Es gab und es gibt keine Wiederkehr. Bereits 1933 brachte der Schriftsteller Arnold Zweig auf den Punkt, was unwiderruflich vernichtet war. Er schrieb: „Gewiss ist die Zerstörung der deutschen Judenheit, die wir staunend an uns selber miterleben, wir Zeitgenossen des Frühjahres 1933 – gewiss ist die Unterdrückung, Beschmutzung, wirtschaftliche Vernichtung eines schöpferischen Bestandteiles der deutschen Bevölkerung ein Ereignis, wert, von der Welt genau betrachtet zu werden.“ Unmittelbar nach dem Reichstagsbrand – er war schon auf der Flucht – hielt Zweig fest, was verloren war. 1934 erschien in Amsterdam sein Essay „Bilanz der deutschen Judenheit“. Er zog ein endgültiges Resümee, während andere noch hofften, das Regime werde wieder zur Mäßigung finden. Zweig stellte klar:
Zur Wirklichkeit von gestern und zur Möglichkeit von morgen – Vom Jüdischen im Deutschen Festrede gehalten anlässlich des 70-jährigen Jubiläums des Leo-Baeck-Instituts (LBI) in Berlin
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Zehn Jahre nach dem Ende der Shoah gründeten deutschsprachige, jüdische Intellektuelle in Jerusalem das Leo-Baeck-Institut, das seither Geschichtsforschung und die Aufarbeitung der Shoah betreibt.
„Die Emanzipation der deutschen Juden, seit Moses Mendelssohn mit schweren Opfern erarbeitet, wird am 1. April 1933 praktisch und theoretisch aufgehoben, das Mittelalter tritt wieder in Kraft.“
Der Schriftsteller Arnold Zweig im Jahr 1937. Portraitstudie des aus Hitler-Deutschland über Paris in die USA emigrierten Fotografen Fred Stein (1909-1967). (© picture-alliance, Fred Stein)
Der Schriftsteller Arnold Zweig im Jahr 1937. Portraitstudie des aus Hitler-Deutschland über Paris in die USA emigrierten Fotografen Fred Stein (1909-1967). (© picture-alliance, Fred Stein)
Noch ahnte Arnold Zweig nichts von dem, wovon das Mittelalter nichts gewusst hatte – von der Shoah. Aber in seinem Essay „Grandeur and Collapse of the German-Jewish Symbiosis“ weist der Literaturwissenschaftler Andreas Kilcher darauf hin, dass Arnold Zweig damals vorweggenommen hatte, was mehr als zwanzig Jahre später zum Grundgedanken des Leo-Baeck-Instituts werden sollte. Zu diesem Schluss, der dem jüdischen Leben mit den Deutschen galt, gelangte nach der Befreiung 1945 der Rabbiner Leo Baeck. Er verkündete: „Für uns Juden in Deutschland ist eine Geschichtsepoche zu Ende gegangen. Eine solche geht zu Ende, wenn immer eine Hoffnung, ein Glaube, eine Zuversicht endgültig zu Grabe getragen werden muss. Unser Glaube war es, dass deutscher und jüdischer Geist auf deutschem Boden sich treffen und durch ihre Vermählung zum Segen werden könnten. Dies war eine Illusion – die Epoche der Juden in Deutschland ist ein für alle Mal vorbei.“
Die Gründung des Leo-Baeck-Instituts in Jerusalem 1955
Es gab keine Wiederkehr. In Jerusalem – im Hause des Religionsphilosophen Martin Buber – fand am 25. Mai 1955 die Gründungssitzung des Instituts statt, das nach Leo Baeck benannt werden sollte. Die Zweigstellen New York und London sollten zunächst hinter dem Zentrum im jungen Israel rangieren. Der Judenstaat verfügte über die größte Anzahl bedeutender Autoritäten, die das Ziel der wissenschaftlichen Einrichtung vorantreiben konnten. Hier lebten Martin Buber, Ernst Simon (ebenfalls Religionsphilosoph), Gershom Scholem (Religionshistoriker), Siegfried Moses (Jurist und der erste Staatskontrolleur Israels
… Hier stand zudem die Hebräische Universität, an die das Institut angebunden werden konnte. Hier hatten viele jener, die dem Massenmord eben noch entronnen waren, einen Ort gefunden, der ihnen statt der alten Heimat eine neue Heimstatt bieten mochte. Hier war das Land, das verhieß, der Fokus jüdischen Geisteslebens zu werden. Zion war ausersehen, eine Perspektive der Hoffnung zu sein.
Aber von Anfang an war geplant, das Unternehmen nicht national beschränkt zu gestalten, sondern auf mehrere Standbeine zu stellen. Die strukturelle Aufgliederung – um nicht zu sagen, diese jüdische Dreifaltigkeit aus Jerusalem, New York und London – spiegelte wider, wo die Kapazitäten der deutsch-jüdischen Wissenschaften Unterschlupf gefunden hatten.
In New York schrieb am 7. September 1956 die Philosophin und Publizistin Hannah Arendt an den Psychiater und Philosophen Karl Jaspers:
„Ich muss noch etwas ‚beichten´, was ich immer einfach vergessen habe. (Bitte glauben Sie mir das ‚vergessen‘, es hatte keine psychologischen Hintergründe.) Nämlich: Vor einiger Zeit hat sich ein sogenanntes Leo-Baeck-Institut für die Erforschung deutsch-jüdischer Geschichte gegründet, in dessen Vorstand ich hier in New York bin, und das in Jerusalem zentralisiert ist. Eine Reihe seiner Mitglieder kannte meine Biographie der Rahel Varnhagen, und da sie sehr wenig Manuskripte vorläufig haben, haben sie mich unter dauernden Druck gesetzt, es ihnen zur Veröffentlichung zu geben. Ich habe schließlich nachgegeben. Voilá!“
Hannah Arendt im Jahr 1941. Portraitstudie des aus Hitler-Deutschland über Paris in die USA emigrierten Fotografen Fred Stein (1909-1967). (© picture-alliance, Fred Stein)
Hannah Arendt im Jahr 1941. Portraitstudie des aus Hitler-Deutschland über Paris in die USA emigrierten Fotografen Fred Stein (1909-1967). (© picture-alliance, Fred Stein)
In New York stießen jene, die – wie Hannah Arendt – aus Deutschland dorthin geflohen waren, auf eine Weltmetropole mit lebendiger jüdischer Kultur und Politik. Hier entstand eine zweite Arbeitsstelle, die ab 1958 ein eigenes Zentrum wurde, das die Zentralbibliothek und die Archivsammlung des Instituts beherbergen sollte.
