Die russländische oppositionelle Zeitung Novaja gazeta hielt bereits im Sommer 2021 fest, dass „im Bereich der Geschichte eine Vorkriegssituation herrscht“.
So hat Medisnkij die in dem an die Ukraine überreichten Memorandum mit russischen Forderungen unter anderem mit einem erfundenen Zitat von Otto von Bismarck kommentiert. Laut Medinskij habe bereits Bismarck gewarnt: "Er sagte immer: 'Versuche nie, die Russen zu betrügen oder ihnen etwas zu stehlen. Denn früher oder später kommen die Russen immer und holen sich, was ihnen gehört."
Medinskij fällt bereits seit vielen Jahren durch beständige Bemühungen auf, Geschichte in ein Instrument für Ideologie und Konfrontation zu verwandeln. Seine „Kommission“ sollte insbesondere aus Vertretern von Wladimir Putins Präsidialadministration, der Staatsanwaltschaft, des russländischen Sicherheitsrates, der Ministerien für Äußeres und Verteidigung sowie des Föderalen Sicherheitsdienstes (FSB) bestehen. Die von diesen Behörden angestrebte „Aufklärung“ mündete in einen Kampf um die „einzig richtige“ Version historischer Ereignisse, von der – so die zentrale, hinter der „Kommission“ stehende Idee – das Überleben Russlands und seine innen- wie außenpolitische Sicherheit angeblich abhängen. Inzwischen wissen wir, dass die Novaja gazeta Recht behielt. Die sich seit Jahren intensivierende ideologische Verklärung der Geschichte in Russland spielt eine entscheidende Rolle bei der Rechtfertigung des Großangriffs auf die Ukraine – und auch bei der drastischen Verschärfung des repressiven Charakters des Putin-Regimes.
2016 vertrat Medinskij öffentlich die Meinung, dass man selbst dann an behauptete historische Ereignisse glauben soll, wenn sie sich als Frucht menschlicher (oder staatlicher) Fantasie herausstellen – unter der Bedingung, dass sie den heldenhaften Charakter der nationalen Geschichte untermauern.
Sowjetisches utopisches Erbe?
Die Fragen, was Putin von seiner Sozialisation in der Sowjetunion (und beruflich in deren Komitee für Staatssicherheit/KGB) übernommen hat und welche Züge des Sowjetregimes er seit seinem Aufstieg zur Macht (1999/2000) restaurieren möchte, werden seit Jahren diskutiert. Direkte Parallelen zwischen seinem Regime und dem Sowjetsystem sollte man nicht ziehen, denn Putin ergänzt die erkennbaren Tradierungslinien immer wieder um neue Aspekte. Daher ist dem russländischen Soziologen Dmitrij Gorin nur partiell zuzustimmen, als er bereits 2013 bemerkte, dass die eifrigen Versuche, „unter grundlegend neuen Bedingungen [unter Putin – A.S.]“ die Vergangenheit nach Lust und Laune zu konstruieren, „Stereotypen reproduzieren, die aus der gescheiterten Versöhnung von Utopie und Realität [in der Sowjetunion] stammen“.
Es ist eine interessante, aber nicht einfach zu beantwortende Frage, ob der Verfall des sowjetischen Utopieprojekts immer noch im Gange ist. In manchen Bevölkerungsschichten Russlands sind sicherlich auf unterschiedliche Art und Weise postutopische Tendenzen zu spüren. Gorin ist bei seiner folgenden Beschreibung jedenfalls zuzustimmen:
„Die äußerst widersprüchliche ideologische Ausgestaltung des gegenwärtigen russländischen politischen Regimes ist weitgehend auf die Mischung aus einer konservativen Logik des Staatskapitalismus, stalinistischen Utopien, die bis heute attraktiv sind, sowie neuen postsowjetischen Retrotopien zurückzuführen.“
Doch die Verklärung und Heroisierung der russländischen Geschichte unter der Leitung von Akteuren wie Putin und Medinskij und unter der wachsamen Kontrolle der repressiven Organe des russländischen Staates haben wohl nicht nur damit etwas zu tun. Zuerst und vor allem geht es um die möglichst nachhaltige Etablierung eines Rechts der Stärkeren und einer eigenartigen Herrschaftsautonomie – mit der Folge, dass weder die Anforderungen noch die Struktur der existierenden Staatsmacht von innen wie außen kritisiert oder wie auch immer angegriffen werden dürfen.
