Zwischen Wirtschafts- und Militärmacht
Herausgefordert: Das wiedervereinigte Deutschland in einer Welt im Umbruch (1990-2025)
Hermann Wentker
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Diplomatie schafft es offensichtlich nicht, Russland von seinem Kriegskurs abzubringen. Welche Rolle spielte und spielt Deutschland in dieser immer komplexeren weltpolitischen Lage? Welches Gewicht kam und kommt Deutschland dabei zu, und was hilft aus dem Dauerkrisenmodus? Ein Rück- und Ausblick von Hermann Wentker.
„Die Welt ist aus den Fugen geraten.“ Bereits vor zehn Jahren charakterisierte der damalige Bundesaußenminister Frank-Walter Steinmeier die wieder komplizierter werdende internationale Situation mit diesen Worten. Beim weltpolitischen Umbruch, in dem wir uns seitdem befinden, handelt es sich mithin um einen längeren, von zahllosen Krisen und Kriegen geprägten Prozess. Angesichts einer überforderten Diplomatie rückt die Intensivierung der Verteidigungsanstrengungen in den Fokus deutscher Politik.
Dabei sind zwei Faktoren von grundlegender Bedeutung: wirtschaftliche und militärische Macht. 1988 machte der britische Historiker Paul Kennedy darauf aufmerksam, dass sich beide Faktoren in einem Gleichgewicht befinden müssen, um die Machtstellung eines Staates stabil zu halten: Wohlstand werde zur Fundierung militärischer Macht benötigt, die wiederum erforderlich sei, um ersteren zu erwerben und zu erhalten. Zu viele Aufwendungen für das Militär könnten indes den Wohlstand gefährden, genauso wie eine strategische Überdehnung den Nutzen einer Expansion minimieren, ja, in ihr Gegenteil verkehren könnten. Vor diesem Hintergrund machte er bereits damals, trotz der noch gegebenen Bipolarität, vorsichtige Voraussagen für die Zukunft: Die Sowjetunion und die USA sah er im Niedergang begriffen, als aufstrebende Mächte betrachtete er Japan und China, die Europäische Gemeinschaft (EG) galt ihm von ihrem Potenzial her als fünfte Großmacht – allerdings nur, wenn sie geschlossen handele.
Dass sich die Prognose vor allem mit Blick auf die USA bislang als unzutreffend herausgestellt hat, verweist darauf, dass Macht stets relativ ist: Denn mit dem Untergang der Sowjetunion blieb allein die westliche Supermacht übrig, sodass für die 1990er-Jahre mit Blick auf die Vereinigten Staaten von einem „unipolar moment“ die Rede war. Ungeachtet dessen blieb Kennedys Analyse, dass die USA im Vergleich zu anderen Mächten an Wohlstand einbüßten und aufgrund ihrer weltweiten Verpflichtungen überdehnt waren, auch über die Zäsur von 1990 hinaus zutreffend. Darauf wird noch zurückzukommen sein.
I. Deutschland in Europa und der Weltpolitik 1990-2001
Ein wesentliches Ergebnis des epochalen Umbruchs von 1989/90 war die Wiedervereinigung Deutschlands zu den Bedingungen des Westens – in Form eines Beitritts der östlichen Bundesländer zur Bundesrepublik und unter Beibehaltung der engen Westbindung des Landes. In der EG war die Bundesrepublik bereits vor 1990 die stärkste Wirtschaftsmacht, in der NATO die zweitstärkste Militärmacht nach den USA – ein Gewicht, das sich nach der Wiedervereinigung noch einmal erhöhte. In der EG erhielt sie damit zweifellos das, was der Historiker Ludwig Dehio einmal als „halbhegemoniale Stellung“ bezeichnet hat: Sie war zu groß, um sich nur einzuordnen, aber nicht groß genug, um den europäischen Staatenverbund unangefochten zu führen. In der NATO blieb sie den USA nachgeordnet; hinzu kam, dass sie trotz ihrer beträchtlichen konventionellen Stärke auch hinter den Atommächten Frankreich und Großbritannien zurückstehen musste. Außerdem war die Bundesrepublik infolge der Wiedervereinigung zu einer Verringerung ihrer Truppen verpflichtet worden: Der Zwei-plus-Vier-Vertrag vom 12. September 1990 gestand Deutschland Streitkräfte von maximal 370.000 Mann zu. Allerdings mussten alle Staaten in Europa damals aufgrund des Vertrags über Konventionelle Streitkräfte in Europa (KSE-Vertrag) vom 19. November 1990 erheblich abrüsten.
Mit dem Ende des Ost-West-Konflikts und der weltweiten Abrüstung von konventionellen und nicht-konventionellen Waffen wurde das Risiko eines globalen Nuklearkriegs beseitigt. Jedoch hatte die Teilung der nördlichen Hemisphäre in zwei einander gegenüberstehende Blöcke auch ein ordnungsstiftendes Element. Das Ende des Kalten Krieges brachte daher nicht, wie erhofft, ein langes Zeitalter des Friedens; vielmehr wurde dadurch auch das offene Ausbrechen kriegerischer Konflikte begünstigt. Das zeigte zunächst der Griff des Irak nach Kuweit im August 1990 sowie der folgende Krieg am Persischen Golf. Wenngleich Washington die Bundesregierung zu einer Teilnahme an der gegen den Irak gebildeten Militärkoalition drängte, beschränkte sie sich aufgrund der „Out-of-area“-Problematik, der zufolge ein Einsatz der Bundeswehr außerhalb des NATO-Gebiets nach dem Grundgesetz unzulässig war, im Wesentlichen auf „Scheckbuch-Diplomatie“ – sie übernahm Kriegskosten in Höhe von knapp 17 Milliarden DM. Das gesteigerte Gewicht Deutschlands hatte also erhöhte weltpolitische Anforderungen zur Folge, denen das Land gerecht werden musste, wollte es nicht als sicherheitspolitischer „Trittbrettfahrer“ gelten.
Parallel dazu begann der gewaltsame Zerfall Jugoslawiens. Nach gescheiterten Vermittlungsversuchen der EG setzte Deutschland die Anerkennung von Slowenien und Kroatien durch die Gemeinschaft durch. Deutschland selbst vollzog diesen Schritt vorzeitig im Dezember 1991. Damit bewies es zwar Führungsmacht, setzte sich aber auch Kritikern in London und Paris aus, die vor einer deutschen Großmachtrolle warnten. Im Bosnien-Krieg nahmen Bundeswehrsoldaten an AWACS-Aufklärungsflügen teil, was innenpolitisch umstritten war. Das Bundesverfassungsgericht musste klären, inwieweit Auslandseinsätze der Bundeswehr mit dem Grundgesetz konform waren. In seinem Urteil vom 12. Juli 1994 stellte es fest, dass die Bundeswehr im Rahmen von UN- und NATO-Einsätzen eingesetzt werden durfte; der Bundestag musste indes in jedem Einzelfall ein genau festgelegtes Mandat erteilen.
