Shelly Kupferberg: Zwischen Chanukkia und Lametta
Enkelin von Jeckes, Tochter von Sabres - Leben zwischen Israel und (West-)Berlin
Shelly Kupferberg
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Shelly Kupferberg ist 1974 in Tel Aviv geboren und in West-Berlin aufgewachsen. Im Interview erzählt sie von einer Kindheit und Jugend, die geprägt war vom linken Engagement ihrer in Israel geborenen Eltern, von Sommercamps mit der Jüdischen Gemeinde und ihren Erinnerungen an die Zeit als Einzige von zwei Jüdinnen während ihrer Schulzeit. Wie sie 1989 die Öffnung der innerdeutschen Grenzen erlebt hat und wie es später für sie war, von der Anti-Haltung der DDR gegenüber Israel zu erfahren.
Heute arbeitet die dreifache Mutter Shelly Kupferberg als freie Redakteurin und Moderatorin bei Veranstaltungen wie der Shimon-Peres-Preis-Verleihung sowie für Deutschlandfunk Kultur und moderiert auf rbbKultur tägliche Kultur- bzw. Live-Radiosendungen.
Für das Interview hat sich Shelly Kupferberg mit der Journalistin und Fotografin Sharon Adler an einem warmen Sommerabend in Tel Aviv und im herbstlichen Berlin getroffen.
Sharon Adler: Wie hat deine Familie die Shoa überlebt und von wo aus ist sie nach Palästina emigriert? Woher kamen deine Großeltern?
Shelly Kupferberg: Meine Großeltern stammten aus Wien, Berlin und Hildesheim. Sie sind alle, rechtzeitig bevor der Zweite Weltkrieg ausbrach, vor Hitler nach Palästina geflüchtet, zwischen 1933 und 1939. Und haben sich dann vor und nach der Staatsgründung in Israel kennengelernt. Alles Jeckes. Dann sind meine Eltern nach und nach geboren, mein Vater 1945 noch in Palästina, meine Mutter 1949 schon in Israel. Meine Großeltern waren bis an ihr Lebensende sehr jeckisch und gehörten nicht zu denjenigen, die „nichts mehr mit Deutschland zu tun haben“ wollten. Sie sind schon relativ früh regelmäßig wieder nach Deutschland und Österreich zurückgefahren, natürlich mit großen Ambivalenzen und aus ganz unterschiedlichen Gründen.
Mein Großvater, Walter Grab, der Vater von meiner Mutter Maya, war Historiker und hat 1971 in Tel Aviv das Institut für Deutsche Geschichte an der Universität gegründet. Er war deshalb oft in Europa und vor allem im deutschsprachigen Raum unterwegs, sehr viel in Deutschland, auch als Gastprofessor am Wissenschaftskolleg, weil er mit deutscher Geschichte zu tun hatte. Natürlich mit Ambivalenzen. Aber die hatte er auch Israel gegenüber. Es war für ihn einerseits das Land, das ihn gerettet hat, andererseits politisch nicht seins, denn er war Kommunist. Er war auch in der Kommunistischen Partei in Israel, bis er Stalin kritisierte. Man hat ihm unterstellt, er würde an der großen Idee zweifeln und hat ihn rausgeschmissen. Das war für ihn eine große Niederlage, Tragödie, und Enttäuschung.
Dennoch, bis zu seinem Lebensende hat er immer erklärt: „Die Sowjetunion hat mein Leben gerettet. Sie hat Hitler besiegt. Ich werde ihr ewig dankbar sein.“ Sein großes Bonmot war immer: „Ich kam nicht aus Zionismus, sondern aus Österreich.“
Jeckes in Israel mit Nymphenburger Geschirr
Sharon Adler: Welche Erinnerungen hast du an die Zeit in Israel? Du bist in Tel Aviv geboren, aber in West-Berlin aufgewachsen. Wie kam es dazu, warum und wann bist du mit deiner Familie aus Israel nach Deutschland gegangen?
Shelly Kupferberg: Meine Eltern waren israelisch sozialisiert, während die Kupferbergs bis an ihr Lebensende ein Ivrith (modernes Hebräisch) mit wahnsinnig deutschem Akzent gesprochen haben und wirkliche Jeckes waren. Unglaublich deutsch, immer etepetete und super gekleidet. Man ging jeden Freitag ins Kaffeehaus, sonntags gab’s ein schönes Essen und es hatte alles seine Ordnung. Das gute Nymphenburger wurde immer wieder zu Festtagen rausgeholt. Man war sehr kunstaffin, liebte die schönen Künste.
Mein Vater ist zweisprachig aufgewachsen, weswegen er Ende der 1940er Jahre, Anfang der 1950er in Israel regelmäßig mit seiner Mutter aus dem Autobus geschmissen wurde, Deutsch wollte man damals natürlich nicht hören. Meine Mutter hat zwar zuhause Deutsch gehört, aber gesprochen wurde Hebräisch. Und dann kamen der 1967er-Krieg, der Sechstagekrieg, und 1973 der Yom-Kippur-Krieg. Beide Male wurde mein Vater als Soldat eingezogen. Ich bin Jahrgang '74, das heißt, er war noch in Reserve und absolut unzufrieden mit der politischen Situation. Nach dem Yom-Kippur-Krieg hatte er eine Depression.
Mein Großvater, Walter Grab, hat dann gesagt: „Wisst ihr was, ihr seid jung, ihr habt ein kleines Baby, vielleicht geht ihr einfach mal ein Jahr raus aus Israel und werdet euch im Klaren darüber, was ihr wollt, wie es weitergehen kann und seht mal ein bisschen was von der Welt.“ Und das haben sie gemacht. Und es lag nah, ins deutschsprachige Ausland zu gehen, weil mein Vater Deutsch konnte und dachte, er fände dort schnell einen Job.