Nach London hatte es Leo Baeck selbst verschlagen, und er wurde vorab gefragt, ob das Projekt nach ihm benannt sein dürfe. Sein Name stand und steht für das Vermächtnis. Er war Rabbiner und Wissenschaftler, war einer der wichtigsten Vertreter des liberalen Judentums, war Vorsitzender des Allgemeinen Rabbinerverbands und Präsident der Großloge der deutschen Bnai Brith
„Leo Baeck redete zu uns auf dem Dachboden. Wir saßen zusammengedrängt und hörten den berühmten Berliner Rabbiner. Er erklärte uns, wie man die biblische Geschichte von der Schöpfung der Welt in sieben Tagen nicht verwerfen müsse, weil die moderne Wissenschaft von Millionen Jahren weiß. (...) Er gab uns unser Erbe zurück, die Bibel im Geiste der Aufklärung, man konnte beides haben, den alten Mythos, die neue Wissenschaft.“
Die Autorin Ruth Klüger, aufgenommen in Frankfurt am Main am 19.10.2008 am Rande der Frankfurter Buchmesse. (© picture-alliance/dpa, Wolfram Steinberg)
Die Autorin Ruth Klüger, aufgenommen in Frankfurt am Main am 19.10.2008 am Rande der Frankfurter Buchmesse. (© picture-alliance/dpa, Wolfram Steinberg)
In dieser Schilderung klingt das Vorhaben wider, das die Wissenschaft des Judentums einst beseelt hatte. Ab 1872 war dieser Disziplin in Berlin eine eigene Hochschule gewidmet. Hier hatte Leo Baeck gelehrt. Es war darum gegangen, die Schrift mit modernen Mitteln zu ergründen, wobei aber diese Wissenschaft des Judentums eben keine Wissenschaft vom Judentum war, keine weitere Fremdzuschreibung, sondern ein neues Selbstverständnis.
Leo Baeck überlebte die Gründung des Instituts nur um ein Jahr. Es war der Publizist und Journalist Robert Weltsch, der in London die Leitung einnahm. Weltsch gründete das Yearbook und gab es hier heraus. Damals herrschten große Zweifel vor, ob es tatsächlich gelingen könnte, über eine längere Zeitspanne jährlich eine Publikation erscheinen zu lassen. Martin Buber soll zu Weltsch bemerkt haben: „Dann muss man aber zumindest mit zwei Jahrgängen rechnen können.“ Nun, es sind mehr geworden…
Aber Bubers Satz weist darauf hin, wie ungewiss die Zukunft des Instituts anfänglich war. Wer hätte damals gedacht, welche Bedeutung und Größe das LBI erlangen sollte? Wer unter den Gründern in Jerusalem hätte 1955 darauf gewettet, dass jemals ein siebzigjähriges Jubiläum des Instituts begangen werden könnte? Und zwar nicht in Israel, nicht in New York und nicht in London, sondern in einem vereinten Deutschland… Wer hätte zugleich – möchte ich einschieben – von ihnen gedacht, Israel werde immer noch bedroht sein und nicht im Frieden leben können?
Jüdische Geschichtsforschung und wissenschaftliche Aufarbeitung der Shoah als Aufgabe
Das Leo-Baeck-Institut ist nun eine zentrale Institution jüdischer Geschichtsforschung, ein Organ wissenschaftlicher Aufarbeitung der Shoah, ein Sammelpunkt der Erinnerung deutschsprachiger Überlebender, eine Bildungseinrichtung auf mehreren Erdteilen und eine Vermittlungsplattform von akademischer, editorischer, musealer, digitaler und auch internationaler Einzigartigkeit. Diese Kooperation über mehrere Erdteile hinweg ist besonders hervorzuheben und für ein historisches Institut singulär.
Ich kenne kein zweites solches Projekt für irgendeine andere jüdische Gemeinschaft nichtjüdischer Sprache, ob Französisch, Ungarisch oder Holländisch. Das YIVO, das Institute for Jewish Research oder – um dem Akronym in der richtigen Form gerecht zu werden – der יִדישער װיסנשאַפֿטלעכער אינסטיטוט (Jiddischer Wissenschaftlecher Institut) und das Sephardic Studies Program gehen von jüdischen Klangräumen aus, vom jiddischen Kulturgebiet Osteuropas und von den Sepharden in ihrer spaniolisch-ladinischen Lebenswelt. Eine eigene Einrichtung für die Überlebenden der deutschen Lande war hingegen eine einmalige Idee.