Nachdem die Europäer im Bosnien-Krieg militärisch lange untätig geblieben waren, ergriffen im August 1995 die USA die Initiative, sodass die NATO nun eine Luftoffensive gegen die serbisch-bosnischen Truppen eröffnete, an der sich (erstmals) auch die deutsche Luftwaffe beteiligte – in einer ähnlichen Größenordnung wie Spanien oder die Niederlande. Nachdem der Krieg mit dem Abkommen von Dayton im November 1995 beendet worden war, nahm die Bundeswehr überdies im Rahmen der IFOR an dem dortigen Friedenssicherungseinsatz der NATO teil. In einen größeren NATO-Kampfeinsatz wurde die Luftwaffe im März 1999 geschickt, als der Konflikt zwischen Serben und Kosovaren nach dem Fehlschlag einer Friedenskonferenz in Rambouillet zu eskalieren drohte. Vor dem Hintergrund des Mitwirkens an der Militäraktion konnte die Bundesrepublik auch eine entscheidende Rolle bei der Beilegung des Konflikts spielen. Dazu gehörte die Beteiligung an der Friedenssicherungstruppe KFOR, deren zweiter Kommandeur ein deutscher General war.
Die Auslandseinsätze der Bundeswehr – nicht nur im ehemaligen Jugoslawien – verdeutlichten, dass diese eine neue Struktur benötigte. Angesichts der neuen weltpolitischen Lage waren Landstreitkräfte im bisherigen Umfang nicht mehr nötig; wichtiger wurden – für die NATO wie für die Bundeswehr – Streitkräfte, die zur Krisenbewältigung eingesetzt werden konnten. Die dazu erforderliche Umgliederung und Umrüstung musste indes mit immer weiter schrumpfenden Mitteln bewältigt werden, da der Bundeswehretat nunmehr angesichts des weggefallenen Feindes viel Anlass für Einsparungen bot. Da sich die Kampfkraft aufgrund von Einsparungen verringerte, wurde eine Reform der Bundeswehr überfällig. Dazu legte eine Kommission unter Vorsitz von Richard von Weizsäcker am 23. Mai 2000 Empfehlungen vor. Da Deutschland zum „ersten Mal in seiner Geschichte (…) von Bündnis- und Integrationspartnern umgeben und keiner äußeren Gefährdung seines Territoriums durch Nachbarn ausgesetzt“, aber gleichzeitig international mehr gefordert sei, sollten die Krisenreaktionskräfte auf 140.000 Mann vergrößert werden. Die Hauptverteidigungskräfte sollten 100.000 Mann umfassen, wobei die Zahl der Wehrdienstleistenden auf 25.000 bis 30.000 zu reduzieren war. Gleichzeitig sah der Bericht eine Modernisierung der Ausrüstung und eine Erhöhung des investiven Anteils des Verteidigungshaushalts vor. Diese Vorschläge wurden indes nicht umgesetzt; anstatt die Waffensysteme zu modernisieren, wurde weiter am Sparkurs festgehalten, was dazu führte, dass laut Experten die Kernfähigkeiten der Streitkräfte mehr und mehr verlorengingen.
Doch wurden diese überhaupt noch benötigt? Zu Beginn der 1990er-Jahre bestand an der deutschen Ostgrenze noch ein sicherheitspolitisches Vakuum: Die ehemaligen Ostblockstaaten drängten zwar in die NATO, aber die Bundesrepublik zögerte, diese zu unterstützen, da sie die guten Beziehungen zu Russland, das Ende 1991 als östliche Vormacht an die Stelle der Sowjetunion getreten war, nicht beeinträchtigen wollte. Auf Vorschlag des US-amerikanischen und des deutschen Außenministers wurde daher Ende 1991 der NATO-Kooperationsrat als Diskussionsforum zwischen den Staaten der westlichen Allianz und des ehemaligen Warschauer Pakts gegründet. Anfang 1994, als auch im Westen der Drang zur Osterweiterung der NATO stärker wurde, lud diese die ehemaligen Ostblockstaaten einschließlich Russlands zur „Partnerschaft für den Frieden“ (Partnership for Peace; PfP) ein, die eine Konsultationspflicht vorsah, wenn ein Partner sich bedroht fühlte.
Da die Bundesregierung unter der Kanzlerschaft von Helmut Kohl (CDU) sowohl an der NATO-Osterweiterung als auch an einem weiterhin guten Verhältnis zu Russland interessiert war (nicht zuletzt angesichts der bis August 1994 in Ostdeutschland stationierten russischen Truppen), geriet sie in eine Mittlerposition. Es gelang dem Bundeskanzler, US-Präsident Bill Clinton für seine Auffassung zu gewinnen, dass der russische Präsident Boris Jelzin an der Macht gehalten werden müsse und daher die NATO-Osterweiterung nicht gegen, sondern nur im Einvernehmen mit Moskau zustande kommen dürfe. Dieses Ziel wurde unter anderem mit dem Ausbau der deutsch-russischen Wirtschaftsbeziehungen, der Gewährung umfangreicher finanzieller Unterstützung für Russland durch den Westen und vor allem dank der unermüdlichen Vermittlungstätigkeit Kohls erreicht. So unterzeichnete Russland am 27. Mai 1997 die NATO-Russland-Grundakte und gab seine Zustimmung zur ersten NATO-Osterweiterung. Nach Beitrittsverhandlungen mit Polen, Tschechien und Ungarn traten diese drei Staaten 1999 der NATO bei; 2004 folgten – allerdings unter anderen Bedingungen – Bulgarien, Rumänien, Slowenien, die Slowakei und die baltischen Staaten.
Da Deutschland nun jenseits seiner Ostgrenze nur noch Verbündete hatte, schien es für die Aufrechterhaltung seiner Verteidigungsfähigkeit durch eine schlagkräftige Bundeswehr keinen Anlass mehr zu geben. Das bestärkte die folgenreiche Neigung der Bundesregierung unter Bundeskanzler Gerhard Schröder (SPD) in ihrem Kurs, die Verteidigungsausgaben weiter zu kürzen: 1991 hatten diese noch 2 Prozent des Bruttoninlandsprodukts (BIP) ausgemacht, 2001 nur noch 1,32 Prozent.
