Zwischen Versorgungsprinzip und Selbstvorsorge
Die Geschichte einer Reform des DDR-Rentensystems
Das Jahr 1968 brachte der DDR neben einer neuen Verfassung auch eine Reihe sozialpolitischer Maßnahmen zur Verbesserung der Lebenslage der Bevölkerung. Den Rentnern sollte eine nachhaltige Reform des Rentensystems zu Gute kommen. Doch konnte diese Reform den allseitigen Erwartungen genügen?Einleitung
"Selten verdiente die Ostberliner Regierung soviel Zustimmung wie jetzt mit ihrem Erlaß zur Erhöhung der Renten."[1] Mit dieser überraschend positiven Wertung begann Hans-Dieter Schulz am 19. März 1968 seinen Bericht für den Deutschlandfunk über die bis dahin größte Rentenreform in der DDR. (Allerdings verwendete die Staats- und Parteiführung den Begriff Reform in Bezug auf das Rentensystem in der DDR nicht, sondern bei Änderungen in diesem Bereich stets von Rentenmaßnahmen oder der Entwicklung bzw. Weiterentwicklung der Renten.) Bereits ein Jahr zuvor hatte Walter Ulbricht auf dem VII. SED-Parteitag erhebliche Verbesserungen auf dem Gebiet der Renten angekündigt.[2] Diese bildeten nur einen Teil einer großen sozialpolitischen Offensive, die unter anderem auch die Einführung der Fünf-Tage-Woche sowie die Erhöhung der Mindestlöhne und des Kindergeldes beinhaltete. Neben diesen konkreten Maßnahmen schlug die neue sozialpolitische Linie sogar bis auf die 1968 verabschiedete zweite Verfassung der DDR durch. 1968 erwies sich für die Bevölkerung der DDR somit sozialpolitisch als ein besonderes Jahr.
Im Folgenden wird die Rentenreform des Jahres 1968 eingehender untersucht. Was waren die Neuerungen im Rentensystem und welche Varianten wurden noch diskutiert? Welche Motive standen hinter der Reform? Und wie wirkte sie sich schließlich aus? Gleichsam als Überbau zu all diesen Fragen steht die Klärung der Rolle der Sozialpolitik in der DDR. Verfolgte die Staats- und Parteiführung mit ihrer Politik einen wohlfahrtsstaatlichen Ansatz, der allen Bürgern einen möglichst hohen Lebensstandard zu ermöglichen suchte, unabhängig von deren eigener Leistungsfähigkeit? Oder diente die Sozialpolitik dazu, die Leistungsbereitschaft der arbeitenden Bevölkerung zu erhalten bzw. zu steigern? Gerade für die Beantwortung dieser übergeordneten Frage bietet sich das Rentensystem als Untersuchungsgegenstand an und kann damit einen Beitrag zur Bewertung der Sozialstaatlichkeit der DDR leisten.
Zunächst wird überblickartig die Entwicklung des Rentensystems[3] seit 1948 geschildert. Im Anschluss daran werden die Vorbereitung, die Durchführung, die Wirkung sowie die Folgen der 68er-Maßnahmen eingehender betrachtet, bevor die Reform einer abschließenden Bewertung unterzogen wird.
Das Rentensystem vor 1968
Das zukünftige Sozialversicherungswesen der DDR wurde erstmals in den Sozialpolitischen Richtlinien in seinen Grundzügen umschrieben, die das Zentralsekretariat der SED am 30. Dezember 1946 beschlossen hatte.[4] Danach sollte die Sozialversicherung in einer einzigen selbstverwalteten Sozialversicherungsanstalt zusammengefasst werden. Alle Leistungen sollten in einer Versicherung gebündelt und nicht mehr durch das bisherige Kapitaldeckungs-, sondern nach dem Umlageverfahren finanziert werden. Letzteres erfolgte aufgrund der kriegswirtschaftsbedingt geleerten Rentenkassen. Zudem wurden gleiche Beitragsanteile für Arbeitnehmer und Arbeitgeber gefordert. Bis zum vollständigen Umbau des Sozialversicherungswesens Bismarckscher Prägung nach den genannten Vorstellungen sollte es jedoch weitere zehn Jahre dauern. 1956 erfolgte schließlich die komplette Übertragung der Verantwortung für die Sozialversicherung der Arbeiter und Angestellten (SVAA) auf den Freien Deutschen Gewerkschaftsbund (FDGB). Die Übertragung der neugestalteten Sozialversicherung auf den FDGB sollte nicht nur die führende Rolle der Arbeiterklasse zum Ausdruck bringen, sondern verdeutlichte zugleich, dass die Sozialversicherung integraler Bestandteil des Planwirtschaftssystems der DDR war. Neben der SVAA, die für die "Beschäftigten der sozialistischen Wirtschaft" zuständig war, wurde im März 1956 mit der Deutschen Versicherungs-Anstalt (DVA) ein zweiter Sozialversicherungsträger geschaffen, zuständig für die Angehörigen der Produktionsgenossenschaften und für Selbständige.[5] Diese Form der Aufteilung blieb bis 1989 unverändert bestehen.
