„Mit euch hat das doch nichts mehr zu tun.“ Sätze wie dieser begegnen mir immer wieder im Gespräch mit Menschen aus meiner Elterngeneration – ostdeutscher und westdeutscher Herkunft. Gemeint ist: Wer um 1990 geboren wurde, sei von Teilung und DDR nicht mehr geprägt. Die in Magdeburg aufgewachsene Autorin Valerie Schönian schrieb vor fünf Jahren über ein Gespräch mit ihren Eltern zur Frage, was es bedeute, ostdeutsch zu sein: „(…) sie verweigern regelrecht die Antwort, weil sie bestreiten, dass das bei mir noch eine Rolle spielen würde.“ Doch stimmt das wirklich?
Auch alltägliche Begriffe werfen Fragen auf. Nehmen wir den Terminus „neue Bundesländer“: „Neu“ bezeichnet gemeinhin etwas, das erst kürzlich entstanden ist. Würde man eine 35 Jahre alte Bekanntschaft noch als „neu“ vorstellen, klänge das befremdlich. Was sagt es also über die Einheit aus, dass die ostdeutschen Bundesländer weiterhin so genannt werden? Die heute 30- bis 40-Jährigen kennen die Bundesrepublik nur in ihrer 16-Länder-Version. Als sie alt genug waren, sich mit Teilung und Einheit bewusst auseinanderzusetzen, waren die neuen Länder längst nicht mehr „neu“. An diesem Begriff zeigt sich beispielhaft, dass er die Perspektive der jungen Ostdeutschen eigentlich nicht widerspiegelt.
Im Zentrum steht hier eine Perspektive, die mehr Aufmerksamkeit in wissenschaftlicher und öffentlicher Auseinandersetzung mit diesem Themenkomplex verdient: die Perspektive der inzwischen herangewachsenen Generation von Ostdeutschen, die rund um die Wiedervereinigung geboren wurden. Es wird die These vertreten, dass diese Kohorte eine „Inselposition“ einnimmt: Sie ist nicht DDR-sozialisiert, aber auch nicht unberührt von den Transformationserfahrungen ihrer Eltern. Damit unterscheidet sie sich von älteren ostdeutschen Generationen, die die Deutsche Teilung miterlebt haben, aber auch von jüngeren Nachwendekindern, die die Umbruchszeit der Wiedervereinigung nur als Erzählung kennen. Es soll nachfolgend dargelegt werden, durch welche Merkmale sich diese Inselposition auszeichnet – im Hinblick auf die eigene ostdeutsche Identitätsbildung, das frühe Miterleben der Wendezeit, einer ambivalenten Solidarität mit den Eltern und der Rolle einer untergegangenen und doch noch präsenten DDR.
Die Perspektive der rund um 1990 geborenen Ostdeutschen eröffnet einen bislang wenig beachteten Zugang zur Nachwendezeit. Sie kann zeigen, wie heterogen ostdeutsche Sichtweisen sind, auch wenn sie durch einen gemeinsamen Erfahrungszusammenhang verbunden sind. Sie hilft auch zu verstehen, wie komplex der Vorgang der Deutschen Einheit ist und was die ostdeutsche Posttransformationsgesellschaft kennzeichnet. Auf diesem Gebiet weitere Erkenntnisse zu gewinnen, ist wissenschaftlich und gesellschaftlich relevant: Der Ost-West-Diskurs rauscht im Hintergrund vieler Debatten mit. Wird er besser verstanden, kann dies einen wichtigen Beitrag zur innerdeutschen Verständigung leisten und neue Reflexionsräume eröffnen.
Da es nur wenige umfassende Datenerhebungen zu dieser ostdeutschen Alterskohorte gibt, greife ich zur Veranschaulichung auch auf persönliche Beispiele zurück. Künftige Datenerhebungen zu diesem Thema bleiben für repräsentative Ergebnisse jedoch notwendig.
Generation Einheit? Über die Suche nach einem Begriff für die um 1990 Geborenen
Ein erstes Problem zeigt sich bereits zu Beginn: Für zwischen 1986 und 1994 in der DDR beziehungsweise Ostdeutschland Geborene existiert bislang kein etablierter Terminus. Ursprünglich sollte es in diesem Text um die „Generation Y Ost“ gehen – was auch ein lohnenswertes Unterfangen sein kann. Unter Generation Y werden die Jahrgänge 1980 bis 1995 gefasst. Für die eigene Perspektive kann es aber einen erheblichen Unterschied machen, ob man die Dynamik der Wendezeit und der frühen 1990er-Jahre im Osten als Zehnjährige bewusst oder als Säugling vorsprachlich miterlebte oder ob Kindheitserfahrungen teilweise noch in der DDR oder ausschließlich in der wiedervereinigten Bundesrepublik erinnert werden.
Auf ähnliche Weise sind in diesem Themenfeld bereits verschiedene Termini für bestimmte Kohorten vorgeschlagen worden. So werden zum Beispiel Ostdeutsche, die zwischen 1975 und 1985 geboren wurden, als „Wendekinder“, manchmal auch als „Generation 89“ oder „Dritte Generation Ost“ bezeichnet. Der Journalist und Autor Johannes Nichelmann findet für die darauffolgende Generation den Begriff der „Nachwendekinder“ und meint damit Menschen, die zwischen 1985 und 1992 geboren sind . Andere verstehen unter der Bezeichnung „Nachwendekinder“ Menschen, die keine bewusste Erinnerung an die DDR haben oder nach der Wende geboren wurden – eine Definition, die auch Personen der Generation Z einschließt. So beschreibt sich die 1997 geborene Elisabeth Winkler, eine Autorin des Mitteldeutschen Rundfunks (MDR), explizit als „Nachwendekind“. Der Terminus ist also nicht einheitlich definiert und muss dies auch nicht sein – er eignet sich damit jedoch nicht als spezifische Bezeichnung für die um 1990 geborenen Ostdeutschen.
Es wird daher der Begriff „Generation Einheit“ vorgeschlagen, der zwischen 1986 und 1994 geborene Ostdeutsche bezeichnet. Es geht also um diejenigen, die keine bewusste Erinnerung an die DDR haben, um die Wiedervereinigungszeit geboren wurden und die Transformationsdynamik der frühen 1990er-Jahre im vorsprachlichen Alter miterlebt haben.
Die Generation Einheit kann sich damit als Teil der Nachwendegeneration oder Generation Y Ost einordnen, lässt sich aber durch ihre spezifische Prägung gesondert eingrenzen. Kritisch ließe sich einwenden, ob nicht auch um 1990 in Westdeutschland Geborene zur Generation Einheit gehören? Es soll hier jedoch um eine Alterskohorte gehen, die zu Beginn ihres Lebens in massiver Weise, vermittelt über Eltern und Umfeld, von den Transformationserfahrungen der Wiedervereinigung geprägt wurde – und die sich damit von westdeutschen Gleichaltrigen unterscheidet, die in einem von Kontinuität geprägten nationalen Rahmen aufwuchsen.