Parallel zu seinem Bemühen um die Nachbarn im Osten befasste sich Kohl vor allem mit der Vertiefung und der Erweiterung der Europäischen Gemeinschaft beziehungsweise Europäischen Union. Angesichts des gewachsenen deutschen Gewichts erschien der Bundesregierung dieser Handlungsrahmen als geradezu zwingend, um Ängste vor einem Dominanzstreben möglichst zu zerstreuen. Bereits im Prozess der Wiedervereinigung betonte Kohl, dass die Bundesregierung an einer Vertiefung der EG unbeirrt festhalten werde. Seine Formel lautete, „dass deutsche Einheit und europäische Einigung zwei Seiten derselben Medaille sind“. Die Bundesrepublik, so die deutliche Botschaft, werde eine treibende Kraft auf dem Weg zur politischen Union Europas bleiben und auch in ihrer neuen Stellung dieses Projekt nicht hintanstellen.
Auf die Worte folgten auch Taten: Der mit der Einheitlichen Europäischen Akte von 1986 festgelegte Weg zur Wirtschafts- und Währungsunion (WWU) wurde unter Führung Deutschlands und Frankreichs entschlossen beschritten, sodass am 7. Februar 1992 der die Europäische Union begründende Vertrag von Maastricht unterzeichnet werden konnte. Dessen wohl wichtigstes Element war die Begründung einer Gemeinschaftswährung – des späteren Euro. Kohl hatte im Hinblick auf den Zeitplan gegenüber Frankreich Ende 1989 ein wichtiges Zugeständnis gemacht, sodass die erste Stufe der WWU bereits am 1. Juli 1990 in Kraft treten konnte. Bei der Ausgestaltung der Währungsunion konnte sich Deutschland weitgehend durchsetzen: So wurde die Europäische Zentralbank (EZB) nach dem Muster der Bundesbank von Beginn an auf die Erhaltung der Geldwertstabilität verpflichtet und deren Unabhängigkeit festgelegt. Hinzu kam der in Maastricht verabschiedete Stabilitätspakt, der die jährliche Neuverschuldung und die Gesamtverschuldung eines jeden Staates begrenzte. 1999 erfolgte die Einführung des Euro als Buchgeld, Anfang 2002 als neue Währung für die meisten EU-Staaten. Dies symbolisierte, so Andreas Wirsching, „den wichtigsten Triumph des supranationalen Prinzips“ in der EU.
Die Erweiterung der EU nach Osten war für die Bundesrepublik als größtem Handelspartner der mittelost- und osteuropäischen Staaten ebenfalls von großem Interesse. Denn sie wollte nicht nur die dortigen jungen Demokratien stabilisieren, sondern auch dem Eindruck entgegenwirken, sich in diesem Raum eine exklusive deutsche Einflusssphäre sichern zu wollen, die ungute Erinnerungen an die Zwischenkriegszeit geweckt hätte. Das deutsche Drängen auf eine Anbindung dieser Staaten an die EU stieß auf den Widerstand der Südeuropäer, der allerdings mit der Zeit (und mit Geld) überwunden werden konnte. Nachdem 1995 die neutralen Staaten Finnland, Österreich und Schweden beigetreten waren, folgte 2004 die größte Erweiterungsrunde um zehn und 2007 um zwei weitere Mitglieder in Mittelost- und Osteuropa.
Insgesamt bildeten die 1990er-Jahre ein erfolgreiches Kapitel deutscher Außenpolitik. In Europa hatte Deutschland als mächtigste Wirtschaftsmacht sein Gewicht eingesetzt, um die in seinem Interesse stehende Vertiefung und Erweiterung der EU zu erreichen – im Konsens mit den europäischen Partnern und Russland. Selbsteinbindung in die multilateralen Prozesse war vor und nach 1990 ein wichtiges Element dieses Erfolgsrezepts. Auch hielt es an der engen Bindung zu den USA fest, die sich wiederum trotz gestiegener weltweiter Herausforderungen nach wie vor in Europa verpflichtet sahen – sowohl bei der Wiederherstellung des Friedens auf dem Gebiet des ehemaligen Jugoslawien als auch bei der Einbindung Russlands angesichts der NATO-Osterweiterung. Deutschland passte sich zwar auch der neuen Sicherheitslage an, indem es die Voraussetzungen dafür schuf, sich an Militärmissionen außerhalb des NATO-Gebiets zu beteiligen. Aber hier blieb es eher im Hintergrund und war im Übrigen darauf bedacht, seine Friedensdividende einzufahren – unter Inkaufnahme einer nachlassenden Kampfkraft der Bundeswehr.
II. Verstärktes globales Engagement und Krisenmanagement in der EU (2001-2008/09)
Die Terroranschläge auf das World Trade Center in New York und auf das Pentagon am 11. September 2001 verdeutlichten, dass islamistischer Terror eine neue, globale Gefahr darstellte – nicht nur für die Vereinigten Staaten, sondern für die ganze westliche Welt. Die Anschläge ließen Deutschland und die USA noch näher zusammenrücken. Bundeskanzler Gerhard Schröder verkündete die uneingeschränkte Solidarität mit Washington, die Bundesregierung trug die erstmalige Ausrufung des NATO-Bündnisfalls zur Unterstützung der Vereinigten Staaten mit, und Deutschland beteiligte sich ab November 2001 militärisch mit bis zu 3.900 Soldaten an der „Operation Enduring Freedom“ (OEF) zur Bekämpfung des internationalen Terrorismus – nicht nur in Afghanistan. Nachdem das dortige Taliban-Regime wie ein Kartenhaus zusammengebrochen war, stellte Deutschland einen immer größer werdenden Teil der „International Security Assistance Force“ (ISAF), die Frieden erhalten sollte. Verteidigungsminister Peter Struck (SPD) begründete dies am 5. Dezember 2002 mit den Worten: „[D]ie Sicherheit Deutschlands wird auch am Hindukusch verteidigt.“
Damit machte Struck darauf aufmerksam, dass die von Afghanistan ausgehende Terrorgefahr auch Deutschland betraf und ein entsprechendes militärisches Engagement erforderte. Die Bundesrepublik übernahm als drittgrößter Truppensteller zwar Verantwortung, hatte aber, ebenso wenig wie die anderen westlichen Staaten, eine Strategie für das Land und wurde „mehr Beobachter als Gestalter der innerafghanischen Entwicklung“. Hinzu kam, dass das deutsche Kalkül, vor allem als Entwicklungshelfer zu fungieren, nicht aufging, und die Bundeswehr zum ersten Mal seit ihrer Gründung in Bodenkämpfe verwickelt wurde. Das war bei Beginn des Einsatzes genauso wenig absehbar wie dessen zwanzigjährige Dauer. Die Bundesrepublik und die ganze westliche Staatenwelt hatten sich hinsichtlich der Möglichkeit, Afghanistan zu demokratisieren, massiv verschätzt.
