeltäter. Und folglich ist Kritik an historischen Persönlichkeiten, insofern sie mit der Staatsmacht assoziiert waren, vollkommen unzulässig. Aus dieser Perspektive können nur innere oder äußere Feinde Russlands solche Kritik üben.
Nostalgische Romantisierung oder Staatsideologie?
Die Novaja gazeta existiert heute nur noch in einer außerhalb Russlands zugänglichen Online-Version. Ihr ehemaliger Chefredakteur Dmitrij Muratov, Friedensnobelpreisträger 2021, wandte sich kürzlich mit der alarmierenden Botschaft an die (russischsprachige) Öffentlichkeit, dass in Russland eine „Selbstfaschisierung“ und „Selbststalinisierung“ laufe. Damit bezog er sich auf die unablässige, fieberhafte Jagd auf „Feinde“ und „Verräter“ sowie die Politik der Behörden, jedes Problem im Land durch das Wirken von inneren und/oder äußeren „Gegnern Russlands“ zu „erklären“. Es kann in diesem politischen Klima auch nicht erstaunen, dass ein Denkmal für Stalin nach dem anderen errichtet wird: Dieser war beständig auf der Suche nach „Volksfeinden“.
Der stellvertretende Justizminister Russlands, Evgenij Zabarčuk, äußerte vor Kurzem, dass es wichtig sei zu unterscheiden, wer „wahre, echte Patrioten unseres Landes“ und wer „Feinde, Verräter, Verleumder [sind], die ihre Heimat und ihr Volk verleumden und versuchen, die Geschichte, die historische Wahrheit zu verfälschen“. Er rief dazu auf, die Strafen für „Verräter und Verleumder“ sowie für Akte von Vandalismus an Denkmälern zu verschärfen.
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Das historische Bewusstsein fungiert so als Loyalitätstest und Indikator, mit dessen Hilfe sich leicht „wahre Patrioten Russlands“ von seinen Feinden trennen lassen. Für jene, die eine solche Unterscheidung fieberhaft betreiben möchten, wird Geschichte (beziehungsweise das, was Medinskij und andere gefolgsame Historiker daraus machen) zur wichtigen politischen Waffe.
Der Begriff „Selbststalinisierung“, der in diesem Kontext von mehreren kritischen Beobachtern unabhängig voneinander gewählt wurde, deutet an, dass es sich nicht nur um eine bewusste propagandistische Strategie der Führung handelt, sondern auch um eine Initiative „von unten“, das heißt auf der lokalen Ebene. Die offizielle russländische Gedenkkultur passt sehr gut zu jener, die von der großen Mehrheit der Bevölkerung befürwortet wird.
In diesem Kontext ist es nützlich, an die 2013 ins Leben gerufene Initiative „Die letzte Adresse“ zu erinnern. Sie hatte sich zum Ziel gesetzt, den Opfern des Staatsterrors in der Sowjetunion (vor allem unter Stalin zwischen 1933 und 1953) zu gedenken, indem man russlandweit Tafeln an den Fassaden jener Häuser anbrachte, in denen die jeweiligen Opfer zuletzt gewohnt hatten. Der Umstand, dass diese Initiative überhaupt noch existiert, geht wahrscheinlich kurioserweise darauf zurück, dass sich kaum jemand für sie interessierte. Gleichzeitig standen nicht wenige Privateigentümer und Bewohner der betreffenden Gebäude der Anbringung der Tafeln skeptisch bis ablehnend gegenüber. Insbesondere in den vergangenen drei Jahren nahm der Widerstand in der Bevölkerung gegen die Tafeln merklich zu.