Wer aber sind Ostdeutsche? Steffen Mau beschreibt sie als Personengruppe, die durch einen mindestens teilweise (und auf verschiedene Weise und Stärke) identitätsprägenden Erfahrungszusammenhang verbunden ist und damit sowohl Menschen mit DDR-Erfahrung als auch verschiedene Jahrgänge ab 1989/90 einschließt. ). „Ostdeutschland“ wird hier verstanden als die fünf ostdeutschen Bundesländer, die am 3. Oktober 1990 entstanden sind. Mit Ostdeutschland ist also hier explizit nicht die DDR gemeint. Diese begriffliche Trennung ist entscheidend: Sie ermöglicht die Einbeziehung der Nachwendekinder und damit auch der Generation Einheit, da diese sich oft losgelöst von der DDR auf den Osten beziehen.
Der Begriff „Generation Einheit“ versteht sich jedoch nicht als abschließende Festlegung, sondern als heuristische Kategorie. Er soll sichtbar machen, dass sich innerhalb der Nachwendegeneration unterschiedliche Formen des Miterlebens und Ausgesetztseins gegenüber Transformationserfahrungen unterscheiden lassen. Besonders an dieser Kohorte wird deutlich, wie die Begriffe DDR und Ostdeutschland in der sozialen Praxis unterschiedliche Bedeutung annehmen – und dass ostdeutsche Zugehörigkeitsgefühle auch ohne eigene DDR-Erinnerung entstehen können.
Nachdem die begrifflichen Grundlagen und Abgrenzungen geklärt wurden, stellt sich nun die zentrale Frage, wodurch sich Generation Einheit auszeichnet. Im Folgenden soll daher untersucht werden, welche spezifischen Erfahrungen und Dynamiken diese Kohorte prägen. Den Anfang macht die Beobachtung, dass ostdeutsche Selbstzuschreibungen bei den um 1990 Geborenen in vielen Fällen erst im Erwachsenenalter auftreten und damit eine verspätete, aber umso bewusstere Auseinandersetzung mit Herkunft und Zugehörigkeit kennzeichnen.
Die Spezifik der Generation Einheit
Das Adjektiv „ostdeutsch“ scheint in der Nachwendegeneration noch bedeutsamer geworden zu sein, während es für Westdeutsche der Generation Y offenbar immer unbedeutender wird. Ein „kollektives ostdeutsches Wir“ scheint sich erst mit Ende der DDR verfestigt zu haben. Die Identifikation als „ostdeutsch“ kann also als Nachwendephänomen bezeichnet werden – und betrifft die Generationen mit und ohne DDR-Erfahrung gleichermaßen.
1. Warum Ostdeutschland für die Generation Einheit erst im Erwachsenenalter bedeutsam wird
Es lassen sich zwei Katalysatoren für eine verstärkte ostdeutsche Selbstzuschreibung feststellen: erstens eine westdeutsche Vergleichsperspektive, auf die Bezug genommen werden kann, zweitens wahrgenommene Abwertungen, Pauschalisierungen oder Zuschreibungen in Bezug auf Ostdeutschland und Ostdeutsche, die eine Identifikation als ostdeutsch verstärken können. Mau zieht hier Parallelen zu migrantischen Gruppen: Auch dort nimmt die zweite und dritte Generation Benachteiligungen deutlicher wahr, akzeptiert sie weniger und bezieht sich zur Identitätsbildung stärker auf das Herkunftsland. Die Besonderheit für die um 1990 geborenen Ostdeutschen besteht darin, dass sie als erste Nachwendekohorte mit Fremdzuschreibungen und Vergleichen konfrontiert werden, die sie ohne persönliche Teilungserfahrung einordnen müssen.
Die westdeutsche Referenz und wahrgenommene Fremdzuschreibungen können in der medialen Darstellung Ostdeutschlands bedeutsam werden, aber auch in persönlichen Interaktionen, in denen Unterschiede hervortreten.
Mediale Darstellung Ostdeutschlands
Analysen haben verdeutlicht, dass die Berichterstattung über Ostdeutschland bis heute wenig ausdifferenziert ist. Sie stellt den Osten häufig stereotyp und als Problemfall dar, „(…) weniger als vielfältige Lebens- und Alltagswelt wie die Regionen Süd-, Nord- oder Westdeutschlands“. Schlagworte wie „Rechtsextremismus", „Machtlosigkeit", „Rückgang und Mangel" sowie „Protest" prägen diese Darstellungen. Im Weiteren erfolgt die Berichterstattung nicht kontinuierlich über das Jahr verteilt, sondern vor allem zum Jahrestag der deutschen Einheit sowie zu Wahlereignissen. Dies könne darauf hindeuten, „dass spezifisch ostdeutsche Themen und Eigenheiten medial nur dann gesehen werden, wenn sie besonders laute oder besonders drastische Formen annehmen und damit quasi unübersehbar werden“.
Dass sich diese klischeehaften Bilder so gut halten, hänge auch damit zusammen, dass viele Westdeutsche zu wenig über den Osten wüssten. Für Ostdeutsche aller Generationen kann eine solche Darstellung irritierend wirken – für Nachwendegeborene aber womöglich besonders: Sie sind in einem ost-bundesrepublikanischen Alltag aufgewachsen und verstehen nicht, warum ihre Lebenswelt bis heute auf einseitige Attribute reduziert wird.
Ein genauerer Blick auf diese beiden Katalysatoren ostdeutscher Selbstzuschreibungen –westdeutsche Referenz und Fremdzuschreibungen – verdeutlicht einen wichtigen Punkt: Die Auseinandersetzung mit dem Ostdeutschsein ist eng mit dem Alltag verwoben. Dabei geht es nicht ausschließlich um abwertende oder normativ geprägte Erfahrungen, sondern auch um „neutralere“ oder sogar positiv erlebte deutsch-deutsche Interaktionen, die eine ostdeutsche Selbstverortung anregen können. Dies zeigt sich exemplarisch auf den Ebenen von Sprache und Kultur.
Das sprachliche und kulturelle Hintergrundrauschen der deutschen Teilung
Menschen mit ostdeutscher oder DDR-Herkunft sind untereinander oder für andere Personen insbesondere über ihre Sprache erkennbar (wobei sich hier auf Worte, nicht auf Dialekte bezogen wird). Während meines Studiums in einer ost-westdeutsch gemischten WG bat ich meine Mitbewohnerin einmal, mir „Fit“ zu reichen – unser Geschirrspülmittel. Sie schaute irritiert und fragte: „Was ist denn Fit?“ Mir wurde erst in diesem Moment bewusst, dass es sich um eine ehemalige DDR-Marke handelte, die ihr völlig unbekannt war. Ähnlich verhält es sich mit kulturellen Praktiken. Lieder wie „Sind die Lichter angezündet“ oder „Weil heute dein Geburtstag ist“ sind in der DDR entstanden und bis heute vor allem in Ostdeutschland beliebt, in Westdeutschland eher unbekannt – das war mir lange nicht bewusst.