Die deutschen Juden – die Jekkes – galten in Israel als überkorrekt
Im Unterschied zu den jüdischen Gemeinschaften in jenen Staaten, die das Nazireich nach dem Kriegsausbruch besetzte, hatten deutsche und österreichische Juden noch die Möglichkeit gehabt, in den ersten Jahren der Verfolgung dem Zugriff des Nationalsozialismus zu entfliehen. Die deutschsprachigen Flüchtlinge stießen nicht selten auf Argwohn: In Israel waren die sogenannten Jekkes in den Pionierzeiten keineswegs gut angesehen. Ihre Worte entstammten dem Vokabular jener, die alles Jüdische ausmorden wollten. In ihrem Deutsch hallten die Erinnerungen an die Verfolgung und den Massenmord nach. Filme aus dem nationalsozialistischen Reich unterlagen einem Boykott. Jene, die in den Dreißigerjahren es gerade noch geschafft hatten, dem Regime zu entkommen, wurden mit der Frage empfangen: „Kommst Du aus Deutschland oder aus Überzeugung?“
Ungeachtet dessen hielten die meisten von ihnen an ihrem geliebten Deutsch fest. Es widerstrebte vielen der Jekkes, das Hebräische nur fehlerhaft stammeln zu können. Sie hatten eigene Sprachinseln, wie etwa die Stadt Nahariya, aber auch das Tel Aviver Viertel rund um die Ben-Jehuda-Straße, weshalb die Wiener Juden die Gegend dort „Kanton Ivrit“ nannten, weil da „kan Ton Ivrith“ zu hören war. Die Jekkes waren verschrien als überkorrekt. Es entstanden eigene Witze über sie. Meine Mutter aus Wilna und mein Vater aus Rumänien kannten sie alle. Angesichts der Ungewissheiten unmittelbar vor dem Teilungsbeschluss der Vereinten Nationen im Frühjahr 1947, so wurde allzu gern gescherzt, soll etwa der dortige Bürgermeister verkündet haben: „Keine Sorge. Was auch immer kommt, Nahariyah bleibt deutsch!“
Ihre Kultur und ihre Bildung wurden bewundert, aber ihre höflichen Umgangsformen schienen vielen in jenen hemdsärmeligen Tagen des Aufbaus wie aus einer fernen Epoche und einem anderen Universum. Viele der Jekkes hegten wiederum nicht wenige Dünkel gegenüber den Ostjuden. Ist es nicht diese Einstellung, die etwa durchscheint, wenn Hannah Arendt in einem Brief an Karl Jaspers das Jerusalemer Gericht gegen Adolf Eichmann mit folgenden Sätzen beschreibt:
„Oben die Richter, bestes deutsches Judentum. Darunter die Staatsanwaltschaft, Galizianer, aber immerhin noch Europäer. Alles organisiert von einer Polizei, die mir unheimlich ist, nur hebräisch spricht und arabisch aussieht; manche ausgesprochen brutale Typen. Die gehorchen jedem Befehl. Und vor den Türen der orientalische Mob, als sei man in Istanbul oder einem anderen halbasiatischen Land. Dazwischen, sehr prominent, die Peies- und Kaftanjuden“.
Diese wechselseitigen Klischees – ob jene vom Jekke oder diejenigen vom Stetljuden – spiegelten eine innere Auseinandersetzung wider, die alle einte, aber jeden innerlich zerriss, denn die Frage, wie mit Überlieferung und Moderne, wie mit partikularen und universalistischen Anforderungen umzugehen sei, beschäftigte nicht nur die Gemeinden im Westen, sondern auch jene im Osten Europas – ob nun in Berlin oder Białystok, ob in Triest oder Thessaloniki, ob in Wien, Warschau oder Wilna. Konnte es Gleichheit und Gleichberechtigung für Ungleiche geben, für jene, die darauf beharrten, als Gemeinschaft anders bleiben, anders reden, anders feiern, anders kochen, anders essen, anders fasten, anders beten, kurzum anders leben zu wollen als die meisten anderen?
Dieses Problem trieb Juden in allen europäischen Staaten um, doch nirgends in derselben Schärfe wie in Deutschland. Im Stetl des Ostens glaubte ohnehin niemand, die Emanzipation sei bereits eingeläutet worden. Die französische Nation gab wiederum vor, die Republik aller Bürger zu sein, wenn auch Juden und Jüdinnen weiterhin von Hass und Hetze nicht verschont waren. Die deutsche Heimat aber wurde völkisch verstanden. Die Heimat sollte über den Raum das Vaterlands weit hinausreichen und unter dem Begriff „deutsches Volk“ waren nicht alle gemeint, die im Reich lebten. Wer hier als Jude geboren war, wurde dennoch zumeist nicht als deutsch angesehen.
Aber nach Auschwitz war das Verlangen, jenem Volk anzugehören, in dessen Name die Massenverbrechen verübt wurden, bei den Überlebenden erloschen. Vollkommen abstrus klang in den fünfziger Jahren die Idee, eine Zentrale des Leo-Baeck-Instituts in Berlin aufzuschlagen. Der Vorschlag wurde vorgebracht – und heftig abgelehnt. Wen wundert’s? 1955 schien es absurd, ein deutsch-jüdisches Institut in Berlin zu errichten.
Es war der Rechtsanwalt Hans Reichmann, der den Einfall zur deutschen Dependance vorgebracht hatte. Reichmann war vor dem Krieg ein Funktionär des „Centralvereins deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens“ gewesen. Der Centralverein hatte für die Gleichberechtigung der Juden in Deutschland gefochten. Der Verein bestand darauf, nur der Konfession und der Überlieferung nach dem alten Bund anzugehören. Kurt Tucholsky warf ihm bekanntlich „biederes Duckmäusertum“ und „Honoratiorenpolitik“ vor. Der Verein sollte, so Tucholsky, „lieber Centralverein deutscher Staatsjuden bürgerlichen Glaubens“ heißen. Der Centralverein kämpfte mit aufklärerischen Schriften und Vorträgen gegen den Antisemitismus an. Seinen Mitgliedern ging es darum, von ihren nichtjüdischen Landsleuten als Teil des deutschen Volkes anerkannt zu werden.