Als Motiv wird meistens angeführt, dass man die Geschichte des eigenen Landes nicht anschwärzen wolle: Nur „Feinde Russlands“ könnten „etwas Negatives“ in dessen Geschichte finden und die Stimmung trüben wollen, so das propagandistische Narrativ. Praktisch jede öffentliche Thematisierung der sowjetischen Staatsverbrechen wird als a priori verdächtige, subversive Geste wahrgenommen. Und ausgerechnet der bereits erwähnte – und für Menschenrechtsfragen zuständige – Fadeev bewertete die „Letzte Adresse“ ebenfalls negativ: „Wozu dann so aufdringlich, dass es jeden Tag ins Gesicht sticht [sic!]. Ah, Ihr habt hier einander gemordet. So ein Land hat keine Zukunft. (…) Und dieses Projekt steht auf der Seite der Unwahrheit oder bestenfalls der Halbwahrheit. Deshalb gefällt es mir nicht.“ Fadeev sprach sich dafür aus, die bereits angebrachten Gedenktafeln zu entfernen.
Ideologie oder Utopie?
Die Verherrlichung ausgewählter Facetten der Vergangenheit hat wenig mit der Geschichte und viel mit der Gegenwart zu tun: Seit Jahren wird eine systematische, rationale und wohl auch ziemlich effektive Arbeit an der Schaffung einer politischen Kultur betrieben, in der die Bevölkerung mittels Deutungen des Vergangenen und Gegenwärtigen die derzeitige Herrschaftsstruktur zumindest passiv akzeptieren soll.
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Die russländische Geschichte erfährt gerade, wie die leidgeprüfte Ukraine, ebenfalls eine Okkupation – und sie wird von demselben Staat betrieben. Während aber die verbrannte Erde auf ukrainischem Boden vollkommen real ist, bleibt sie im russländischen kollektiven historischen Bewusstsein auf der geistigen Ebene. In Russland wird eine mit Mythen indoktrinierte Bevölkerung geschichts- und gedächtnislos gemacht.
Und wieder stellt sich die Frage, inwiefern diese effektive Strategie der Machtsicherung ein Teil des sowjetischen Erbes ist. Um sie zu beantworten, ist es hilfreich, sich an den von dem Soziologen Karl Mannheim vorgeschlagenen systematischen Unterschied zwischen Utopie und Ideologie zu erinnern: Während sich Erstere gesellschaftliche Veränderungen und Wandel der bestehenden Verhältnisse zum Ziel setzt und vor allem die gesellschaftliche Vielfalt und Konkurrenz verschiedener Sichtweisen anerkennt, versucht Letztere, die bestehenden (Macht-)Verhältnisse zu konservieren und „spezifischen Sichtweisen auf die Welt das Gewand des Absoluten anzulegen“.
Mit Blick auf die Geschichte der Sowjetunion lässt sich sagen, dass Utopie und Ideologie miteinander schwer zu verbinden sind. Man könnte wohl etwas zugespitzt formulieren, dass die „bolschewistische“, „kommunistische“ oder auch „marxistische“ Utopie des frühen Sowjetstaates ausgerechnet der sowjetischen Ideologie zum Opfer fiel. Gleichzeitig hielt die Sowjetunion so lange durch, wie das ursprüngliche utopische Potenzial noch irgendwie verführerisch und glaubhaft wirkte. Allerdings ist es natürlich nicht unbedingt so, dass diese Entwicklung eine Gesetzmäßigkeit darstellt und sich ohne Weiteres auf die Gegenwart übertragen lässt.
Die neue russländische Staatsideologie kommt vollkommen ohne utopisches Potenzial aus. Putins monotoner Kampf um ideologische Deutungshoheit ist allerdings offenkundig ziemlich erfolgreich. Es ist ihm gelungen, eine eigenartige „Ideologie der Alternativlosigkeit“ zu etablieren, die der Bevölkerung die Überzeugung einimpfen will, dass es nichts Besseres geben kann: Man solle bewahren und annehmen, was es gibt und wie es ist.
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Das ist eine Herrschaftsideologie der besonderen Art, intellektuell praktisch leer und ohne Zukunftsvision. Zur rein etatistischen Geschichtspolitik tritt eine Scheinideologie des puren Etatismus hinzu. Auch in dieser Weltsicht werden Zuversicht und Hoffnungen gestiftet – doch nur aus Angst, dass alles viel schlechter werden könnte.