Die Regelungen zur Berechnung der Renten wurden in der Verordnung über die Sozialpflichtversicherung (VSV) vom 28. Januar 1947 festgelegt.[6] Laut der VSV betrug die Altersgrenze zum Erreichen des Rentenanspruchs für Männer 65 und für Frauen 60 Jahre. Diese Grenze wurde zwar wiederholt diskutiert, blieb bis zum Ende der DDR jedoch unverändert. Für die Berechnung galt ein Grundbetrag von 30 Mark, der für jedes Erwerbsjahr um einen Steigerungsbetrag erhöht wurde. Dieser betrug einen Prozentpunkt des persönlichen Monatsdurchschnittsverdienstes des jeweiligen Jahres. Dabei wurden Einkommen über 600 Mark im Monat nicht berücksichtigt, da dieser Betrag der Betragsbemessungsgrenze der Sozialversicherung entsprach.[7] Witwer und Witwen, die keinen eigenen Rentenanspruch besaßen, erhielten ab dem 65. bzw. dem 60. Lebensjahr oder für den Fall der Arbeitsunfähigkeit 50 Prozent der Rente, die dem verstorbenen Partner zugestanden hätte. Die Mindestrente für Witwer und Witwen lag bis 1969 jedoch 10 Mark niedriger als die Mindestsätze der anderen Vollrenten.
Als Einheitssozialversicherung deckte die Sozialversicherung der DDR alle sogenannten Härten des Lebens, angefangen bei Krankheit über Arbeitslosigkeit, Invalidität bis hin zur Versorgung im Alter über eine einzige Versicherung ab. Die Ausgaben der Sozialversicherung wurden einerseits finanziert durch die laufenden Beitragseinnahmen und andererseits durch ständig anwachsende staatliche Subventionen. Die Beitragshöhe zur Sozialversicherung betrug für jeden Arbeitnehmer 20 Prozent des Einkommens bis 600 Mark. 10 Prozent hatte der Arbeitnehmer selbst und 10 Prozent der Arbeitgeber zu zahlen. Beitragsfrei blieb der Teil des Einkommens, der über 600 Mark lag. Da die Einnahmen aus den Beiträgen zu keiner Zeit ausreichten, die Leistungen der Sozialversicherung zu finanzieren, war die Staats- und Parteiführung von Beginn an gezwungen, diese durch staatliche Zuschüsse zu subventionieren.
Geburtsfehler des Rentensystems
Bereits in den 50er-Jahren zeigten sich deutlich die Unzulänglichkeiten des Rentensystems. Zum einen fehlte der Rentenformel ein dynamisches Element, das die Entwicklung der Renten an die der Löhne und/oder Preise gekoppelt hätte. Dieser Mangel führte dazu, dass sich Renten und Löhne immer weiter voneinander entfernten. Weiterhin fehlte den Rentenbeziehern ein adäquater Ausgleich für die Erhöhung der Preise, die aufgrund der Aufhebung der Rationierung erfolgt war.[8] Mit der Einführung der dynamischen Rente in der Bundesrepublik im Jahr 1956 trat diese Problematik umso deutlicher zu Tage. Aus diesem Grund wurde bereits auf der 28. Tagung des ZK der SED im Juli 1956 die Einführung eines "sozialistischen Pensionsrechtes" angekündigt.[9] Allerdings sollte es für mehr als zehn Jahre bei der bloßen Ankündigung einer grundlegenden Reform bleiben.