Jakob Wassermann (geb. 10.3.1873 in Fürth; gest. 1.1.1934 in Altaussee) war ein deutscher Schriftsteller. Er zählte zu den produktivsten und populärsten Erzählern seiner Zeit. (© picture-alliance, Associated Press)
Jakob Wassermann (geb. 10.3.1873 in Fürth; gest. 1.1.1934 in Altaussee) war ein deutscher Schriftsteller. Er zählte zu den produktivsten und populärsten Erzählern seiner Zeit. (© picture-alliance, Associated Press)
Der Schriftsteller Jakob Wassermann schilderte in seinem Buch „Mein Weg als Deutscher“ – und als Jude – die Erfolglosigkeit eines solchen Unterfangens. Er schrieb: „Es ist vergeblich, das Volk der Dichter und Denker im Namen seiner Dichter und Denker zu beschwören. Jedes Vorurteil, das man abgetan glaubt, bringt, wie Aas die Würmer, tausend neue zutage.“ Wassermann war nicht religiös und auch nicht zionistisch, doch er wusste: „Es ist vergeblich, die Verborgenheit zu suchen. Sie sagen: der Feigling, er verkriecht sich, sein schlechtes Gewissen treibt ihn dazu. Es ist vergeblich, unter sie zu gehen und ihnen die Hand zu bieten. Sie sagen: was nimmt er sich heraus mit seiner jüdischen Aufdringlichkeit?“
In Wien bildete sich im 19. und 20. Jahrhundert ein selbstbewusstes, intellektuelles Judentum heraus – trotz des allgegenwärtigen Antisemitismus
Ab 1898 lebte der Schriftsteller Jakob Wassermann in Wien, wo er enge Beziehungen zu Arthur Schnitzler, Hugo von Hofmannsthal, Peter Altenberg und Stefan Zweig knüpfte. In Wien hieß es einst, Literatur sei, wenn ein Jude von einem anderen Juden abschreibt. Arthur Schnitzler schrieb: „Ich bin Jude, Österreicher, Deutscher“, wählte aber 1920 bei den österreichischen Parlamentswahlen die zionistische Liste, führte regelmäßig Gespräche mit dem Oberrabbiner David Feuchtwang, nahm am Religionsunterricht seiner Kinder interessiert Anteil. Nach Wien hatte es seit der Mitte des neunzehnten Jahrhunderts viele verschlagen, die aus allen Teilen des Habsburgerreiches her strömten, um den engeren Verhältnissen im Osten des Imperiums zu entkommen.
Viele angestammte Karrierewege blieben Juden in der Residenz des streng katholisch-konservativen Kaiserhauses verwehrt, aber sie konnten versuchen, in den neueren Bereichen, in den sogenannten modernen und freien Berufen und auf noch unbekannte Weise zu reüssieren. Sigmund Freud erzählte davon in seinem Vortrag für die Bnai Brith: „Weil ich Jude war, fand ich mich frei von vielen Vorurteilen, die andere im Gebrauch ihres Intellekts beschränkten, als Jude war ich dafür vorbereitet, in die Opposition zu gehen und auf das Einvernehmen mit der ‚kompakten Majorität‘ zu verzichten.“ Das Verdrängte und das Verschwiegene, das Verlogene und das Verleugnete, das Unterdrückte und das Unerhörte konnten Außenseiter eher zur Sprache bringen. Sigmund Freud durch die Psychoanalyse, Paul Wittgenstein in der Philosophie, Victor Adler und Theodor Herzl mit Politik, Arthur Schnitzler, Stefan Zweig, Felix Salten, Josef Roth, Karl Kraus und viele andere in ihrer Poetik.
Es gab viele Juden, die nichts von ihrer Herkunft mehr hören wollten. Sie wurden assimiliert genannt, aber was sollte das bedeuten, wenn als sogenannte Assimilanten eben bloß Menschen jüdischer Herkunft bezeichnet wurden? Die Paradoxie ist offenkundig; der Begriff der „Assimilation“ umschrieb im damaligen Wien eine, wie gesagt wird, rein jüdische Eigenschaft. Nichtjuden konnten nach damals vorherrschendem Sprachgebrauch keine „Assimilanten“ sein. Das Wien des fin de siécle war die Stadt mit dem höchsten Anteil an jüdischer Bevölkerung im deutschen Sprachraum und die Welthauptstadt des populistischen Antisemitismus zugleich. Es ist kein Wunder, wenn Adolf Hitler in „Mein Kampf“ hervorhebt, vom christlich-sozialen Wiener Bürgermeister Karl Lueger gelernt zu haben, wie mit Hass auf Juden Wahlen gewonnen werden könnten. Die Nazis mussten sich 1938 wegen der Verfolgung von Juden nicht vor einer breiten österreichischen Opposition fürchten. Im Gegenteil, die Bürokratie konnte auf die Masse der Nutznießer und Mitläufer zählen, rechnete aber nicht mit diesem unerwarteten Übereifer. Im Mai 1933 schrieb Jakob Wassermann, der einst gefeierte Romancier, an die jüdische Gemeinde in Graz, er könne den Mitgliedsbeitrag nicht in der geforderten Höhe aufbringen, da seine Bücher im neuen Deutschland nicht mehr gekauft würden. Aber im August desselben Jahres richtete er ein Schreiben an den deutschen Schriftstellerverband. Er wolle seinen Austrittsbrief, den er bereits vorher abgeschickt hatte, widerrufen. Er habe der Presse entnommen, jeder nichtarische Autor würde ausgeschlossen werden, weshalb er, um nicht geschasst zu werden, selbst ausgetreten war.
Inzwischen hatten ihn deutsche Freunde belehrt, es würden nur keine Juden mehr neu aufgenommen. Die alten dürften noch bleiben. „Ich ersuche also, die Austrittserklärung als ungeschehen zu betrachten und mir mitzuteilen, an welche Stelle ich den rückständigen Mitgliedsbeitrag von 35 Mark einzuzahlen habe.“ Wassermann starb 1934. Seine Frau, die Schriftstellerin und Psychotherapeutin Marta Karlweis, musste 1939 nach Kanada entfliehen.
Da war kein Weg mehr als Deutscher und als Jude. Die Juden Europas wurden ermordet. Überall. Nur in Wien und in Berlin gab es bis zur Befreiung 1945 jeweils ein jüdisches Krankenhaus. Im Unterschied zu der Lage in den besetzten Ländern war es den nationalsozialistischen Machthabern wichtig, die eigenen „Volksgenossen“ nicht zu beunruhigen, wenn im Deutschen Reich der Volkskörper von allem „Jüdischen“ „gesäubert“ wurde. Noch waren hier manche jüdische Menschen mit nichtjüdischen verheiratet oder verwandt. Auf deren „arische“ Familien musste das Regime Rücksicht nehmen. Im Interesse der nichtjüdischen Gesamtbevölkerung mussten diese deutschen Juden noch befürsorgt werden. Jedoch nur in jüdischen Einrichtungen – nicht in „arischen“. Solange der nichtjüdische Eheteil lebte, waren sie geduldet. Aber die Maschinerie der Vernichtung wartete schon auf sie. Sobald der „arische“ Ehemann verstorben war, wurde seine jüdische Witwe deportiert.