Und projiziert werden sie auf den jetzigen Staat, unterstützt durch das Deutungsmuster, dass nur die souveräne (unfehlbare) Staatsspitze und ein starker (vor feindlichen Angriffen geschützter) Staat in der Lage seien, in „so schwierigen Zeiten“ Russland in einem immerwährenden Status quo vor allen inneren wie äußeren imaginierten Umwälzungen und Bedrohungen zu schützen. Vom Staat autonome Individuen und eine freie Gesellschaft fehlen in diesem ideologischen Deutungsmuster gänzlich; auch in der entstellten Geschichte Russlands sind sie nicht zu finden. Als Teil der stark paternalistischen, nationalen Identität kommt der Geschichte lediglich die Funktion zu, den Staat als großartig und stark auftreten zu lassen; Fehler, Reue oder auch nur Kritik sind Zeichen von Schwäche und machen ein Land angreifbar.
Um noch einmal mit Gorin zu sprechen: „Seit drei Jahrhunderten versuchen die Herrschenden in Russland – von wenigen Ausnahmen abgesehen –, eine forcierte wirtschaftliche Modernisierung mit einer Politik der Archaisierung der sozialen und politischen Beziehungen zu verbinden.“ Die boomende Erlebnis- und Konsumgesellschaft Russlands, die die Lebensweise der Europäer neidisch nachahmt oder gar eifrig zu übertreffen versucht, was die materiellen Güter, Technologien und Unterhaltung betrifft, bleibt somit eine Großmacht, die in grassierenden Verlustängsten, Ressentiments und wiedererweckten Feindbildern versunken ist. Historisch blind besteht die politische Elite Russlands darauf, dass das alles auf Dauer vereinbar sein muss. Mit Blick auf das aktuelle politische Klima in vielen europäischen Ländern lässt sich gewiss sagen, dass an den Entwicklungen in Russland so manche gesamteuropäischen Tendenzen abzulesen sind. Aber der Unterschied ist: nur Russland führt auf diesem Fundament verblendet Angriffskrieg.
Das Ausmaß der historischen Irreführung der russischen Bevölkerung lässt sich aktuell auch in einer Umfrage des Moskauer Levada-Instituts ablesen, wonach auf die Frage "Bitte nennen Sie die 10 herausragendsten Menschen aller Zeiten und Völker" vor allem Stalin, Putin und Lenin genannt worden sind. Keine guten Aussichten weiterhin.
Zitierweise: Anna Schor-Tschudnowskaja, „Verklärung der Geschichte als Zukunftsrezept", in: Deutschland Archiv, 24.6.2025, www.bpb.de/563310. Alle Beiträge im Deutschland Archiv sind Recherchen und Sichtweisen der jeweiligen Autoren und Autorinnen, sie stellen keine Meinungsäußerung der Bundeszentrale für politische Bildung dar (hk).
Dr. Anna Schor-Tschudnowskaja, Diplom-Psychologin und Soziologin, geboren in Kyiv (damals UdSSR), aufgewachsen in Sankt Petersburg, studierte und promovierte in Deutschland. Zurzeit ist sie Assistenzprofessorin an der psychologischen Fakultät der Sigmund Freud Privatuniversität in Wien. Zu ihren Forschungsschwerpunkten zählen vor allem politische Kultur und gesellschaftliches Selbstbewusstsein in der Sowjetunion und im postsowjetischen Russland. Ihr jüngstes Forschungsprojekt (FWF) widmete sich den Deutungsmustern im Umgang mit der sowjetischen Vergangenheit. Gegenwärtig ist sie Leiterin eines Robert-Bosch-geförderten Forschungsprojektes zum Geschichtsverständnis bei jungen Menschen in Russland. In der bpb ist 2016 bereits von ihr erschienen: Interner Link: www.bpb.de/geschichte/deutsche-geschichte/stasi/234596/kgb-wurzeln und 2022 Externer Link: https://www.bpb.de/themen/deutschlandarchiv/345507/der-friedensnobelpreis-2022-fuer-memorial/.