Das hing vor allem mit einer westlichen, insbesondere US-amerikanischen Hybris zusammen, der zufolge man die Demokratie als vermeintlich erfolgreichste Staatsform exportieren könne. Darin lag auch ein wesentliches Motiv für Washington, einen Krieg mit dem Irak vom Zaun zu brechen. Anders als im Fall Afghanistans ging die Bundesregierung hier auf einen Konfrontationskurs gegenüber den USA. Dabei waren es auch innenpolitische Gründe – im Herbst 2002 stand eine Bundestagswahl bevor –, die Bundeskanzler Schröder veranlassten, den möglicherweise bevorstehenden Krieg von vornherein zu verdammen und eine deutsche Beteiligung kategorisch auszuschließen.
Wenngleich die von Washington präsentierten Belege dafür, dass der Irak über Massenvernichtungswaffen verfüge, dünn waren, ging der Bundeskanzler mit dem von ihm proklamierten „deutschen Weg“ ein hohes Risiko ein. Daraus sprach zwar ein neues Selbstbewusstsein gegenüber den Vereinigten Staaten; gleichzeitig gab er damit aber auch Deutschlands traditionelle Rollen als Mittler zwischen Paris und Washington und als Fürsprecher der mittelosteuropäischen Staaten auf. Deutschlands Schritt, aus dem eine informelle Anti-Kriegskoalition mit Frankreich und Russland wurde, spaltete Europa. Das transatlantische Verhältnis sollte trotz einer Wiederannäherung nach 2005 nie wieder so eng werden wie zuvor.
Hinzu kam, dass das neue Selbstbewusstsein der rot-grünen Bundesregierung keineswegs militärisch unterfüttert war. Die Aufwendungen für die Bundeswehr gingen vielmehr weiter zurück: von 1,32 Prozent des BIP 2001 auf 1,07 Prozent 2005. Deutschland blieb daher für seine eigene Sicherheit auf den Rückhalt durch die NATO angewiesen, nicht zuletzt auf die nukleare Garantie der Vereinigten Staaten. In gewisser Weise ähnelte es einem Scheinriesen, der auf den ersten Blick zu einem bedeutenden Mitspieler in der internationalen Politik geworden zu sein schien, dem aber bei näherem Hinsehen wesentliche Fähigkeiten fehlten.
Kurz zuvor, im Jahre 2000, bahnte sich die erste Krise in der EU an. Aufgrund der anstehenden EU-Erweiterung mussten deren Institutionen und Verfahrensweisen geändert werden; dabei ging es insbesondere um Stimmgewichte im Ministerrat bei qualifizierten Mehrheitsentscheidungen. Da Frankreich und Deutschland in dieser Frage keine Einigkeit erzielen konnten, prallten auf dem Gipfel von Nizza im Dezember 2000 die unterschiedlichen Interessen der 15 EU-Staaten aufeinander; nur mit Mühe konnte eine außerordentlich komplizierte Regelung gefunden werden. Letztlich war es auch hier das neue Selbstbewusstsein der Regierung Schröder, das den deutsch-französischen Motor ins Stottern brachte und die EU in schwere Fahrwasser führte. Jedoch kehrten Berlin und Paris 2002 – nicht zuletzt angesichts ihrer gemeinsamen Haltung zum Irak-Krieg – zur Kooperation zurück, sodass ein Konvent zur Ausarbeitung eines europäischen Verfassungsvertrags seine Arbeit aufnehmen konnte. Dieser Verfassungsvertrag, der für die EU zusätzliche Kompetenzen und ein neues Institutionengefüge vorsah, wurde im Oktober 2004 von den Staats- und Regierungschefs unterzeichnet.
Da der Vertrag in Referenden in Frankreich und in den Niederlanden im Frühsommer 2005 keine Mehrheit erhielt, brach die Krise erneut auf. Erst als die neue Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) sich bereit erklärte, besondere Lasten bei den künftigen EU-Finanzen zu übernehmen, kam wieder Bewegung in die verfahrene Situation. Nun konnte Deutschland als Vermittler die wichtigsten Errungenschaften des Verfassungsvertrags retten. Das gelang unter frühzeitiger Einbindung des neuen französischen Präsidenten Nicolas Sarkozy und des spanischen Ministerpräsidenten José Zapatero 2007. Im Dezember dieses Jahres unterzeichneten die Staats- und Regierungschefs der EU den bis heute gültigen Vertrag von Lissabon, der 2009 in Kraft trat.
Diese Vorgänge verweisen darauf, wie unerlässlich Deutschland als führende Wirtschaftsmacht für die Weiterentwicklung der EU war. Allerdings zeigte sich seine halbhegemoniale Stellung auch darin, dass es eine Reform nie im Alleingang durchsetzen konnte, sondern stets auf Unterstützung angewiesen war, in der Regel durch Frankreich. Als Militärmacht brachte es jedoch nicht das gleiche Gewicht auf die Waage; noch blieb dies weitgehend unbemerkt, da es seine Verpflichtungen als Interventionsmacht erfüllte.
Rückblickend erfolgte weniger 2001 als vielmehr 2008 die entscheidende weltpolitische Zäsur in der Zeit zwischen 1990 und 2025. Denn nun wurde deutlich, dass Wladimir Putin, russischer Präsident seit 2000, einen aggressiven antiwestlichen, auf die Wiederherstellung eines russischen Großreichs ausgerichteten Kurs verfolgte. Die USA, wo Barack Obama 2008 zum Präsidenten gewählt wurde, waren durch ihr Engagement im Mittleren Osten überbeansprucht und wandten sich verstärkt Asien zu. Außerdem erschütterte, ausgehend von den USA, eine bisher nicht dagewesene Finanz- und Wirtschaftskrise die Welt. Das bedeutete auch einen Wendepunkt im Verhältnis Chinas zur internationalen Ordnung, da dessen Führung sich gegenüber dem vermeintlich im Abstieg begriffenen Westen überlegen sah.