Was mit den Nürnberger Rassegesetzen ausgelöscht wurde, war nicht die Emanzipation, denn die war nie vollzogen worden, sondern alleinig die Hoffnung darauf. Aber diese Hoffnung war eine hehre, eine stolze und eine durchaus berechtigte. Wenn nun erkannt werden muss, dass sie vergeblich blieb, dass sie nicht bloß scheiterte, sondern in deutschen Landen nie wirklich gelebt werden konnte, dann nicht jener wegen, die sich ihr verschrieben hatten. Kein Grund, diese Juden deutscher Sprache im Nachhinein auch noch zu verhöhnen. Sie hatten zu Recht verkündet, nicht weniger Deutsch zu sein als alle anderen, aber diese Meinung war eben von allzu vielen ihrer Landsleute nicht geteilt worden. Ihr Bekenntnis zum Deutschen war nicht eine nüchterne Feststellung, nicht eine Bestandsaufnahme und kein Reifezeugnis für den Status quo, sondern vielmehr ein Programm für eine menschliche Zukunft gewesen.
Aber es gab keine Wiederkehr. Nach Auschwitz ist die Mär von der Emanzipation keine schöne Vision mehr, sondern nur noch eine Beschönigung der Vergangenheit. Was einst eine Verheißung für die Juden war, ist nun zur Verhöhnung der Opfer geworden. Es war nicht gleichgültig, wer nicht mehr in die Synagoge und wer nicht mehr in die Kirche ging. Diese Frage war zu einer auf Leben und Tod geworden. Die Differenz im Nachhinein zu verleugnen, heißt zu negieren, was zur Vernichtung von Millionen führte.
Jüdisches Leben in der Bundesrepublik und in Österreich nach der Shoah
Im Schatten dieses Scheiterns wurde das Leo-Baeck-Institut gegründet – aber anders, als zu Beginn die Gründungsmitglieder glaubten, sollten in der jungen Bundesrepublik und in Österreich allmählich wieder Gemeinden aufblühen. Es waren nicht die einstigen Vertriebenen, nicht die deutschen Juden, die in ihre Städte zurückkehrten, sondern zunächst Überlebende aus den DP-Camps.
Anders als von frühen zionistischen Pionieren gedacht, verschwand die Diaspora nicht nach der Gründung des Staates Israel, sondern gewann überall an neuem Selbstbewusstsein. Da nun jederzeit ein Flug nach Tel Aviv gebucht werden konnte, ließ es sich auch in Frankfurt, in Amsterdam oder in Paris leben. Die deutsch-jüdische Symbiose war – wie Gershom Scholem erklärte – ein einseitiges Gespräch, ein unerwiderter Schrei der Juden nach Toleranz. Aber nach Auschwitz ist die jüdische Existenz in Deutschland – wie der Historiker Dan Diner befand – eine negative Symbiose. Die gemeinsame Vergangenheit läuft wie Stacheldraht zwischen den Kollektiven und bindet sie zugleich aneinander.
Jüdisches Leben in den Nachfolgestaaten nazistischer Herrschaft konnte nur entstehen, wenn es keine Wiederkehr zum deutschen oder zum österreichischen Judentum von einst, aber auch kein reiner Neubeginn war. Allein in einer offenen Gesellschaft konnten und können die neuen jüdischen Gemeinden in der Bundesrepublik darauf hoffen, mehr zu werden als ein Nachruf ihrer selbst. Sie sind – auch durch die Einwanderung aus der früheren Sowjetunion und aus Staaten des einstigen Ostblocks – lebendige Zentren jüdischen Lebens geworden, deren Mitglieder nicht mehr auf gepackten Koffern sitzen wollen, doch zugleich in ihrer Mehrheit die Verbundenheit zu Israel nicht verleugnen. Sie erheben den Anspruch, als Juden und als deutsche Staatsbürgerinnen und -bürger zugleich anerkannt zu werden. Nur ein Deutschland, das nicht in das völkische Denken früherer Zeiten verfällt, sondern eine offene Gesellschaft anstrebt, kann Juden und Jüdinnen ein Mindestmaß an Zutrauen und Sicherheit bieten.
Für die Bundesrepublik sind die jüdischen Gemeinden seit 1945 ein Beweis der Umkehr und Läuterung, ein Reifezeugnis der eigenen Demokratie. Es war anfangs auch der Wunsch nach internationaler Anerkennung, der das Bekenntnis zum Kampf gegen jeglichen Antisemitismus verlangte.
V.l.n.r. Bernd Krösser (Staatssekretär, Bundesministerium des Innern ), Shimon Stein (Botschafter a.D., Vorsitzender des Vereins der Freunde und Förderer des LBI), Dr. Doron Rabinovici (Schriftsteller), Prof. Dr. Michael Brenner (LBI) und Hetty Berg (Direktorin Jüdisches Museum Berlin), Feier des 70-jährigen Bestehens des Leo Baeck Instituts (© Freunde und Förderer des Leo Baeck Instituts e.V. (Fotograf Ole Witt))
V.l.n.r. Bernd Krösser (Staatssekretär, Bundesministerium des Innern ), Shimon Stein (Botschafter a.D., Vorsitzender des Vereins der Freunde und Förderer des LBI), Dr. Doron Rabinovici (Schriftsteller), Prof. Dr. Michael Brenner (LBI) und Hetty Berg (Direktorin Jüdisches Museum Berlin), Feier des 70-jährigen Bestehens des Leo Baeck Instituts (© Freunde und Förderer des Leo Baeck Instituts e.V. (Fotograf Ole Witt))
Aber der deutsche Jude der Gegenwart ist, ob er will oder nicht, ein wandelndes Mahnmal heimischer Schuld geworden. Nicht trotz, sondern wegen Auschwitz leben deshalb die Ressentiments weiter. Um alle Reue und jegliche Skrupel abzuwehren, tun rassistische Populisten die Shoah als „Vogelschiss der Geschichte“ ab und geifern gegen das Berliner Mahnmal für die Ermordeten. Unterdessen grölen andere, die denken, besonders antirassistisch zu sein, die Parole: „Free Palestine From German Guilt“.