Diese Beispiele zeigen, dass Menschen der Generation Einheit im Gegensatz zu älteren Ost- und Westdeutschen die Deutsche Teilung auf Ebene von Sprache und Kultur erst nachträglich und stückweise bewusster verstehen. Man kann von einem „nachträglichen Teilungserleben“ sprechen. DDR, Deutsche Teilung und Wiedervereinigung scheinen für sie mehr oder weniger unbewusst nebenher mitzulaufen, als Hintergrundrauschen. Sie werden durch Einzelerlebnisse oder Irritationen immer wieder bedeutsam. Eine bewusste Auseinandersetzung mit der Bedeutung dieses Themenkomplexes findet, wenn überhaupt, erst im Erwachsenenalter statt. In Öffentlichkeit und Forschung wird diese Erfahrung bislang kaum berücksichtigt.
Auf kultureller Ebene kann dies weitere Punkte betreffen, etwa in Bezug auf Geschlechterrollen und Einstellungen zu weiblicher Erwerbstätigkeit. Eine Alterskohorten-differenzierte Erforschung kultureller Einstellungen in Ostdeutschland kann helfen, die Erkenntnisse auf diesem Gebiet auszuweiten.
Erinnerungskultur zwischen westlicher Deutung und ostdeutscher Selbstsicht
Besonders hervorzuheben ist an dieser Stelle die Wahrnehmung der Erinnerungskultur an die DDR durch Generation Einheit. Um das theoretisch einzuordnen, lohnt ein Blick auf das durch den Potsdamer Historiker Martin Sabrow vorgeschlagene Modell der Erinnerungslandschaften zur DDR: das Diktaturgedächtnis, das Arrangementgedächtnis und das Fortschrittsgedächtnis.
Alle drei rücken unterschiedliche Perspektiven auf die DDR in den Vordergrund. Die bisherige Erinnerungskultur wurde stark durch den Fokus auf die Repression durch die SED (Diktaturgedächtnis) geprägt. Dabei wurde klar zwischen Opfern und Tätern getrennt, die vielseitigen und oft uneindeutigen Perspektiven auf das Leben in der DDR wurden nicht sichtbar. Jedoch sei derzeit ein „vorsichtiger Wandel“ zu Erinnerungsformen erkennbar, die eher dem Arrangementgedächtnis zuzuordnen sind, die also zwischen eigenen Lebenserfahrungen und repressivem Staatsapparat unterscheiden.
Die Vielfalt der Leben in der DDR, in Konflikt mit dem Staat oder nicht oder teilweise, in Nischen, als Person des öffentlichen Lebens, mit Westverwandtschaft oder ohne und so weiter konnte auf diese Weise nicht Teil der Erinnerungskultur werden. Eine Erinnerungskultur, die Raum für Widersprüche und uneindeutige Perspektiven lässt, muss jedoch nicht zwangsläufig zu Ostalgie oder zur Verharmlosung der Diktatur und ihrer Verbrechen führen, sondern kann einen Beitrag zum Verstehen des komplexen Themenfeldes der Deutschen Teilung und Einheit leisten – nicht nur in der Wissenschaft, sondern für alle Menschen, die in Deutschland leben, unabhängig von ihrer Herkunft. Um sich vor einem einseitigen Blick zu bewahren, ist es daher bedeutsam, dass individuelles Erleben immer in den Gesamtkontext eingebettet wird: „Was auch immer der Einzelne in der DDR als positiv wahrgenommen (...) haben mag, es funktionierte nur im Rahmen eines extrem unfreiheitlichen und antidemokratischen Systems“. Und: „Jede Gesellschaft muss sich daran messen lassen, wie sie mit den Schwachen, den Rändern, den Ausgegrenzten (…) umgeht.“
Die Betrachtung der Vielfalt der Leben in der DDR unter steter Einbeziehung dieses Gesamtkontextes kann zu einem ausdifferenzierten Blick führen, der nicht zur Verharmlosung des durch die DDR begangenen Unrechts führt.
Die Art, wie sich die Familie an die DDR erinnert, ist für Generation Einheit ein wichtiger Bezugspunkt. So kann es irritierend sein, zu Hause positiv geprägte oder sogar idealisierte Darstellungen der DDR zu hören und in Schulen, Museen oder Medien fast ausschließlich aus der Perspektive des untergegangenen, gescheiterten Staatssystems und seiner Verbrechen darauf zu blicken. Zusätzlich können innerhalb einer Familie sehr unterschiedliche Bewertungen der DDR bestehen und im Gespräch mit dem erweiterten Umfeld (zum Beispiel Lehrkräften, Bekannten, Eltern von Freundinnen) treten weitere Perspektiven hinzu. Johannes Nichelmann fasst dies so zusammen: „Insgesamt habe ich das Gefühl, dass die DDR entweder ein vierzig Jahre lang andauernder Sommerausflug an den See oder ein niemals enden wollender Aufenthalt im Stasi-Knast war. Es kommt immer darauf an, wen man fragt.“
Die Generation Einheit steht nun vor der Herausforderung, die eigene Position zwischen den verschiedenen im Privaten und in der Öffentlichkeit wahrnehmbaren Erinnerungsformen zu finden. Dabei könnte gerade ihre Inselposition ein hohes Maß an Ausdifferenzierung zur Erinnerung an die DDR (im Übrigen auch an die alte Bundesrepublik) ermöglichen. Ob und wie die von Sabrow beschriebenen Erinnerungslandschaften in dieser Kohorte verankert sind, bleibt eine wichtige Frage für die künftige Forschung. Begegnungen mit verschiedenen Erinnerungsperspektiven können auch Irritationen im deutsch-deutschen Gespräch hervorrufen. Wenn ein westdeutscher Gesprächspartner die DDR ausschließlich durch das Diktaturgedächtnis betrachtet und eine ostdeutsche Gesprächspartnerin eher mit einer Arrangementsicht argumentiert, können Missverständnisse und Irritationen entstehen.
Hier treten wieder die Aspekte der westdeutschen Referenz und gegebenenfalls wahrgenommene Fremdzuschreibungen auf, die zu ostdeutschen Selbstzuschreibungen führen können. Dabei sind die Nachwendekinder dem innerdeutschen Ost-West-Diskurs am längsten, nämlich seit Beginn ihres Lebens, ausgesetzt. Darin könnte laut Mau auch ein Grund dafür liegen, dass in dieser Generation Unterschiede zwischen Ost und West stärker wahrgenommen werden als in anderen Alterskohorten.