Putins Geschichtspolitik
Der Geschichtspolitik unter Putin ist in einem besonderen Maße eine beständige Verdrehung von Begriffen eigen. Sie werden dabei in ihren Bedeutungen ausgedehnt und mitunter bis zur Unkenntlichkeit mit neuen Inhalten angereichert. Ein aktuelles Beispiel dafür findet sich in der von Putin im Dezember 2024 unterzeichneten „Konzeption zur Extremismusbekämpfung“. Ihr zufolge zählen zu „Extremismus“ unter anderem Tätigkeiten, die auf eine „bewusste Verzerrung der Geschichte“, zum Beispiel durch „die Revision der Ansichten über den Platz und die Rolle Russlands in der Weltgeschichte“ abzielen.
„ein archaisches Geschichtsbild, charakteristisch eher für das 19. als für das 20. Jahrhundert. Dieses Bild zeichnet sich durch einen Eklektizismus der Großartigkeit aus: Die Geschichte Russlands ist immer und zu allen Zeiten großartig. Das Zarenreich, das Imperium und die UdSSR verschmelzen zu einer Einheit.“
Möglicherweise ist die Geschichtspolitik jenes Feld, auf dem im Rückblick besonders gut ersichtlich wird, wie schleichend, aber zielstrebig die Konsolidierung der autoritären Verhältnisse unter Putin erfolgte. Anhand eines Berichts der Internationalen Föderation für Menschenrechte (FIDH) lässt sich verfolgen, wie die Verteidigung der einzig wahren Geschichtsdeutung im Sinne der „Großartigkeit“ zur Angelegenheit von nationaler Bedeutung wurde:
„Die offizielle Geschichtsdarstellung wurde im Jahr 2020 in der russländischen Verfassung verankert. Eine Reihe von Verfassungsänderungen erklärt die Russländische Föderation zum ‚Nachfolger‘ der Sowjetunion (Artikel 67.1 Absatz 1), verkündet, dass die Russländische Föderation ‚das Andenken an die Verteidiger des Vaterlandes ehrt‘ und ‚die historische Wahrheit schützt‘ (Artikel 67.1 Absatz 3), warnt, dass ‚die Bedeutung des Heldentums des Volkes bei der Verteidigung des Vaterlandes nicht geschmälert werden darf‘ (Artikel 67.1 Absatz 3) und weist die Regierung an, Kindern ‚Patriotismus beizubringen‘ (Artikel 67.1 Absatz 4). Die Kontinuität mit der Sowjetunion, die Heiligkeit des sowjetischen Sieges im Zweiten Weltkrieg sowie das staatliche Monopol auf die Geschichtsdeutung zählen zu den Grundlagen des heutigen politischen Systems Russlands.”
Ähnliche Entwicklungen werden erkennbar, wenn die Inhalte von Schulbüchern für den Geschichtsunterricht untersucht werden.
Das allmählich installierte staatliche Monopol für historische Deutung und Wahrheit lässt eine ganz konkrete Deutungsperspektive erkennen: An der historischen Front wird vor allem die Legitimität der Herrschenden gegen jede Kritik verteidigt. Auch hier finden systematische Verzerrungen der Begriffe statt: Man spricht von „Falsifikation“, „Diskreditierung“ und einem „Schwärzen“ der Geschichte, meint damit aber einzig und allein angebliche oder tatsächliche Kritik an den jeweils Herrschenden. Der Begriff „Kritik“ fehlt dabei gänzlich, alles, was als solche bezeichnet werden könnte, gilt als „feindliches Anschwärzen“ und „russophob“. Dazu wieder der Rückblick der FIDH:
„Im Juni 2012 gründeten große staatliche Universitäten, akademische Einrichtungen, Museen und Medienunternehmen (…) die Russländische Historische Gesellschaft (RHS). Den Vorsitz der RHS führt seit ihrer Gründung Sergej Naryškin, der Chef des Auslandsgeheimdienstes und ehemalige Leiter der Geschichtskommission
Die Geschichtspolitik unter Putin hat somit ein klares Ziel: Die Bevölkerung soll im Sinne eines „moralischen Dienstes am Staat“ erzogen werden, womit freilich unkritische Loyalität gegenüber der Staatsführung und passiv-wohlwollendes Hinnehmen von allen Deutungen und Weltbildern, die diese produziert, gemeint sind. Gleichzeitig werden Kritik am Staat, an der Vergangenheit oder an der Gegenwart auf eine eigenartige Art und Weise miteinander verschmolzen, um sie sozusagen verschleiert, aber nicht minder effektiv zu verbieten.