Das Leo-Baeck-Institut steht für die Erinnerung und für den Widerstand gegen den Judenhass. Das Auftreten gegen den Antisemitismus und das Eintreten für die allgemeinen Menschenrechte sind hierbei miteinander verknüpft, sind beide Ausdruck der Abkehr von der nazistischen Ideologie, können aber teils in einen scharfen Gegensatz zueinander geraten, wenn etwa über traditionelle Vorhautbeschneidung, über das rituelle Schächten oder auch über Israel und Palästina gestritten wird. Dann kommt die Kernfrage neu auf, die schon eine ganz alte ist, denn die Ungleichen brauchen eigene Rechte, um anders leben zu können, aber nur die allgemeinen Menschenrechte, die doch für alle gleich gelten, können das garantieren. Die jüdische Erfahrung lehrt, dass der wahre Universalismus nicht ohne partikulare Ausnahmen zu haben ist und der Zugang zum besonderen Partikularismus nicht ohne universalistische Garantien. Es ist halt ein Kreuz mit den Juden. Wen wundert’s? Jeder kann jeden fressen, bedeutet eben nicht dasselbe für Katz und Maus. Da ist die Maus eindeutig im Nachteil.
Nun ist es den meisten Deutschen ein besonderes Anliegen, zu unterstreichen, wie sehr das Judentum zu Deutschland gehört, um darauf pochen zu können, Normalität sei endlich eingekehrt. Es sind derweil jüdische Stimmen, die angesichts dessen, was geschah, auf einer Differenz zwischen Juden und Deutschen beharren müssen, wenn sie ihre Opfer nicht verraten wollen. Einst wollten die Juden dieses Landes nichts als gewöhnliche Deutsche sein. Jetzt sind es Juden, die darlegen, dass ihre Erfahrung eine eigene ist, ihre Trauer eine besondere bleibt, ihre Worte angesichts der Vernichtung anders versagen, ihr Schweigen anders klingt. Für sie ist nichts vorbei. Jede neue Verletzung ruft den alten Schmerz auf, überall, doch wo, wenn nicht in Deutschland, wenn nicht in Österreich? Die jüdische Wunde, von der uns der Soziologe Nathan Sznaider schreibt, sie blutet nach und wird immer wieder aufgerissen.
Ein neues jüdisches Trauma – der 7. Oktober 2023
Am 7. Oktober 2023 wurde ein neues, ein anderes, ein weiteres Trauma dem Volke Israel zugefügt – und zwar an einer Stelle, die vordem heil schien, unverwundbar und stark. Seit jenem Tag, dem 7. Oktober 2023, bricht der Schmerz und das Blut vielerorts hervor – überall, wo Juden leben. Da ist noch nichts verschorft, da ist noch nichts vernarbt. Da klafft ein Loch – und niemand weiß, wann endlich Abhilfe und ein Ende des Leids kommt.
Wenn im Nahen Osten geschossen wird, geraten Juden auch in fernen Ländern und auf anderen Erdteilen ins Fadenkreuz. Sonst sind Kriege – ob jener in Jugoslawien oder der in der Ukraine – territorial definiert. Der Hass auf das Jüdische ist hingegen grenzenlos. Ob in Europa, in Amerika oder in Australien – überall kam es seit dem 7. Oktober zu tätlichen Übergriffen. Während die Dschihadisten noch mordeten, zogen in europäischen Städten schon manche durch die Straßen, die offen das Abschlachten jüdischer Menschen feierten. Es waren jüdische Einrichtungen in der Diaspora – Synagogen, Schulen, Gemeindezentren – die ins Visier des Hasses und des Terrors gerieten. In Berlin wurde ein Paar attackiert – und zwar nur, weil es miteinander hebräisch gesprochen hatte. In London wurden Israelis zunächst mit den Rufen „Free Palestine“ und „Fuck the Jews“ verhöhnt und dann von einer Übermacht niedergeprügelt. In Athen wurde ein Ehepaar, das Iwrith geredet hatte, mit Messern verletzt. In Dagestan stürmte ein Mob ein Flugzeug aus Tel Aviv, um nach Juden zu suchen. In Zürich und in Paris wurden Religiöse, nur weil sie Juden waren, niedergestochen. In Kanada wurden immer wieder Gewehrsalven auf jüdische Schulen gefeuert. Es ist noch nicht lange her, da erschoss ein Täter am 22. Mai 2025 in Washington das junge Paar Yaron Lischinsky und Sarah Lynn Milgrim und schrie dabei „Free Palestine“. In Boulder, Colorado, warf ein anderer mehrere Brandsätze in eine jüdische Menge, rief ebenfalls „Free Palestine“. Eine Überlebende der Shoah war unter den Verletzten. Die Aufzählung könnte endlos fortgesetzt werden.
Muss erstaunen, wie jüdische Menschen empfinden, wenn ihre Schaufenster wieder eingeschlagen, ihre Restaurants beschmiert, ihre Mahnmale geschändet, ihre Türschilder markiert werden und ihre Jugend auf Unis ausgegrenzt wird? Ist es verwunderlich, wenn viele von ihnen angesichts der weltweiten Gewalt den Ruf: „Globalize The Intifada“ eher persönlich nehmen?
Die Regierungsformel von der Sicherheit Israels als Staatsräson ist in diesem Zusammenhang zu verstehen, denn das bloße Dasein Israels – des Staates Israel und des Volkes Israel im biblischen Sinne – ist davon geprägt, seit jeher angezweifelt und von Vernichtung bedroht zu sein. Der Kampf gegen Antisemitismus kann nicht redlich geführt werden, ohne für das Existenzrecht Israels und die Sicherheit seiner Zivilgesellschaft einzustehen.