Es wird deutlich, dass die Generation Einheit auch ohne eigene DDR-Sozialisation von den Nachwirkungen der Teilung und Wiedervereinigung geprägt ist. Ihre Inselposition zeichnet sich dadurch aus, dass sie erst im Erwachsenenalter das Hintergrundrauschen der DDR bewusst wahrnehmen und einordnen kann. Dabei kommt es häufig, befördert durch Referenzpunkte zu Westdeutschland und wahrgenommene Fremdzuschreibungen, zur Ausbildung einer ostdeutschen Selbstzuschreibung. In diesem Prozess müssen sie jedoch ihren eigenen Weg finden, der sie von älteren Ostdeutschen und von ihrem westdeutschen Pendant unterscheidet. In diesem Merkmal grenzt sich Generation Einheit nur marginal von jüngeren Nachwendekindern ab. Ihre Perspektive hilft auch zu verstehen, wie Erinnerungskulturen weitergegeben werden und sich über die Zeit entwickeln – auch im Spannungsfeld von familiärer Sozialisation und medial vermittelten Narrativen.
2. Eine Kindheit in der Transformationsgesellschaft
Was heißt es eigentlich, im Osten der 1990er-Jahre aufgewachsen zu sein? Auf diese Frage gibt es so viele Antworten, wie es Betroffene gibt. Dennoch lässt sich vermuten, dass die Kindheit der Generation Einheit durch Merkmale geprägt war, die sie von anderen Kohorten unterscheiden. Generation Einheit ist in einer (Post-)Transformationsgesellschaft aufgewachsen. Doch was bedeutet das?
Der Politikwissenschaftler Everhard Holtmann beschreibt den Verlauf ab der Wendezeit mithilfe des Pfadmodells aus dem Historischen Institutionalismus. Die Zeit ab 1989/1990 stellt zunächst eine Phase der Transition dar: einen „unmittelbaren, abrupten Übergang vom alten zum neuen System“, in den Akteure und Institutionen in West- und Ostdeutschland (und verbündeter Länder) eingebunden waren. Der Soziologe Wolfgang Engler spricht aufgrund der hohen Geschwindigkeit des Prozesses auch vom „Hechtsprung in die Einheit“. Mit dem formalen Akt der Wiedervereinigung am 3. Oktober 1990 beginnt eine Transformationsphase: Was zuvor „freihändig“ und unter Inkaufnahme von Risiken gelöst wurde, wird nun zunehmend in Recht übersetzt. Einrichtungen des alten Systems werden abgewickelt, Verantwortungen und Zuständigkeiten verschieben sich. Daran schließt sich eine Phase der Posttransformation an. Einerseits kehrt eine gewisse Normalität ein, andererseits bleibt der Umgang mit Unsicherheiten eine Daueraufgabe. Immer weniger sind dabei Faktoren aus der Zeit vor der Transition bedeutsam, sondern vielmehr Folgeerscheinungen des Transformationsprozesses. Den Beginn dieser Phase würde ich um das Jahr 2000 verorten.
Die Generation Einheit wird rund um die Phase der Transition geboren und erlebt ihre frühe Kindheit in der Transformations- und ihre Jugend und das junge Erwachsensein in der Posttransformationsphase. Nachfolgend möchte ich versuchen, diese Kindheit im Osten der 1990er-Jahre mit einigen Stichworten einzuordnen – auch wenn eine genauere wissenschaftliche Betrachtung notwendig bleibt:
In den 1990er-Jahren im Osten aufzuwachsen, konnte heißen, von Beginn des Lebens an der Aufregung, Verunsicherung, auch der Ängste oder dem Ärger, aber auch großer Freude, Erleichterung oder intensiven Diskussionen zur Einheit ausgesetzt gewesen zu sein – die ganze Bandbreite an menschlichen Reaktionen und Gefühlen, die eine so große Transformation mit sich bringt. Dabei fällt die Zeit des „akuten Umbruchs“ in das vorsprachliche Alter vieler aus der Generation Einheit. Sie wirkte sich also aus, ohne dass sie sprachlich erinnert werden kann.
Wie junge Kinder diese und die weitere Zeit der 1990er-Jahre erlebt haben, kann nur in einer intersektionalen Perspektive verstanden werden: Es hing davon ab, wie die Familie mit der Wiedervereinigung zurechtkam, welche Einstellung sie zu ihr hatte und wie sie zuvor in der DDR gelebt hatte. Unterschiedlich konnte es sich auswirken, ob eine Familie in der Stadt oder auf dem Land lebte, in einer durch die Teilung getrennten Familie oder nicht, mit geschiedenen oder alleinerziehenden Elternteilen oder in welcher sozialen Position sie sich in der DDR befand, um nur einige Faktoren zu nennen.
Für manche Familien eröffneten sich mit der Einheit Optionen, die zuvor unerreichbar waren – eine bestimmte Ausbildung, freies Reisen, das Wiedersehen lang vermisster Verwandter. Für andere standen zunächst Existenzfragen im Vordergrund: Der Verlust der bisherigen Erwerbstätigkeit oder die Notwendigkeit von Umschulungen oder einer neuen Ausbildung, um sich auf dem Arbeitsmarkt zu behaupten. Beide Wahrnehmungen konnten auch bei derselben Person nebeneinander bestehen und im zeitlichen Verlauf mehrfach in den Vorder- oder Hintergrund rücken. Die Deutsche Einheit hat als komplexes soziales Phänomen ebenso komplexe, nicht widerspruchsfreie und uneindeutig wahrgenommene Auswirkungen auf die einzelnen Betroffenen. Diese sollten in Zukunft noch genauer erforscht werden.
Ein kurzer Exkurs verdeutlicht den Zäsurcharakter der Wiedervereinigung aus ostdeutscher Perspektive. Es handelte sich nicht nur um die Notwendigkeit, sich neu zu orientieren – ein Unterfangen, für dessen Erfolg auch das Alter der Betroffenen, also der Eltern und Großeltern der Generation Einheit, von großer Bedeutung war. Die Wiedervereinigung hatte für viele Ostdeutsche einen alle Lebensbereiche umfassenden Zäsurcharakter.
In Bezug auf den Aufbau des Berufslebens lag der Bruch bei einigen darin, dass ihre in der DDR absolvierte Ausbildung nicht vollständig anerkannt wurde oder der Berufszweig nicht mehr existierte oder es nicht genug Nachfrage gab. Es hat sich bei einigen zu der Zeit mitunter das Gefühl eingestellt, nicht mehr gebraucht zu werden oder gute Leistungen in Ausbildung und Beruf nicht anerkannt zu sehen. Zudem war das soziale Leben in der DDR hauptsächlich über den Betrieb organisiert, sodass die Wiedervereinigung für viele auch mit einer nachhaltigen Veränderung ihres sozialen Netzes einherging. Die demokratische, rechtsstaatliche Gesellschaftsform und die kapitalistische Wirtschaftsweise stellten zusätzliche neue Rahmenbedingungen dar.
Die Wiedervereinigung erfolgte auch vor dem Hintergrund eines globalen Strukturwandels: Mit dem Ende des Kalten Krieges wurde die ostdeutsche Gesellschaft unmittelbar Teil globalisierter Marktlogiken.