Die Finanz- und Wirtschaftskrise erfasste auch die EU-Staaten, allerdings in unterschiedlichem Ausmaß. Während Deutschland diese aufgrund seiner robusten Volkswirtschaft und seiner Finanzkraft einigermaßen bewältigen konnte, drohte Griechenland Ende 2009 die Zahlungsunfähigkeit. Später wurde deutlich, dass mit Portugal, Irland, Spanien und Zypern auch andere Staaten der Euro-Zone vor einem ähnlichen Problem standen. Wieder war die Bundesrepublik als Krisenmanager gefordert. Es ging nun um die Regeln, die unter maßgeblicher deutscher Mitwirkung bei der Einführung des Euro festgelegt worden waren. Die Regierung Merkel fand sich nach einiger Zeit bereit, diese Regeln teilweise außer Kraft zu setzen. Denn die „No-bail-out-Klausel“ der Wirtschafts- und Währungsunion schloss eine Haftung der Gesamtheit der Euro-Staaten für die Verbindlichkeiten einzelner Mitglieder aus.
Dennoch ließ sich Deutschland dazu bewegen, über spezielle Fonds, in die die Euro-Staaten und der Internationale Währungsfonds (IWF) Ausfallgarantien in Höhe von 750 Milliarden Euro einbrachten, Kredite an den Finanzmärkten aufzunehmen und an die gefährdeten Staaten weiterzureichen. Eurobonds, also gemeinsame Anleihen aller Euro-Staaten, konnte die Bundesregierung verhindern; gleichzeitig setzte sie Auflagen zur Einhaltung (und Überwachung) strikter Haushaltsdisziplin bei den Kreditnehmern im sogenannten Fiskalpakt durch. Trotz zeitweiliger Beruhigung der Finanzmärkte flammte die Krise 2012 angesichts eines Regierungswechsels in Frankreich und 2015 wegen einer sparunwilligen griechischen Regierung erneut auf; weitere Rettungspakete waren nötig, um die Krise wieder beizulegen, ohne dass diese damit endgültig ausgestanden war.
Wie lässt sich die deutsche Politik in der Euro-Krise erklären? Die Bundeskanzlerin scheute das Risiko eines „Grexit“ – also eines Ausschlusses von Griechenland aus der Euro-Zone, obwohl Finanzminister Wolfgang Schäuble (CDU) 2015 für ein zeitweiliges Ausscheiden Athens plädierte. Er konnte sich indes gegen die Kanzlerin nicht durchsetzen. Diese handelte nach ihrem Motto vom Mai 2010: „Scheitert der Euro, dann scheitert Europa.“ Dadurch setzte sich die Bundesregierung dem Druck weniger finanzstarker EU-Staaten aus und war gezwungen, erhebliche Zugeständnisse zu machen, die zumindest gegen den Geist des WWU-Vertrags verstießen. Das fiel ihr deshalb besonders schwer, weil dadurch erstmals die Bundesrepublik mit ihrer Finanzkraft Ausfallgarantien für andere Staaten in Milliardenhöhe übernahm, was auch zu innenpolitischen Verwerfungen führte. Gleichwohl konnte Deutschland – mit Unterstützung anderer, kleinerer Staaten – seine Linie der Haushaltskonsolidierung zunächst durchsetzen. Auch daran wird die halbhegemoniale Stellung der Bundesrepublik in der EU deutlich: Ohne sie wäre eine Lösung der Euro-Krise nicht möglich gewesen; die radikalste Lösung, der „Grexit“, erschien der Bundesregierung angesichts der engen Verflechtung des Euroraums zu riskant und hätte zudem die Gefahr einer antideutschen Koalition in der EU heraufbeschworen.
Die andere Herausforderung für Deutschland als „Zentralmacht Europas“ (Hans-Peter Schwarz) bildete das zunehmend aggressivere Russland. Am 25. September 2001 hatte Putin Deutschland noch im Bundestag umworben, für die Überwindung des alten Ost-West-Denkens und für ein gesamteuropäisches Haus plädiert, das Russland ein-, die USA aber ausschloss. Wenngleich er damit an sowjetische, gegen die transatlantischen Bindungen gerichtete Bestrebungen anknüpfte, blieb er gegenüber Deutschland kooperationsbereit – und traf bei Bundeskanzler Schröder auf Gegenliebe. Doch den Irak-Krieg, die zweite Runde der NATO-Osterweiterung und die westliche Unterstützung für die „Farbenrevolutionen“ in Georgien und der Ukraine 2003/04 betrachtete er als ein Vordringen des Westens in die russische Einflusszone. Er sah sich daher veranlasst, auf der Münchener Sicherheitskonferenz im Februar 2007 andere Töne anzuschlagen: Er geißelte das amerikanische „Konzept einer unipolaren Welt“, das angeblich völkerrechtwidrig sei, die NATO-Osterweiterung sowie die Raketenabwehrpläne der Vereinigten Staaten.
Auf dem NATO-Gipfel in Bukarest im März 2008 ging es dann um den Umgang mit den ins westliche Bündnis strebenden, sich demokratisierenden Staaten Ukraine und Georgien. Einige Mitgliedstaaten, insbesondere die USA, sprachen sich für einen „Membership Action Plan“ (MAP) für beide Staaten aus – ein Verfahren, in dem die Kandidaten durch Beratung und Unterstützung auf die Vollmitgliedschaft vorbereitet werden sollten. Andere, insbesondere Deutschland und Frankreich, lehnten dies als zu weitgehend ab. Unter Vermittlung Deutschlands einigten sich die Staats- und Regierungschefs darauf, von der Einleitung eines MAP abzusehen, den beiden Staaten aber ganz allgemein eine Mitgliedschaft in Aussicht zu stellen. Mit dieser „verbindlich unverbindliche[n] Zusage“ wollte man Putin pazifizieren; man erreichte indes das Gegenteil. Die Schutzlosigkeit Georgiens wurde von diesem noch im August 2008 durch einen Krieg zugunsten des abtrünnigen Südossetiens ausgenutzt. Dieser endete zwar nach fünf Tagen mit einem Rückzug der Georgier, verdeutlichte aber, dass Putin zur Durchsetzung seiner Ziele auch zu einem gewaltsamen Militäreinsatz bereit war.
Die damit deutlich sichtbare militärische Bedrohung durch Russland hätte ein Umsteuern in der Sicherheits- und Verteidigungspolitik erfordert. Auf dem NATO-Gipfel in Lissabon im November 2010 wurde Bündnisverteidigung auch wieder gleichrangig mit dem globalen Krisenmanagement behandelt. Doch in Deutschland richtete eine Bundeswehr-Strukturkommission im selben Jahr diese ausschließlich auf Auslandseinsätze aus und sah eine drastische Verringerung der Truppenstärke von damals 240.000 auf 180.000 vor. Verteidigungsminister Karl-Theodor zu Guttenberg (CSU) wartete den Kommissionsbericht gar nicht erst ab, sondern proklamierte bereits im Mai 2010, dass es sein wichtigstes Ziel sei, die strikten Sparvorgaben für die Bundeswehr einzuhalten. Es war daher nur folgerichtig, dass im März 2011 die Wehrpflicht ausgesetzt wurde.