Aber die deutsch-jüdische Erfahrung lehrt uns auch, wie wichtig es ist, zwischen Kritik an Politik und Ressentiment unterscheiden zu können. Die Geschichte macht auch deutlich, was zu erwarten ist, wenn nun – wie etwa in den USA – gegen Universitäten und gegen die Wissenschaft mobil gemacht wird. Wenn im Namen des Kampfes gegen Antisemitismus die Grundrechte attackiert werden, dann wird sich das unweigerlich gegen jene Werte richten, die das Leben der jüdischen Minderheit letztlich sichern. Was da vorgeblich zum Schutz von Juden geschieht, wird auf Kosten der Juden gehen. Wer gegen Studien der Vielfalt loszieht, trifft unweigerlich eben jene Forschungen, denen das Leo-Baeck-Institut sich verpflichtet fühlt.
Wachsender Antisemitismus in Deutschland, Österreich und ganz Europa
Wovon ich rede, ist nicht auf irgendein Land beschränkt. Ich komme aus Österreich hierher, wo bei den jüngsten Wahlen die meisten Stimmen eine rechtsextreme Partei einfuhr, deren Politiker Lieder zu singen wissen von der siebenten Million Juden, die es noch zu schaffen gilt. Die Freiheitlichen treten gegen muslimischen Antisemitismus auf, aber nicht, weil ihnen der Antisemitismus so fern wäre, sondern weil sie Muslimen schlechthin nachstellen. Mit Rassismus kann das antisemitische Weltbild nicht bekämpft, sondern nur bestätigt werden.
Mit Hass und Hetze werden wieder Wahlsiege erzielt, ob in Ungarn, Italien, Österreich, Polen, USA oder auch in meinem Geburtsland Israel. Wir erleben eine Krise der Demokratie. Hätten jene, die einst das Leo-Baeck-Institut gründeten, sich je vorstellen mögen, solche Kräfte könnten in Deutschland, in Europa, ja, vielerorts in der westlichen Welt wieder einen Aufschwung erfahren? War es nicht eine offene Gesellschaft, auf die sie hofften? Es ging ihnen um ein liberales und aufgeklärtes Judentum. Martin Buber, Hannah Arendt, Robert Weltsch, Gershom Scholem und Siegfried Moses hätten gewiss nicht zu den autoritären Entwicklungen unserer Zeit geschwiegen. Sie hätten eingedenk dessen, was ihnen widerfuhr, ihre Stimmen dagegen erhoben. Sie hätten klargemacht, dass mit Rassisten keine Konferenz gegen Antisemitismus gelingen kann. Sie hätten uns erzählt davon, dass mit Rechtsextremen kein Staat zu machen ist. Sie hätten uns eingeschärft, dass diese autoritären Gestalten durch Regierungsbeteiligung nie gemäßigt werden oder gezähmt, sondern allenfalls maßlos, machthungrig und blutdurstig.
Aber sie wären auch erstaunt gewesen über die Entwicklung und die Vielfalt in den vergangenen Jahrzehnten, über die Courage und das Engagement vieler Menschen, über den Einsatz unzähliger Vereine gegen das Vergessen, gegen den Hass und die Hetze, über die Anstrengungen vieler für Notleidende und Schutzsuchende. Sie wären begeistert von dem im Frieden vereinten Festland. Können wir nicht auch mithilfe ihrer Schriften Mut schöpfen? Verdanken wir es nicht Texten wie etwa jenen von Hannah Arendt, Martin Buber, Gershom Scholem, Theodor Adorno und Max Horkheimer, wenn unsere Gesellschaften heutzutage vielfältiger, aufgeschlossener und aufmüpfiger denn je zuvor sind? Ruhe ist in unserer Zeit nicht mehr die erste Bürgerpflicht. Zivilcourage ist eine Tugend. Das Recht auf Widerstand steht sogar im deutschen Grundgesetz – was dem Wiener in mir immer ein wenig komisch scheint, denn dort, wo Widerstand sogar deutsche Gesetzespflicht ist, muss einen nicht wundern, wenn der kleine Braune zum Kaffee mit Milch wird.
Die Arbeit des Leo-Baeck-Instituts heute
Die Gäste der Veranstaltung aus Anlass des 70-jähigen Bestehens des Leo Baeck Instituts während des Vortrags von Doron Rabinovici im Jüdischen Museum Berlin. (© Freunde und Förderer des Leo Baeck Instituts e.V. (Fotograf Ole Witt))
Die Gäste der Veranstaltung aus Anlass des 70-jähigen Bestehens des Leo Baeck Instituts während des Vortrags von Doron Rabinovici im Jüdischen Museum Berlin. (© Freunde und Förderer des Leo Baeck Instituts e.V. (Fotograf Ole Witt))
Ich bin sogar sicher, dass sie überwältigt wären, könnten sie heute hier bei uns – in Berlin – sein und sehen, was aus dem damaligen Unternehmen, dem Leo-Baeck-Institut, wurde. Von dessen langem Fortbestehen scheint Martin Buber so überzeugt ja nicht gewesen zu sein, sonst hätte er zu Robert Weltsch
Robert Weltsch (geb. 20.6.1891 in Prag; gest. 22.12.1982 in Jerusalem) war ein israelischer Publizist, Journalist und Zionist. (© Wikimedia)
Robert Weltsch (geb. 20.6.1891 in Prag; gest. 22.12.1982 in Jerusalem) war ein israelischer Publizist, Journalist und Zionist. (© Wikimedia)
eben nicht jene eine Bemerkung gemacht, dass es zumindest zwei Ausgaben brauche, damit ein Yearbook überhaupt sinnvoll sein könnte. Er würde nun wissen, dass seither dieses Jahrbuch in strenger Folge erschien, zudem jährlich ein Bulletin in deutscher Sprache herauskam und seit 1993 der Jüdische Almanach vom Jüdischen Verlag bei Suhrkamp herausgegeben wird, betreut durch Gisela Dachs.