Die Eltern der Generation Einheit befanden sich also mitten in einer ihr gesamtes Leben betreffenden Zäsur und zusätzlich mit Säuglingen/Kleinkindern in einer der forderndsten Phasen der Elternschaft. So verankerte die Wiedervereinigung dauerhaft ein „Davor“ und ein „Danach“ im Leben der Betroffenen. Dieser umfassende Umbruch unterscheidet Ostdeutsche bis heute von in Westdeutschland aufgewachsenen Menschen. Diese konnten zwar auch den Mauerfall und die Wiedervereinigung zum Teil als Einschnitt erleben (zum Beispiel durch regionale Nähe), waren aber überwiegend keinem Bruch in der Kontinuität ihres Alltags ausgesetzt. Anders ausgedrückt: Für 60 Millionen Menschen war der 4. Oktober 1990 ein Donnerstag, für 16 Millionen Menschen die größte Zäsur ihres Lebens.
Einen Eindruck der Jahre 1989/1990 vermittelt das Lied „Babelsberch 14482“ (Schabulke und das Trio Ungefair), das um die Jahrtausendwende geschrieben wurde:
„(…) Im Nachbarhaus ham se schon neue Fenster Jefliestet Bad mit warmet Wasser aus de Wand Janz neue Leute sind jetzt injezogen Vorher hat die keener hier jekannt (…)
Wenn’s bei uns mal losjeht mit die Sanierung Hab ick so vülle nich davon Denn is hier Pumpe mit de Hauptstadtfinanzierung Pack ick meene Sachen, und zieh trotzdem nich nach BONN“
Solche musikalischen Zeugnisse fangen die Atmosphäre der frühen 1990er-Jahre ein – eine Mischung aus Aufbruch, Unsicherheit und sozialem Wandel. Nach dieser Phase entwickelten sich Lebensgeschichten in ganz unterschiedliche Richtungen: Einige Familien zogen in ein westdeutsches Bundesland, andere blieben und wurden erfolgreich in einem neuen Tätigkeitsfeld, wieder andere gingen von Umschulung zu Umschulung und fanden nicht raus aus der Arbeitslosigkeit. Der Vorruhestand wurde vielfach als Mittel zum Personalabbau genutzt.
Die gesellschaftliche Transformation ist bis in die Gegenwart in ostdeutschen Regionen wahrnehmbar und findet bis heute auch Ausdruck in der Musik. So heißt es im Song „Wo niemals Ebbe ist“ aus dem Jahr 2018 von Feine Sahne Fischfilet:
„Überall steht ‚zu vermieten‘ drauf; gegenüber macht ’ne Spielo auf“.
Das Lied verbindet eine Hommage an die Ostsee mit einer soziologischen Miniatur Mecklenburg-Vorpommerns. Auch die „Mecklenburg-Vorpommern-Hymne“ betont in Strophe 3 die Veränderung:
„(…) Zu neuem Leben sind wieder erwacht Glanz der Städte und der Schlösser Pracht. (…)“
Beide Beispiele zeigen: Die Transformation bildet ein dauerhaftes Hintergrundrauschen, das sich hier beispielhaft in der Musik zeigt und mal einen kritischen, mal einen positiven Unterton erhält. Noch ist kaum erforscht, wie das frühe Miterleben dieser Umbruchserfahrungen die Generation Einheit geprägt hat. Sicher aber lässt sich sagen: Bei ihr kann es Stirnrunzeln hervorrufen, wenn in deutsch-deutschen Interaktionen die Transformationsleistung der Ostdeutschen unsichtbar bleibt oder mit Desinteresse quittiert wird.
Die Generation Einheit ist als erste ostdeutsche Kohorte von Geburt an mit der deutschen Einheit und ihren Umbrüchen konfrontiert gewesen. Jüngere Nachwendejahrgänge wuchsen in einem Ostdeutschland der Posttransformation auf, das bereits stärker von Normalität geprägt war. Damit kann die Perspektive der Generation Einheit aufzeigen, wie unterschiedlich Transformationen über Generationen hinweg wirken. Sie erlebte die Transformation zunächst aus der Position von Kindern, deren Alltag stark durch die Unsicherheiten, Hoffnungen und Brüche der Eltern geprägt war.
Zwar konnten sie die Einheit sprachlich noch nicht erfassen, doch die Spannungen und Veränderungen ihrer Umgebung wirkten unausweichlich auf ihre Sozialisation. Anders als westdeutsche Gleichaltrige wuchs Generation Einheit damit in einem Umfeld auf, in dem die Frage nach Neubeginn, Verlust und Anpassung ständige Begleiter waren. Für sie war die Erfahrung von Wandel nicht eine Episode, sondern der Normalzustand ihrer Kindheit und Jugend. Es bleibt zu analysieren, wie sich das genau auf die Biografien der ersten Nachwendekohorte ausgewirkt hat. Im Zeitverlauf löste das Miterleben der Transformationsleistung der Eltern häufig solidarische Gefühle aus.
3. Ambivalente Solidarität und der Einfluss der Ostdeutschlanddebatten
Daniel Kubiak zeigt in seiner Studie zu deutsch-deutschen Identitäten, dass junge Ostdeutsche einerseits eine hohe Solidarität mit ihren Eltern in Bezug auf die Herausforderungen der Wendezeit empfinden, es andererseits aber ablehnen, sich dabei in Ostalgie zu verlieren. Vielmehr überwiegt ein kritischer Blick auf das ehemalige System. Kubiak spricht daher von einer „ambivalenten Solidarität“ der Nachwendegeneration mit ihren Eltern. Mau stellt ebenfalls eine „Nachsicht der Jüngeren“ fest. Diese erkläre sich zum einen dadurch, dass die ehemaligen Eliten der DDR, im Gegensatz zum Generationenkonflikt der 68er-Jahre, bereits zur Seite getreten waren. Andererseits musste Generation Einheit im Kindes- und Jugendalter miterleben, welchem Stress und welchen Krisen auf ökonomisch-finanzieller und politisch-ideologischer Ebene ihre Eltern ausgesetzt waren.
Man kann etwas weitergehend von einer Solidarität mit der Eltern- (und Großeltern-)generation sprechen. So berichtete mir zum Beispiel eine verbeamtete Person, die Wiedervereinigung habe für sie persönlich erst 2010 stattgefunden, als ihre Besoldung erstmals vollständig an das Westniveau angepasst war (die Besoldung wurde zuvor stufenweise angeglichen).