Berlin entfernte sich damit immer mehr von der Linie Washingtons. Die USA waren, wie Paul Kennedy schon 1988 konstatiert hatte, strategisch überdehnt und drängten Deutschland zu einer Erhöhung des eigenen Verteidigungsetats – unabhängig davon, ob der Präsident George W. Bush oder Barack Obama hieß. Doch die Bundesregierung unter Angela Merkel ließ sich davon nicht beirren. Das bedeutete indes, dass die Schere zwischen der Bedeutung Deutschlands als Wirtschaftsmacht einerseits und als Militärmacht andererseits weiter auseinanderging und die sicherheitspolitische Abhängigkeit von den USA wuchs. Dass dies kaum beachtet wurde, hing auch mit dem „arabischen Frühling“ zusammen, der die Welt in seinen Bann zog. Denn 2011 erhoben sich die Gesellschaften in zahlreichen arabischen Staaten gegen ihre autoritären und diktatorischen Herrscher. Deutschland wollte keine weiteren militärischen Engagements eingehen. Das zeigte sich an seiner Enthaltung im UN-Sicherheitsrat am 17. März 2011, als es um die Einrichtung einer Flugverbotszone zum Schutz der Zivilbevölkerung im libyschen Bengasi ging. Mit dieser Zurückhaltung aus außen- und innenpolitischen Gründen scherte es aus dem Kreis der Westmächte aus und stahl sich aus der Verantwortung.
Indirekt musste Deutschland jedoch die Folgen der Arabellion tragen. Denn es war vor allem der Bürgerkrieg in Syrien, der 2015 zu einer noch nie dagewesenen Anzahl von Geflüchteten führte, die nach Europa und insbesondere nach Deutschland drängten. Es handelte sich zweifellos um die „schwierigste Krise der Regierungszeit von Angela Merkel“, die auch zu einer Spaltung der EU führte. Merkel trug dazu mit einer widersprüchlichen Kommunikation bei. Denn einerseits proklamierte sie Ende August 2015: „Deutschland ist ein starkes Land. Das Motiv, mit dem wir an diese Dinge herangehen, muss sein: Wir haben so vieles geschafft – wir schaffen das!“ Andererseits forderten Deutschland und andere Staaten kurz darauf die Aufteilung der Flüchtlinge auf alle Staaten der EU, was auf ein unterschiedliches Echo stieß: Vor allem Polen, Tschechien, die Slowakei und Ungarn lehnten die auf einem Treffen der EU-Innenminister im September 2015 dazu beschlossene Quotenregelung strikt ab.
Erfolgreicher war Merkel in den von ihr initiierten Verhandlungen der EU mit der Türkei, die am 18. März 2016 in ein Abkommen mündeten. Das sah gegen die Auszahlung von bis zu sechs Milliarden Euro die Rückführung von Geflüchteten aus Griechenland in die Türkei und eine verstärkte Kontrolle der Fluchtwege über Land und See vor. Gleichzeitig wurde auf einem EU-Gipfel die Schließung der Balkan-Route für Geflüchtete verkündet. Mit diesen beiden Instrumenten wurde der Flüchtlingsstrom verringert, allerdings um den Preis der Erpressbarkeit der EU durch den türkischen Präsidenten Erdogan.
Ein gesamteuropäisches Regelwerk zum europäischen Asylrecht, das damals noch fehlte, wurde erst im Frühjahr 2024 verabschiedet und soll 2026 in Kraft treten. Auch in der Flüchtlingskrise wurde auf der einen Seite die herausgehobene Bedeutung der Bundesrepublik in der EU deutlich: zum einen, weil sie mit ihrem ausgebauten Sozialstaat eine erhebliche Anziehungskraft auf Asylsuchende ausübte, und zum anderen, weil die Aushandlung des „Flüchtlingsdeals“ mit der Türkei maßgeblich auf das Handeln der Bundeskanzlerin zurückzuführen ist. Auf der anderen Seite war sie nicht in der Lage, eine Umverteilung der Geflüchteten in der EU zu erzwingen – auch das verweist auf eine halbhegemoniale Stellung in dieser höchst brisanten Frage. Bereits vor dem Griff Russlands nach der Krim begann eine öffentliche Diskussion über ein verstärktes internationales, auch militärisches Engagement Deutschlands.
Ende Januar 2014 bekannten sich Bundespräsident Joachim Gauck, Außenminister Steinmeier und Vereidigungsministerin Ursula von der Leyen (CDU) auf der Münchener Sicherheitskonferenz zu einer neuen internationalen Verantwortung Deutschlands. Die Bundeswehr war weiterhin an zahlreichen internationalen Auslandseinsätzen beteiligt – neben Afghanistan ist die Unterstützung Frankreichs im Kampf gegen islamistische Dschihadisten in Mali seit 2013 und die marginale Beteiligung an der von den USA 2014 initiierten internationalen Allianz gegen die Terrororganisation „Islamischer Staat“ (IS) im Irak und in Syrien mit Aufklärungsflügen zu nennen. Aber erst nach der Annexion der Krim durch Russland und dessen anschließender Aggression in der Ostukraine im Jahr 2014 – Beginn des Krieges gegen die Ukraine – war Deutschland gezwungen, „den desolaten Zustand der Bundeswehr öffentlich anzuerkennen“. Nun konstatierte der Politikwissenschaftler Josef Janning: „Deutschlands wirtschaftliches und finanzielles Übergewicht steht sein militärisches Untergewicht gegenüber“, und er forderte „größere militärische Handlungsfähigkeit“, um Deutschlands „Stimme mehr Gewicht zu verleihen“.
Trotz dieses Ungleichgewichts kam Deutschland in der Anfangsphase der russischen Aggression gegen die Ukraine aus zwei Gründen eine wichtige Rolle zu: Zum einen unterhielt die Bundeskanzlerin seit Beginn ihrer Amtszeit Kontakte zu Putin, die sie nun im Krisenmanagement in dutzenden Telefonaten und bei vier Treffen mit dem russischen Machthaber nutzen konnte. Zum anderen war ihre herausgehobene Stellung darauf zurückzuführen, dass Präsident Obama nicht involviert werden wollte. Die Hauptlast bei der schwierigen Aufgabe, in der Ukraine zu einem Waffenstillstand zu gelangen, lag also bei der Bundeskanzlerin. Da die erste, von der OSZE vermittelte Waffenstillstandsvereinbarung vom September 2014 (Erstes Protokoll von Minsk) nicht eingehalten wurde, ergriff Merkel die Initiative, um gemeinsam mit dem französischen Präsidenten François Hollande die Beteiligten wieder an einen Tisch zu bekommen. Das gelang, und am 12. Februar 2015 konnte das zweite Minsker Protokoll unterzeichnet werden, das allerdings daran krankte, dass Russland nicht als Kriegspartei firmierte und daher auch dem Protokoll fernblieb. Ungeachtet dessen galt spätestens jetzt, so der Merkel-Biograf Ralph Bollmann, die Bundeskanzlerin „als Weltpolitikerin ersten Ranges“.