Ein weiteres Problem stellte das starre Festhalten an der Beitragsbemessungsgrenze von 600 Mark dar, da das Durchschnittseinkommen für Beschäftigte in der sozialistischen Wirtschaft diese Grenze bereits 1964 überschritt. Dies hatte nicht nur zur Folge, dass den Beschäftigten potentielle Rentenansprüche versagt blieben. Vielmehr gingen der Sozialversicherung damit auch wichtige Mehreinnahmen verloren, die eine Verringerung der staatlichen Zuschüsse hätten bewirken können.
Der dritte große Geburtsfehler des DDR-Rentensystems vor 1968 war die Einbeziehung der Einkommen aus der Zeit vor 1945 in die Rentenberechnung. Auch dieses Problem hatte zwei Seiten. Zum einen wirkten sich die oft sehr geringen Einkommen aus der Zeit vor 1945 sowie die weit verbreitete Arbeitslosigkeit während der Zeit der Weltwirtschaftskrise negativ auf die Höhe vieler Renten aus. Dies, und darin zeigt sich die zweite Seite des Problems, war wiederum ideologisch besonders problematisch. Hatte die Führung der DDR doch das Ziel ausgegeben, die Folgen des Kapitalismus zu überwinden. Und gerade bei den Renten der Bevölkerungsgruppe, die sie zu vertreten vorgab, gelang ihr das am wenigsten – bei den Arbeitern.
Um trotz dieser Geburtsfehler die Situation der Rentenbezieher zu verbessern, verfiel die Staats- und Parteiführung auf ein vermeintlich einfaches Mittel. Anstatt eine grundlegende Reform des Rentensystems vorzunehmen, erhöhte man die Renten immer wieder um Pauschalbeträge. Aufgrund der knappen finanziellen Mittel und unter der Prämisse, besonders die niedrigeren Renten zu verbessern, wurden zumeist nur die Mindestrenten angehoben.[10] Die ständige Wiederholung dieser Maßnahme sollte dafür sorgen, den Rückstand der Rentenentwicklung zur Lohnentwicklung nicht zu groß werden zu lassen. Gleichzeitig führte dies jedoch dazu, dass immer mehr Bezieher von niedrigen Renten in den Bereich der Mindestrenten "abrutschten". Es kam somit zu einer steten Nivellierung der Renten auf dem Mindestrentenniveau, was viele Rentner als ungerecht empfanden. Laut eines Informationsschreibens der ZK-Abteilung Gewerkschaften und Sozialpolitik aus dem Jahre 1963 bezogen von insgesamt drei Millionen Rentnern 85 Prozent eine Rente, die nicht oder nur knapp über der Mindestrente lag.[11] Zwischen 1950 und 1964 verdoppelte sich der Mindestbetrag für die Altersrente von 65 auf 120 Mark.[12] Die durchschnittliche Altersrente stieg zwischen 1950 und 1967 um über 200 Prozent von 86 auf 175 Mark.[13] Dennoch sank das Renten-Lohn-Verhältnis in diesem Zeitraum von 29 auf 26 Prozent ab, da der Durchschnittsbruttolohn zwischen 1949 und 1967 um fast 230 Prozent angestiegen war, von 295 auf 669 Mark.[14]
Bei all den beschriebenen Problemen drängt sich die Frage auf, warum eine grundlegende Lösung durch die DDR-Führung so lange ausblieb. Eine Erklärung dafür findet sich in einem SED-internen Schreiben vom 2. August 1961: "Eine weitere Erhöhung der Renten ist abhängig von der Steigerung der Arbeitsproduktivität, da eine solche Erhöhung nur möglich ist, wenn gleichzeitig eine Vergrößerung des Warenfonds damit verbunden ist."[15] Natürlich wäre trotz dieser Gleichung auch eine Rentenerhöhung ohne Produktivitätszuwachs möglich gewesen und zwar auf Kosten der Einkommen der arbeitenden Bevölkerung. Dieser Schritt sollte jedoch nach den Erfahrungen des 17. Juni während des gesamten weiteren Bestehens der DDR nicht mehr gewagt werden.