Solche Erzählungen können die Wahrnehmung sozialstruktureller Unterschiede zwischen West und Ost verstärken. Aber auch sozialwissenschaftliche Datenerhebungen weisen auf bestehende Differenzen hin: Ostdeutsche Löhne liegen derzeit rund 16 Prozent unter den westdeutschen, das durchschnittliche Vermögen ostdeutscher Haushalte beträgt weniger als die Hälfte ihrer westdeutschen Pendants: „In Hamburg wurden 2022 pro Person (…) 1.424 Euro steuerpflichtiges Vermögen vererbt oder verschenkt (…), in Sachsen-Anhalt waren es 65 Euro. In Hamburg wurde pro Person also rund 22-mal so viel steuerpflichtiges Vermögen vererbt oder verschenkt wie in Sachsen-Anhalt.“
Durch die unterschiedlich starke Vermögensvererbung verstetigt sich die Bedeutung der innerdeutschen Herkunft auch für künftige Generationen. „Der Gesamtanteil Ostdeutscher in den Eliten betrug Mitte der 1990er-Jahre 5 bis 7 Prozent (…) und betrug zuletzt (2022) 12 Prozent. Damit sind Ostdeutsche seit Anfang der 1990er-Jahre signifikant unterrepräsentiert, obwohl sich ihr Anteil in den vergangenen 20 Jahren annähernd verdoppelt hat.“ Bei vielen sozialstrukturellen Analysen ist in der grafischen Darstellung die ehemalige innerdeutsche Grenze also bis heute gut sichtbar und erregt so auch die Aufmerksamkeit der Nachgeborenen. Diese „Phantomgrenze“ deutet an, dass sich kulturelle, sozioökonomische und politische Unterschiede zwischen Ost und West sogar verhärten können, anstatt zu verschwinden.
Wie oben dargestellt, beziehen sich Nachwendekinder losgelöst von der DDR auf Ostdeutschland. Wenn sie sozialstrukturelle Ungleichheiten oder von den Eltern geschilderte Benachteiligungen als ungerecht wahrnehmen, kann das solidarische Gefühle auslösen, die jedoch nicht zu einer nostalgischen Verklärung der DDR führen. In dieser Ambivalenz aus Loyalität und kritischer Distanz wird der Inselcharakter der Generation Einheit besonders erkennbar.
In der Wahrnehmung der Ostdeutschlanddebatten sind zugleich kleinere Unterschiede innerhalb der Nachwendegeneration zu vermuten. Jüngere Nachwendekinder wachsen mit einer medial geprägten Ostdeutschlanddebatte auf, die sich seit den 1990er-Jahren stark gewandelt hat: Während die Unterschiede zwischen Ost- und Westdeutschland in der Berichterstattung anfangs weniger sichtbar waren, entwickelte sich ab den 2000er Jahren ein neues „Ostbewusstsein“ – begleitet von einem Höhepunkt der Ostalgie, aber auch von wachsenden negativen Zuschreibungen. Ab 2015 verknüpfen Medien Ostdeutschland zunehmend mit Themen wie Fluchtmigration, rechten Bewegungen und Unterrepräsentation.
Wie bereits erwähnt, ist ab den späten 2010er-Jahren zudem eine beginnende Verlagerung vom Diktatur- zum Arrangementgedächtnis zu beobachten, wobei dem Internet und den sozialen Medien eine wichtige Rolle zukommt. Jüngere Nachwendegeborene beginnen daher vermutlich bereits im Jugendalter damit, sich mit ihrer ostdeutschen Herkunft auseinanderzusetzen, werden dabei aber auch von den Algorithmen und Eigenheiten sozialer Medien geprägt. Generation Einheit erlebt demgegenüber die Wirren der Wiedervereinigung frühkindlich mit und erfährt erst im Erwachsenenalter ein allmähliches, nachträgliches Teilungserleben. Dabei könnte auch der unterschiedliche Umgang von Generation Y und Z mit sozialen Medien eine Rolle für ihre Auseinandersetzung mit ihrer ostdeutschen Herkunft spielen. Inwieweit sich die Wahrnehmungen der Ostdeutschlanddebatte auch auf die Entwicklung solidarischer Gefühle bei den Nachwendekohorten auswirken, ist bislang unerforscht.
Während zwischen Generation Einheit und jüngeren Nachwendekindern bezüglich dieses Aspekts nur kleinere Unterschiede vermutet werden, kann es sich lohnen, das Verständnis und die Bewertung von DDR und Bundesrepublik (alt und wiedervereinigt) und somit auch solidarische Gefühle der verschiedenen Nachwendekohorten zu untersuchen – zum Beispiel in Abgrenzung zur Dritten Generation Ost, die die DDR im Kindesalter noch kennengelernt hat. Die Ausdifferenzierung der Alterskohorten verspricht ein besseres Verständnis der ostdeutschen Posttransformationsgesellschaft, in der die Nachwendegeborenen eine eigene Bewertungslogik für die DDR entwickeln.
DDR und Wiedervereinigung sind für Generation Einheit jedoch nicht nur historische Erfahrungen der Elterngeneration. Vielmehr sind sie in unterschiedlicher Form bis heute in ihrem Alltag präsent und wirken damit auch auf ihr eigenes Selbstverständnis.
4. Prägung ohne Erinnerung: Wie DDR und Transformation das Selbstverständnis der Generation Einheit beeinflussen
Es wurde bereits erläutert, dass die DDR (und damit auch die Wendezeit) wie ein Hintergrundrauschen das Leben der Generation Einheit begleitet – zum Beispiel auf der Ebene von Sprache und Kultur. Damit erhalten DDR und Transformation eine gewisse Präsenz, deren Entstehung sich in unterschiedlichen Dimensionen beobachten lässt.
Biografische Umbruchspräsenz
Die Generation Einheit hat erstens die Wende- und/oder Transformationszeit in Bezug auf die allumfassende Betroffenheit ihrer Eltern (und anderer Erwachsener in ihrer Umgebung) in sehr jungem Alter miterlebt, gegebenenfalls ohne dass das jemand für sie eingeordnet hat. Auch wenn dies verschiedene und unterschiedlich stark prägende Eindrücke bei jeder einzelnen Person hinterlassen haben mag und mögliche Auswirkungen nicht erforscht sind, unterscheidet sie dieses frühe Miterleben von westdeutschen Gleichaltrigen.
Familiäre Umbruchspräsenz
In vielen Familien spielten und spielen Erinnerungen an die DDR, ihre Bewertung und die Erzählungen der Wendezeit eine prägende Rolle. Die DDR erscheint dabei nicht nur als fremde und abstrakte Diktatur, sondern auch als Alltagswelt oder Heimat – Eltern berichten etwa von Schule, erster Liebe oder beruflichen Erlebnissen. Haben Eltern politische Verfolgung erfahren, wirkt dies durch das erfahrene Unrecht noch stärker nach. In jedem Fall bleibt die DDR im Alltag vorhanden. Dabei können Möbelstücke, Geschirr oder Kleidung aus der DDR in der Kindheit der um 1990 Geborenen Artefakte darstellen, die der DDR trotz ihres Untergangs und kritischer Distanz zu ihr eine Art vertrauten Bezug gaben.
Diskursive Umbruchspräsenz
Die hier beschriebenen Fremdzuschreibungen und westdeutschen Referenzen, die eine ostdeutsche Selbstzuschreibung verstärken können, halten die DDR und die Wiedervereinigung präsent im Leben der Generation Einheit. Dabei werden gesellschaftliche Debatten um Einheit und Ostdeutschland auch im Kontext anderer Konfliktlinien bedeutsam. Ein Beispiel: In Potsdam wird seit etwa zehn Jahren mit hoher Intensität über einen Flächenkonflikt mit hoher Symbolik diskutiert: Das „Rechenzentrum“, ein um 1970 gebautes Gebäude in DDR-Architektur und heute ein zentraler soziokultureller Ort in der Innenstadt, steht zum Teil auf jenem Grundstück, auf dem der Wiederaufbau der Garnisonkirche geplant wird.