Die deutsch-russischen Beziehungen, die unter diesen Bedingungen wieder stärker in den Fokus rückten, besaßen noch eine weitere, bis zu diesem Zeitpunkt unterschätzte Dimension: die zunehmende Energieabhängigkeit Deutschlands von Russland. Deutschland bezog schon vor 1990 Gas aus der Sowjetunion. Damals galt freilich noch eine Obergrenze von 30 Prozent für sowjetisches Gas, um sich nicht von der östlichen Supermacht erpressbar zu machen. Das galt nach dem Untergang der Sowjetunion nicht mehr, sodass die Gaseinfuhr der europäischen Staaten nun kräftig anstieg.
Einen weiteren Schub erhielt die deutsche Gasabhängigkeit durch das Projekt „Nord Stream“ (unterzeichnet 2005), womit über eine Untersee-Pipeline Gas aus Russland direkt nach Deutschland geliefert werden sollte: für Putin eine „strategische Weichenstellung“, für den damaligen Bundeskanzler Schröder „ein rein wirtschaftliches Projekt“. Merkel hielt daran fest, obwohl die Beziehungen zu Russland infolge des Georgien-Krieges 2008 strapaziert wurden. 2011, als Nord Stream fertiggestellt wurde, entschied die Bundesregierung, infolge der Reaktorkatastrophe von Fukushima aus der Atomkraft auszusteigen, was die Abhängigkeit von russischem Gas weiter erhöhte. Der russische Anteil aller deutscher Gaseinfuhren betrug damals fast 50 Prozent, um bis 2016 auf fast 60 Prozent zu steigen.
Wenngleich die EU 2014 infolge des aggressiven russischen Vorgehens gegen die Ukraine Sanktionen gegen Moskau verhängte, blieben die Gaslieferungen davon unberührt. Denn zum einen blieben Deutschland und andere EU-Staaten dringend darauf angewiesen; zum anderen ging die Regierung Merkel davon aus, „dass die gegenseitige Abhängigkeit die Sicherheit erhöhe“. Der Konsortialvertrag für Nord Stream II wurde noch 2015 unterzeichnet; der Bau der Pipeline begann 2018 und wurde im September 2021 abgeschlossen; zur Genehmigung der Inbetriebnahme kam es indes aufgrund des russischen Angriffskriegs nicht mehr. Nach Beginn des umfassenden Angriffskriegs gegen die Ukraine am 24. Februar 2022 reduzierte Russland die in die EU exportierte Gasmenge; ab dem 1. September 2022 stellte es die Lieferungen über Nord Stream I in Erwiderung der westlichen Russlandsanktionen ein. Die Bundesregierungen hatten folglich unter Schröder und Merkel ihren Wirtschaftsinteressen – in diesem Fall ihrem Bedürfnis nach möglichst preiswertem Gas – einen solchen Vorrang eingeräumt, dass ihnen nicht in den Sinn kam, mit welchen sicherheitspolitischen Risiken dies verbunden war. Die russische Aggression gegen die Ukraine 2014 hätte überdies die Bundesregierung veranlassen müssen, ihre Verteidigungspolitik zu überdenken.
Auf der NATO-Tagung im September 2014 in Newport (Wales) rückte der Schutz der territorialen Integrität der Bündnismitglieder wieder ins Zentrum, auch wenn umstritten blieb, ob langfristige Sicherheit in Europa gegen oder mit Russland anzustreben sei – Deutschland und Frankreich plädierten für letztere Option, Polen und die baltischen Staaten für erstere. Alle Mitgliedstaaten verpflichteten sich indes auf das Ziel, ihren Verteidigungsetat auf mindestens zwei Prozent ihres Bruttoinlandsprodukts zu erhöhen, legten aber nicht fest, bis wann.
Spätestens jetzt hätte die Bundesregierung im Hinblick auf die Bundeswehr energisch umsteuern müssen. Denn diese war mit 180.000 Soldaten personell unterbesetzt; außerdem war sie aufgrund fehlender Ausstattung mit oftmals defektem militärischem Großgerät nicht einsatzbereit. Eine drastische Erhöhung des Etats wäre dringend erforderlich gewesen. Verteidigungsministerin von der Leyen forderte dementsprechend Anfang 2016, bis 2030 zusätzlich zum regulären Haushalt 130 Milliarden Euro für die Modernisierung der Bundeswehr bereitzustellen. Allerdings traf sie auf taube Ohren. Vor allem die mitregierenden Sozialdemokraten bremsten die Verteidigungsministerin aus. Die Bundeskanzlerin stellte sich im Wahlkampf 2017 zwar gegen die SPD, die das Festhalten am Zwei-Prozent-Ziel heftig kritisierte.
Aber auch ihre Formulierung war wenig entschieden: In Newport habe sich die Bundesregierung verpflichtet, „dass wir, wie alle anderen NATO-Mitgliedstaaten, bis 2024 unsere Verteidigungsausgaben in Richtung zwei Prozent entwickeln wollen“. Vor allem wegen mangelnder politischer Unterstützung wuchs der Verteidigungsetat nach 2014 nur ganz allmählich von 33,14 Milliarden Euro (1,15 Prozent des BIP) auf 46,93 Milliarden Euro (1,34 Prozent des BIP) im Jahre 2021. Die Planungen schritten zwar voran: Bis 2025 wollte man eine, bis 2027 zwei und bis 2032 drei kampfbereite Heeresdivisionen aufstellen. Allerdings war das mit den zur Verfügung stehenden Mitteln nicht zu erreichen. Hinzu kam eine „überbordende und alle Ansätze zu Veränderungen verschleppende Bürokratie“. Auch eine durchgreifende Modernisierung der Bundeswehr, etwa durch eine Ausstattung mit Drohnen, unterblieb wegen politischer Bedenken und Planungsmängeln.