Verschleiert ist diese repressive Geschichtspolitik auch deswegen, weil sie von Menschen betrieben wird, die zwar Posten im Staatsapparat bekleiden, aber zumindest der Funktion nach für etwas anderes zuständig sind, so zum Beispiel Valerij Fadeev, der Vorsitzende des Präsidialrates für Menschenrechtsfragen. Er sagte in einem Interview:
„Es gibt Befürworter des Stalinismus und von Stalin sowie Gegner des Stalinismus und von Stalin. Und so wird es noch viele Jahrzehnte lang bleiben. In der Gesellschaft gibt es keine Einigkeit. Soll man nun Stalin lieben oder hassen? Das ist unsere tragische und zugleich heldenhafte Geschichte. Die einen betonen das Heldentum, die anderen die Tragödie.“
Bemerkenswert an dieser Haltung ist nicht nur, dass Anhänger des Stalinismus mit seinen Gegnern gleichgestellt werden und ein irgendwie ausgewogenes gesellschaftliches Stimmungsbild suggeriert wird. Es fällt auch einmal mehr auf, dass die Geschichte laut der offiziellen Deutung nur aus Heldentum und Tragödien besteht; während Heldentum auf konkrete Menschen und konkrete Entscheidungen zurückgeht, sind Tragödien Ereignisse, für die quasi niemand (oder nur höhere Mächte) eine Verantwortung trägt. Und so gibt es in der Geschichte Russlands nur gute Taten und Helden, nicht aber schlechte Taten und Übeltäter. Und folglich ist Kritik an historischen Persönlichkeiten, insofern sie mit der Staatsmacht assoziiert waren, vollkommen unzulässig. Aus dieser Perspektive können nur innere oder äußere Feinde Russlands solche Kritik üben.
Nostalgische Romantisierung oder Staatsideologie?
Die Novaja gazeta existiert heute nur noch in einer außerhalb Russlands zugänglichen Online-Version. Ihr ehemaliger Chefredakteur Dmitrij Muratov, Friedensnobelpreisträger 2021, wandte sich kürzlich mit der alarmierenden Botschaft an die (russischsprachige) Öffentlichkeit, dass in Russland eine „Selbstfaschisierung“ und „Selbststalinisierung“ laufe.
Der stellvertretende Justizminister Russlands, Evgenij Zabarčuk, äußerte vor Kurzem, dass es wichtig sei zu unterscheiden, wer „wahre, echte Patrioten unseres Landes“ und wer „Feinde, Verräter, Verleumder [sind], die ihre Heimat und ihr Volk verleumden und versuchen, die Geschichte, die historische Wahrheit zu verfälschen“.
Der Begriff „Selbststalinisierung“, der in diesem Kontext von mehreren kritischen Beobachtern unabhängig voneinander gewählt wurde, deutet an, dass es sich nicht nur um eine bewusste propagandistische Strategie der Führung handelt, sondern auch um eine Initiative „von unten“, das heißt auf der lokalen Ebene. Die offizielle russländische Gedenkkultur passt sehr gut zu jener, die von der großen Mehrheit der Bevölkerung befürwortet wird.
In diesem Kontext ist es nützlich, an die 2013 ins Leben gerufene Initiative „Die letzte Adresse“ zu erinnern. Sie hatte sich zum Ziel gesetzt, den Opfern des Staatsterrors in der Sowjetunion (vor allem unter Stalin zwischen 1933 und 1953) zu gedenken, indem man russlandweit Tafeln an den Fassaden jener Häuser anbrachte, in denen die jeweiligen Opfer zuletzt gewohnt hatten. Der Umstand, dass diese Initiative überhaupt noch existiert, geht wahrscheinlich kurioserweise darauf zurück, dass sich kaum jemand für sie interessierte. Gleichzeitig standen nicht wenige Privateigentümer und Bewohner der betreffenden Gebäude der Anbringung der Tafeln skeptisch bis ablehnend gegenüber.
Als Motiv wird meistens angeführt, dass man die Geschichte des eigenen Landes nicht anschwärzen wolle: Nur „Feinde Russlands“ könnten „etwas Negatives“ in dessen Geschichte finden und die Stimmung trüben wollen, so das propagandistische Narrativ. Praktisch jede öffentliche Thematisierung der sowjetischen Staatsverbrechen wird als a priori verdächtige, subversive Geste wahrgenommen. Und ausgerechnet der bereits erwähnte – und für Menschenrechtsfragen zuständige – Fadeev bewertete die „Letzte Adresse“ ebenfalls negativ: „Wozu dann so aufdringlich, dass es jeden Tag ins Gesicht sticht [sic!]. Ah, Ihr habt hier einander gemordet. So ein Land hat keine Zukunft. (…) Und dieses Projekt steht auf der Seite der Unwahrheit oder bestenfalls der Halbwahrheit. Deshalb gefällt es mir nicht.“ Fadeev sprach sich dafür aus, die bereits angebrachten Gedenktafeln zu entfernen.
Ideologie oder Utopie?