Nachdem in den vergangenen Jahren bereits mehrere Gebäude aus der DDR-Zeit in der Potsdamer Innenstadt abgerissen wurden, wird der Verbleib des Rechenzentrums zu einem Symbol nicht nur gegen Gentrifizierung oder für den Erhalt alternativer und kreativer Räume in guter Lage. Es kann vermutet werden, dass es auch um die Sichtbarkeit der DDR-Vergangenheit geht, um Erinnerungsorte aus der eigenen Jugend, um die Anerkennung der Gleichwertigkeit ost- und westdeutscher Perspektiven. Der mögliche Abriss des Rechenzentrums trifft vermutlich auch auf den Nerv, dass die DDR-Vergangenheit nicht mit derselben Gleichwertigkeit Teil des Stadtbildes bleiben kann wie andere Epochen. Lösungen und Kompromisse erfordern daher Verständnis auch für diesen Teil der diskursiven Arena.
Hieran zeigt sich, dass Diskurse über die Einheit und Teilung immer auch in aktuelle gesellschaftliche Aushandlungen eingebettet sind. Generation Einheit begegnet dieser diskursiven Umbruchspräsenz vor allem in Symbolen und Orten – und auch in Debatten, die auf den ersten Blick gar nichts mit Ostdeutschland oder der Einheit zu tun haben. Sie muss diese Debatten ohne die eigene Erfahrung der Teilung einordnen – und identifiziert sich dabei, wie oben angedeutet, mitunter sogar stärker als ihre Eltern mit der Erfahrung einer Abwertung des Ostdeutschen und dem Impuls, ihre Herkunft zu verteidigen.
Strukturelle Umbruchspräsenz
Die Lebenszäsuren der Elterngeneration waren derart umfassend, dass sie bis heute (positiv oder negativ wahrgenommen) nachwirken und im Kontakt mit Ostdeutschen sichtbar bleiben – man kann von einem „Umbruchsgedächtnis“ sprechen. Ein Beispiel: Wenn ich im Rahmen meiner beruflichen Tätigkeit an Fortbildungen teilnehme, finden sich dort auch viele Menschen aus meiner Elterngeneration. In der Vorstellungsrunde berichten sie oftmals davon, dass sie eigentlich einmal Beruf X gelernt haben, dann aber die Wende kam und sie danach eine Umschulung oder ein neues Studium absolvierten. Solche Erzählungen, aber auch die Wahrnehmung struktureller Differenzen zwischen Ost und West, können Gefühle von Solidarität oder Anerkennung bei Generation Einheit hervorrufen. Sie halten aber gleichzeitig auch die DDR und die Wiedervereinigung im Alltagsleben präsent. Auch dies könnte künftig für verschiedene Alterskohorten der Nachwendegeborenen genauer beleuchtet werden.
Diese unterschiedlichen Formen von DDR- und Transformationspräsenz zeigen, dass die Auseinandersetzung mit der DDR und mit der Wiedervereinigungszeit für Generation Einheit kein Wahlthema ist. Sie ist eng mit ihrem Leben verwoben – wenn auch in individueller Stärke und Ausprägung. Dabei zeichnet sie spezifisch aus, dass sie keine eigenen DDR-Erinnerungen hat, die Transformation in sehr jungem Alter erlebte und die Bundesrepublik ausschließlich in ihrer 16-Länder-Version kennt.
Neben diesem Spezifikum für Generation Einheit ist die dauerhafte Transformations- und Zäsurpräsenz ein Merkmal, das auf alle Ostdeutschen zutrifft. Mau beobachtet dabei eine „deutliche ost-westdeutsche Wahrnehmungsdifferenz sowohl hinsichtlich einer Unterschiedlichkeit als auch hinsichtlich der Konflikthaftigkeit“. Er spricht von einer „Negation der Alterität“ – „aus der Perspektive der Mehrheitsgesellschaft fällt es häufig schwer, andere Erfahrungen überhaupt zu registrieren“.
Im innerdeutschen Vergleich stößt die Brille der bundesdeutschen Kontinuität der einen auf die Zäsurpräsenz der anderen. Das kann in der sozialen Praxis erkennbar werden. So wird in einer 2024 erschienenen Folge der YouTube-Serie „Nachgefragt“ der Bundeswehr zur NATO erläutert: „Die NATO gibt es seit 75 Jahren. Wir Deutsche sind seit 70 Jahren Mitglied.“ Der letzte Satz ergibt jedoch nur vor dem Hintergrund der bundesdeutschen Kontinuität Sinn; für Menschen, die die DDR erlebt haben (die ja auch Deutsche sind), gilt er nicht – sie standen bis 1989 sogar auf der anderen Seite.
Der Journalist Christoph Diekmann berichtet in der MDR-Dokumentation „Es ist kompliziert … – Der Osten in den Medien“, dass die Süddeutsche Zeitung 2023 das „Tausendste deutsche Fußballländerspiel“ feierte. Tatsächlich war es aber das 1.292. Spiel – auch die DDR hatte ja Länderspiele bestritten: „Es ist ein Machtgefälle. Sämtliche im Westen aufgerufenen Erinnerungsdaten und Diskurse (…) sind immer die der alten Bundesrepublik (…).“ Diese Beispiele zeigen auch, dass Deutschland im kollektiven Gedächtnis oft mit Westdeutschland gleichgesetzt wird und die Zäsur nur im ostdeutschen Erfahrungshorizont dauerhaft präsent ist. Dadurch erscheinen westdeutsche Perspektiven vielfach als deutsche Norm, während ostdeutsche Sichtweisen als Abweichung markiert werden.
Interessant wäre es diesbezüglich herauszufinden, inwieweit die unterschiedlichen Generationen und räumlichen Verortungen in Ost und West Unterschiede im Zäsurbewusstsein aufweisen – zum Beispiel, ob es in der Generation Z Ost bereits abgeschwächter oder sogar noch stärker verankert ist oder ob die Transformation für in West-Berlin aufgewachsene Menschen aufgrund der regionalen Nähe und gegebenenfalls höheren ostdeutschen Referenz präsenter ist als für andere in Westdeutschland aufgewachsene. Auch vergleichende Studien über Menschen west- und ostdeutscher Herkunft, die in verschiedenem Alter nach Ost- oder Westdeutschland umgezogen sind, und über den Einfluss, den dieser Ortswechsel auf ihre Einstellungen und Sichtweisen nahm, können neue Perspektiven auf die Deutsche Einheit ermöglichen.