Bis zum Beginn des umfassenden russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine am 24. Februar 2022 war daher nicht viel geschehen, sodass das Heer, nach den Worten von dessen Inspekteur Alfons Mais, „mehr oder weniger blank“ dastand. Die Ukraine konnte sich jedoch – entgegen weit verbreiteter Erwartungen – gegen die russischen Truppen behaupten, vor allem dank militärischer Unterstützung aus den USA in den vorangegangenen Jahren. Die Bundesregierung zog nunmehr die Konsequenzen, als Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) am 27. Februar im Bundestag von einer „Zeitenwende“ sprach, die Notwendigkeit unterstrich, die Ukraine zu unterstützen und Sanktionen gegen Russland zu verhängen, und ein Sondervermögen von 100 Milliarden Euro für die Bundeswehr und jährliche Zuwachsraten von mindestens zwei Prozent des BIP für die Verteidigung zusagte.
Ist Deutschland damit zurück auf dem Pfad, die für eine Macht seiner Größe postulierte Balance zwischen Militär- und Wirtschaftsmacht wiederherzustellen? Auch nach der Ankündigung von Bundeskanzler Scholz dauerte es noch bis zur Übernahme des Verteidigungsministeriums durch Boris Pistorius (SPD) im Jahre 2023, bis die Aufgabe, Deutschland wieder „kriegstüchtig“ zu machen, kommuniziert wurde. Deren Umsetzung kam indes langsam voran. Nach dem Regierungswechsel infolge der Bundestagswahl 2025 ist die politische Unterstützung für diese Linie deutlicher geworden; die praktischen Folgen sind allerdings immer noch überschaubar. Zudem hat sich die internationale Situation mit dem erneuten Amtsantritt von Donald Trump als US-Präsident im Januar 2025 zuungunsten Deutschlands gewandelt. Dessen Schlingerkurs im Hinblick auf die NATO und auf Russland hat die Anforderungen an Deutschland nochmals erhöht: sowohl hinsichtlich der Unterstützung der Ukraine als auch hinsichtlich der eigenen Aufrüstung. Überdies ist Deutschland wirtschaftlich – anders als in den vergangenen Jahren – nicht mehr auf Wachstumskurs. Ein Abstieg der „Zentralmacht Europas“ ist mithin nicht mehr ausgeschlossen.
IV. Deutschland als Führungsmacht in Europa?
Die Entwicklung der machtpolitischen Stellung Deutschlands in den vergangenen 35 Jahren lässt sich nicht auf eine einfache Formel bringen; das Gesamtbild ist zutiefst ambivalent. Einerseits spielt es in Europa eine herausgehobene, ja unverzichtbare Rolle; andererseits ist es aufgrund seiner militärischen Schwäche in der heutigen, von Kriegen geprägten Zeit auf Unterstützung von außen angewiesen.
Die Rolle Deutschlands ist, erstens, aufgrund seiner halbhegemonialen Stellung durch meist erfolgreiche Selbsteinbindung gekennzeichnet, die zwei Zwecken dient: Sie soll zum einen unguten Erinnerungen an das unilaterale Handeln der deutschen Großmacht vor 1945 entgegenwirken und zum anderen Koalitionen gegen Deutschland verhindern, die auch innerhalb der EU möglich sind. Dass Deutschland mehr Führungsmacht zeigte als vor 1990, wurde vor allem durch den von ihm bevorzugten multilateralen Handlungsrahmen meist verdeckt. Zweitens kam Deutschland aufgrund seiner herausgehobenen Machtstellung immer wieder eine Vermittlerrolle zu, sei es innerhalb der EU, sei es in der NATO, sei es im Beziehungsdreieck Washington-Berlin-Moskau. Drittens ist die Bundesrepublik – stets im multilateralen Zusammenhang – in die Rolle einer militärischen Interventionsmacht hineingewachsen. Damit tat sie sich in den frühen 1990er-Jahren sehr schwer, da ihre Streitkräfte eigentlich nur der Verteidigung dienen sollten.
Nach und nach nahm sie sich jedoch auch dieser neuen Rolle an und beteiligte sich im NATO- oder UN-Auftrag an internationalen Friedenssicherungs- und Kampfeinsätzen. Allerdings war sie bei Letzteren immer bestrebt, sich nicht zu sehr zu exponieren, und, wie etwa in Afghanistan, an weniger gefährlichen Brennpunkten eingesetzt zu werden. Das hing, viertens, auch mit der unzureichenden militärischen Unterfütterung der deutschen Machtstellung zusammen. So mussten etwa Personal und Material für die Auslandseinsätze aus bestehenden Einheiten zusammengeklaubt und die Bundeswehr in brenzligen Gefechtssituationen in Afghanistan von besser ausgestatteten US-Einheiten unterstützt werden. Doch das galt nicht nur im Kleinen – auch innerhalb der NATO war und ist die Bundesrepublik überwiegend ein Importeur und kein Exporteur militärischer Sicherheit. Dieses Manko, das angesichts eines scheinbar dauerhaften Friedens in Europa und stabiler transatlantischer Beziehungen wenig wog, ist nach den Angriffen Russlands auf die Ukraine seit 2014 und der unsicher gewordenen Unterstützung durch Washington seit 2025 unübersehbar geworden. Die Folgen des Strategiewechsels seit 2022 bleiben abzuwarten.
Inwieweit kann Deutschland in dieser äußerst komplizierten Situation weiterhin eine vermittelnde Rolle spielen? Es bringt zweifellos noch das nötige Gewicht auf, um als Moderator, gemeinsam mit anderen europäischen Staaten, den Zusammenhalt der EU zu sichern; ob dies auch im transatlantischen Zusammenhang gelingt, ist angesichts des sprunghaften amerikanischen Präsidenten weniger klar. Mit Blick auf Russland muss einstweilen die Wiederherstellung militärischer Stärke im Vordergrund stehen, wenngleich Deutschland für Verhandlungen offen bleiben sollte.
Zitierweise: Hermann Wentker, "Zwischen Wirtschafts- und Militärmacht. Das wiedervereinigte Deutschland in einer Welt im Umbruch (1990-2025)", in: Deutschland Archiv, 14.7.2025. www.bpb.de/563636. Alle Beiträge im Deutschland Archiv sind Recherchen und Sichtweisen der jeweiligen Autoren und Autorinnen, sie stellen keine Meinungsäußerung der Bundeszentrale für politische Bildung dar (hk).
Der Historiker Prof. Dr. Hermann Wentker leitet die Forschungsabteilung Berlin des Instituts für Zeitgeschichte München-Berlin. Er lehrt als Professor für Neuere und Neueste Geschichte an der Universität Potsdam, u.a. mit den Forschungsschwerpunkten Staat und Kirche in der DDR; Geschichte der Ost-CDU; Geschichte der Justiz in der SBZ/DDR und Außenpolitik der DDR.