Ich denke, niemand von den damals prägenden Persönlichkeiten hätte geahnt, dass diese ihre Schöpfung eines Tages eine riesige Bibliothek von mehr als 80.000 Bänden und 1.600 verschiedenen Zeitschriften, mehrere Sammlungen von Tausenden an Kunstwerken, ein Archiv von mehr als 25.000 Fotografien, von über zweitausend Memoiren und mehreren Laufkilometern an Dokumenten umfassen würde. Die Mehrheit dieser Schriftstücke, die über vier Millionen Seiten zählt, ist digitalisiert und über die Plattform Externer Link: DigiBaeck online abrufbar. Damit werden die vielen Akten und Papiere, die bisher bereits Quellen der Forschung waren, zu einer unermesslichen Ressource für die weltweite Öffentlichkeit. Ein eigener Bestand widmet sich der Geschichte der schlesischen Gemeinden, ein weiterer der Kindertransporte. Es gibt unzählige Nachlässe wichtiger Persönlichkeiten deutsch-jüdischer Vergangenheit. Da ist auch die Austrian Heritage Collection, die eigens das Schicksal österreichischer Überlebender aufarbeitet. Die Externer Link: Library of Lost Books ist wiederum ein Kooperationsprojekt der Institute in Jerusalem und London, das sich die Suche nach den jüdischen Büchern, die von den Nazis geraubt wurden, zur Aufgabe gemacht hat.
Einzigartig ist auch das Projekt Externer Link: StolperTexte. Autorinnen und Autoren – darunter etwa Ulrike Draesner,
Aus den riesigen Arsenalen des Instituts werden die Geschichten von Opfern und Überlebenden hervorgeholt. Die Schriftstellerinnen und Schriftsteller formen aus diesen Materialien ihre StolperTexte, die in gekürzter Form in deutschen Medien erscheinen werden – vor allem dort, wo die Menschen einst lebten. Hernach werden sie auch online auf der Webseite des New Yorker Instituts zu finden sein. Dort – im Netz – werden sie durch Originaldokumente, durch Tonaufnahmen und Filmaufzeichnungen erweitert sein. Unabhängig davon sollen aber alle Texte auch in einem Buch zusammengefasst publiziert werden.
Wie wichtig sind doch all diese Arbeiten, die Forschungen, die Veranstaltungen, die Konferenzen und Ausstellungen des Leo-Baeck-Instituts in einer Zeit, da die letzten der Überlebenden allmählich von uns gehen. Sie, die uns ihre Berichte hinterlassen, sie gehen von einer Schule zur anderen, geben Interviews, sagen ohne Unterlass aus. Es sei schwer für sie, sagte meine Mutter. Schwer, vom Mord an den Unzähligen und an den ihr Nächsten zu berichten, und auch von all dem, was ihr selbst angetan worden war. Sie könne, sagte Mutter, danach nicht schlafen. Nachts komme die Erinnerung. Sie habe Alpträume. Im Dunkel ihr Schreien. Sie leide unter Depressionen, sagte meine Mutter, Schoschana Rabinovici. Sie sagte: „Bald werden wir nicht mehr sein. Deswegen gebe ich das Vermächtnis der Erinnerung an Euch weiter. Seid von nun an Zeugen unserer Erinnerung. Ihr habt uns gehört. Erzählt davon. Übernehmt unseren Kampf gegen das Lügen, gegen das Vergessen – und für unsere Erinnerung.“
Gegen das Verbrechen der Auslöschung anzukämpfen, heißt, an den Vorstellungen von Gleichberechtigung und Gerechtigkeit anzuknüpfen, die jenes Judentum kennzeichnete. Die Erinnerung bedarf keiner Rechtfertigung. Der nationalsozialistische Massenmord versuchte seine Opfer namenlos zu machen. Nichts sollte von unzähligen Leichen übrigbleiben. Millionen Ermordete, die keine Grabstätte, keine sterblichen Überreste, manchmal kein Todesdatum haben, ja, deren Tod zuweilen nicht einmal bezeugt werden kann. Vergessen gemacht werden die vergangenen Verbrechen nicht der einstigen Gräuel wegen, sondern wegen jener psychischen, sozialen und politischen Kontinuitäten, die ins Heute reichen. Die Erinnerung muss deshalb mehr sein als ein Lippenbekenntnis und mehr als eine Schweigeminute. Sie erfordert den Kampf gegen Rassismus, gegen Antisemitismus, für einen demokratischen Rechtsstaat und für die offene Gesellschaft. Sie braucht die wissenschaftliche Forschung und Lehre.
Für nicht weniger steht das Leo-Baeck-Institut. Es ist ein dichtes Netzwerk der Erinnerung, gespannt über mehrere Kontinente und Epochen, vielleicht auch ein Trapez, das uns absichern soll gegen die Abgründe der Geschichtsverleugnung, des Judenhasses und der autoritären Despotie, aber ebenso ein Sprungtuch und eine Plattform, die für hohe Spitzenleistungen in Wissenschaft, Bildung und Erziehung sorgt. Zugleich ist das Leo-Baeck-Institut eine Wunderkammer, die so viel vom Erbe der vernichteten jüdischen Gemeinden aufbewahrt – für die Zukunft, für die nächsten Generationen, für ein neues eigenständiges und selbstbewusstes jüdisches Dasein in Frieden und Freiheit, denn eine Wiederkehr kann es nicht geben.
Zitierweise: Doron Rabinovici, "Zur Wirklichkeit von gestern und zur Möglichkeit von morgen – Vom Jüdischen im Deutschen. Festrede gehalten anlässlich des 70-jährigen Jubiläums des Leo-Baeck-Instituts (LBI) in Berlin", www.bpb.de/563802, in: Deutschland Archiv vom 15.07.2025. (ali)
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Dr.; 1961 in Tel Aviv geboren, lebt seit 1964 in Wien. Er ist Schriftsteller und Historiker. IM Jahr 2000 promovierte er in Geschichtswissenschaften an der Wiener Universität. Zuletzt erschien von ihm der Roman „Die Einstellung“ bei Suhrkamp. Er ist Mitglied der Akademie der Wissenschaften und der Literatur Mainz.