Die Heimat der Generation Einheit zeigt sich aus ihrer Perspektive als ein neues, 1990 entstandenes Land: die wiedervereinigte Bundesrepublik, mit einer neuen Zeitrechnung für Jahrestage, mit 16 Bundesländern, mit einer geteilten statt einer rein kontinuierlichen Geschichte. Diese Heimat ist ähnlich alt wie sie selbst. Zwar bestehen starke Kontinuitäten zur alten Bundesrepublik, insbesondere bezogen auf das Gesellschafts- und Rechtssystem.
Doch DDR und Wiedervereinigung bleiben präsent: in Familienerzählungen, durch weitergenutzte Gegenstände, durch Sprache, Musik und Vergleiche. Gerade diese Gleichzeitigkeit von Kontinuität und Bruch prägt die besondere Erfahrung der Generation Einheit. Sie eröffnet eine Möglichkeit, die langfristigen und transgenerationalen Effekte von Zäsuren zu analysieren. Ohne die Einbeziehung dieser Kohorte würde ein zentrales Element der ostdeutschen Posttransformationsgesellschaft unsichtbar bleiben – und die Komplexität des Einheitsprozesses nicht ausreichend beachtet werden.
Fazit
Insgesamt wurden verschiedene Argumente vorgetragen, die eine Perspektive der Generation Einheit auf den Themenkomplex „Deutsche Teilung – Deutsche Einheit“ darstellen. Deutlich geworden ist dabei ihre Inselposition. Generation Einheit hat als erste Nachwendekohorte die DDR nicht selbst erlebt, wurde aber gleichzeitig stark durch die Transformationsprozesse ihrer Eltern und durch gesellschaftliche Debatten über Ostdeutschland geprägt. Dies zeigt sich erstens daran, wie sich diese Kohorte erst im Erwachsenenalter bewusster mit ihrer ostdeutschen Herkunft auseinandersetzt und sie sich, katalysiert durch westdeutsche Referenzpunkte und wahrgenommene Fremdzuschreibungen in medialer Darstellung, Sprache und Kultur, stärker auf innerdeutsche Differenzen bezieht.
Die Generation Einheit wird im jungen Erwachsenenalter mit einem nachträglichen Teilungserleben konfrontiert, für das sie kein Muster oder Vorbild hat, sondern ihren eigenen Weg der Erinnerung und der Identitätsbildung gehen muss. Sie kann dadurch helfen, verschiedene Formen der Erinnerungslandschaften zu DDR und Wiedervereinigung und ihre transgenerationale Wirkung besser zu verstehen. Zweitens zeigt sich, wie das frühkindliche Miterleben der Umbruchszeit dazu führt, dass DDR und Wiedervereinigung zu einem dauerhaften Hintergrundrauschen im Leben der Generation Einheit werden. Die Erfahrung von Wandel und Bruch nimmt für sie eine Form an, die ihre Biografie beeinflusst – auch wenn bislang kaum Daten darüber vorliegen, wie genau dies passiert.
An der ambivalenten Solidarität der Generation Einheit zeigt sich drittens ihre Inselposition besonders deutlich – ihre Loyalität mit der Elterngeneration führt nicht zu Ostalgie, kann aber ihre ostdeutsche Identitätsbildung stark beeinflussen, geprägt von einer durchaus nützlichen Umbruchkompetenz. Diese Perspektive kann zur Ausdifferenzierung der Ostdeutschlanddebatten beitragen, aber auch Erkenntnisse zur Identitätsbildung bestimmter (zum Beispiel migrantischer) Gruppen liefern. Schließlich zeigt Generation Einheit als erste gesamtdeutsche Ostgeneration auf, dass 1990 ein neuer Staat entstanden ist, zu dessen Geschichte auch die Teilung und die Umbruchserfahrung der Wiedervereinigung gehören, die bis heute in der ostdeutschen Posttransformationsgesellschaft nachwirken und Einfluss auch auf gesellschaftliche Konflikte in anderen Themenkreisen nehmen.
Dieses auch in anderen gesellschaftlichen Debatten mitzudenken, kann helfen, ostdeutsche Perspektiven besser einzubeziehen und die Debatten zur Einheit zu entpauschalisieren – vielleicht mit dem Effekt, einen wichtigen Beitrag zur innerdeutschen Verständigung zu leisten. Nicht zuletzt kann die Perspektive der Generation Einheit ein Beispiel dafür sein, dass ein Verständnis Ostdeutschlands und des deutschen Einheitsprozesses nur möglich ist, wenn dieses Widersprüche und Uneindeutigkeiten – und damit Vielfalt – zulässt. Ob man sich für die DDR, die Wiedervereinigung oder Ostdeutschland interessiert oder nicht – der Satz: „Mit euch hat das doch nichts mehr zu tun“ wird der Komplexität der ostdeutschen Posttransformationsgesellschaft nicht gerecht.
Braucht es dafür nun einen weiteren Terminus wie Generation Einheit? Die Frage ist berechtigt. Vieles, was hier aufgeführt wurde, trifft in Teilen auf die ganze Generation Y Ost oder andere Nachwendekohorten zu. Der Begriff „Generation Einheit“ zeigt jedoch auf, dass es innerhalb einer größeren Alterskohorte bezüglich eines solchen Transformationsereignisses bereits unterschiedliche Formen des Miterlebens und Ausgesetztseins gibt, die für das Verständnis des Phänomens hilfreich sein können. Die Konstruktion der Generation Einheit kann helfen, Ostdeutschland und die Deutsche Einheit immer wieder aus neuen Blickwinkeln zu betrachten und so zu weiteren Erkenntnissen darüber zu gelangen, warum Deutschland auch 35 Jahre nach dem 3. Oktober 1990 zwar als vereint erscheint, aber nicht zwangsläufig als geeint.
Zitierweise: Sarah Kaschuba, „Generation Einheit – eine Inselgeneration?", in: Deutschland Archiv, 01.10.2025, Link: www.bpb.de/571306. Alle Beiträge im Deutschland Archiv sind Recherchen und Sichtweisen der jeweiligen Autoren und Autorinnen, sie stellen keine Meinungsäußerung der bpb dar. (hk)
Eine Zeitreise zurück in den Juni 1989. Wie Kinder die Mauer und innerdeutsche Grenze erlebten - vier Monate vor ihrem Fall. Ein Beitrag aus der ZDF-Sendereihe "Kennzeichen D".
Interner Link: Mehr Osten verstehen. 80 Autoren und Autorinnen über (Ost)Deutschlands Weg. Zwei e-books herausgegeben vom Deutschland Archiv, online seit 3.9.2024.
Joachim Gauck, 1989/90: Freiheit erringen, Freiheit gestalten, DA von 2.10.2025.
Soziologin, geboren 1990 in Brandenburg, aufgewachsen in Mecklenburg-Vorpommern, arbeitet seit dem Studium in Potsdam. Studium der Soziologie und Geschichte (Master of Arts) an der Universität Potsdam und University of Mississippi. Begleitet Veränderungsprozesse in der öffentlichen Verwaltung.