Die Verherrlichung ausgewählter Facetten der Vergangenheit hat wenig mit der Geschichte und viel mit der Gegenwart zu tun: Seit Jahren wird eine systematische, rationale und wohl auch ziemlich effektive Arbeit an der Schaffung einer politischen Kultur betrieben, in der die Bevölkerung mittels Deutungen des Vergangenen und Gegenwärtigen die derzeitige Herrschaftsstruktur zumindest passiv akzeptieren soll. Die russländische Geschichte erfährt gerade, wie die leidgeprüfte Ukraine, ebenfalls eine Okkupation – und sie wird von demselben Staat betrieben. Während aber die verbrannte Erde auf ukrainischem Boden vollkommen real ist, bleibt sie im russländischen kollektiven historischen Bewusstsein auf der geistigen Ebene. In Russland wird eine mit Mythen indoktrinierte Bevölkerung geschichts- und gedächtnislos gemacht.
Und wieder stellt sich die Frage, inwiefern diese effektive Strategie der Machtsicherung ein Teil des sowjetischen Erbes ist. Um sie zu beantworten, ist es hilfreich, sich an den von dem Soziologen Karl Mannheim vorgeschlagenen systematischen Unterschied zwischen Utopie und Ideologie zu erinnern: Während sich Erstere gesellschaftliche Veränderungen und Wandel der bestehenden Verhältnisse zum Ziel setzt und vor allem die gesellschaftliche Vielfalt und Konkurrenz verschiedener Sichtweisen anerkennt, versucht Letztere, die bestehenden (Macht-)Verhältnisse zu konservieren und „spezifischen Sichtweisen auf die Welt das Gewand des Absoluten anzulegen“.
Die neue russländische Staatsideologie kommt vollkommen ohne utopisches Potenzial aus. Putins monotoner Kampf um ideologische Deutungshoheit ist allerdings offenkundig ziemlich erfolgreich. Es ist ihm gelungen, eine eigenartige „Ideologie der Alternativlosigkeit“ zu etablieren, die der Bevölkerung die Überzeugung einimpfen will, dass es nichts Besseres geben kann: Man solle bewahren und annehmen, was es gibt und wie es ist.
Das ist eine Herrschaftsideologie der besonderen Art, intellektuell praktisch leer und ohne Zukunftsvision. Zur rein etatistischen Geschichtspolitik tritt eine Scheinideologie des puren Etatismus hinzu. Auch in dieser Weltsicht werden Zuversicht und Hoffnungen gestiftet – doch nur aus Angst, dass alles viel schlechter werden könnte. Und projiziert werden sie auf den jetzigen Staat, unterstützt durch das Deutungsmuster, dass nur die souveräne (unfehlbare) Staatsspitze und ein starker (vor feindlichen Angriffen geschützter) Staat in der Lage seien, in „so schwierigen Zeiten“ Russland in einem immerwährenden Status quo vor allen inneren wie äußeren imaginierten Umwälzungen und Bedrohungen zu schützen. Vom Staat autonome Individuen und eine freie Gesellschaft fehlen in diesem ideologischen Deutungsmuster gänzlich; auch in der entstellten Geschichte Russlands sind sie nicht zu finden. Als Teil der stark paternalistischen, nationalen Identität kommt der Geschichte lediglich die Funktion zu, den Staat als großartig und stark auftreten zu lassen; Fehler, Reue oder auch nur Kritik sind Zeichen von Schwäche und machen ein Land angreifbar.
Um noch einmal mit Gorin zu sprechen: „Seit drei Jahrhunderten versuchen die Herrschenden in Russland – von wenigen Ausnahmen abgesehen –, eine forcierte wirtschaftliche Modernisierung mit einer Politik der Archaisierung der sozialen und politischen Beziehungen zu verbinden.“
Das Ausmaß der historischen Irreführung der russischen Bevölkerung lässt sich aktuell auch in einer Umfrage des Moskauer Levada-Instituts ablesen, wonach auf die Frage hin, "Bitte nennen Sie die 10 herausragendsten Menschen aller Zeiten und Völker", vor allem Stalin, Putin und Lenin genannt worden sind.
Zitierweise: Anna Schor-Tschudnowskaja, „Verklärung der Geschichte als Zukunftsrezept", in: Deutschland Archiv, 23.6.2025, www.bpb.de/563310. Alle Beiträge im Deutschland Archiv sind Recherchen und Sichtweisen der jeweiligen Autoren und Autorinnen, sie stellen keine Meinungsäußerung der Bundeszentrale für politische Bildung dar (hk).
Ergänzend:
Anna Schor-Tschudnowskaja,
Karl Schlögel,
Wolfgang Templin,
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