Eigentlich wollten sie in die Schweiz, weil sie dort Freunde hatten, aber das hat nicht geklappt. Über Umwege kamen sie dann nach West-Berlin, wo mein Großvater oft Vorträge an verschiedensten Institutionen hielt und in der Historiker-Szene viele Kontakte hatte: Julius Schoeps, Lea Rosh und verschiedenste Leute. Mein Großvater hatte meinen Eltern gesagt „Geht mal nach West-Berlin, ich gebe euch ein paar Adressen und ein paar Telefonnummern. Da könnt ihr anrufen, das sind Freunde.“ So kamen meine Eltern 1975/76 nach West-Berlin. Sie wollten erstmal nur ein Jahr lang bleiben, aber sie fühlten sich so wohl, dass sie die Abreise immer weiter nach hinten verschoben und irgendwann waren wir so groß, dass wir Kinder gesagt haben: „Wir wollen hier sein, das ist unser Zuhause.“
Wenngleich wir mindestens einmal im Jahr in Israel bei den Großeltern waren und das auch sehr gerne mochten. Wir haben mit ihnen Deutsch gesprochen, worüber sie sich gefreut haben. Sie haben teilweise die gleiche Lektüre gelesen wie wir. Es schloss sich der Kreis mit der Jeckes-Kultur. Wir hatten mit unseren Großeltern fast mehr gemeinsam als meine Eltern als Sabres. Und so waren wir in West-Berlin, und eigentlich waren meine Eltern auch dort immer sehr glücklich, bis die Wende kam.
Sharon Adler: Waren deine Eltern im West-Berlin der 1970er Jahre politisch aktiv?
Shelly Kupferberg: Meine Eltern sind ganz bewusst nicht in eine Jüdische Gemeinde eingetreten. Sie sind immer politisch links gewesen, auch in Bezug auf Israel. Sie waren damals Teil einer jüdisch-palästinensischen Gruppe, die es ja auch immer noch gibt, die sich jetzt etwas schärfer positioniert hat. Also auch BDS-nah sind, aber da sind meine Eltern schon lange nicht mehr aktiv. Aber sie waren Ende der 1970er, Anfang der 1980er Jahre dabei. Da haben sich Israelis, Juden, Araber, Palästinenser getroffen und immer wieder diskutiert, wie man einen gerechten Frieden im Nahen Osten herstellen könnte. Meine Eltern haben auch 1982 gegen den Libanon-Krieg in Berlin demonstriert. Daraufhin hat Heinz Galinski, damals noch Gemeindevorsitzender in West-Berlin, erklärt: „Das sind keine Juden, die da demonstrieren.“
Meine Eltern waren Israelis. Sie waren natürlich schon Juden, aber wir haben die jüdischen Feste sehr säkular gefeiert. So wie die meisten Christen Weihnachten feiern. Man traf sich mal zum Essen und sang ein Lied. Meine Eltern hatten israelische Freunde im Berlin der 1970er Jahre, so viele gab es ja nicht, aber ein paar schon. Und man hat sich getroffen und ein bisschen Chanukka gemacht und ein bisschen Pessach. Sie haben das vor allem für uns Kinder getan. Irgendwann kam ich in das Alter, wo ich meinen Eltern Vorwürfe gemacht habe: „Warum geht ihr denn mit uns nicht in die Synagoge? Warum betet ihr mit uns nicht die Gebete?“ Unsere Eltern haben uns geantwortet: „Wir sind selbst nicht so aufgewachsen, wir sind Israelis.“
Meine Mutter hat kurz vor der Wende, ich glaube, 1987 muss das gewesen sein, an der Heinz-Galinski-Schule als Hebräisch-Lehrerin angefangen. Dafür musste sie natürlich in die Jüdische Gemeinde eintreten. Das war damals auch echt ein Politikum. Mein Vater, absurderweise, dann später auch, weil er anfing, im Centrum Judaicum zu arbeiten, der war für die Arbeitssicherheit aller jüdischen Institutionen zuständig. Und so hatten sie dann doch auch mit jüdischem Publikum zu tun.
Ich wollte irgendwann mehr und bin dann auch ein paar Mal mit der Jüdischen Gemeinde auf Machanot gefahren, auf diese Sommercamps. Und habe völlig andere Infrastrukturen kennengelernt.
Judentum war für uns Normalität
Sharon Adler: Wie hast du dich gefühlt als jüdisches Kind auf einer nicht-jüdischen Schule?
Shelly Kupferberg: Es gab zwar damals die Grunewald-Grundschule, da waren viele jüdische Kinder. Aber meine Eltern haben das eher abgelehnt, sie wollten nicht, dass wir ghettoisiert sind. Meine Schwester Yael und ich sind in Wilmersdorf auf das Friedrich-Ebert-Gymnasium gegangen. Wir waren dann meistens die einzigen Jüdinnen auf der Schule. Unsere Religion war nie ein Problem – im Gegenteil, es war eher so, dass die Lehrer wollten, dass wir unseren Mitschülern davon erzählten, wenn wir nach Israel fuhren. Es war eigentlich immer sehr wohlwollend, nie bösartig, wenn überhaupt eher philosemitisch als antisemitisch. Weil diese '68er Lehrer natürlich solche waren, die aus lauter schlechtem Gewissen Israel-unterstützend waren.
Die einzigen Jüdinnen in der Schule zu sein, konnte schon unangenehm sein. Ich erinnere mich ganz konkret an zwei Situationen, darunter „Nathan der Weise“ im Deutschunterricht. Da hieß es dann: „Shelly, erzähl doch mal du“. Ich meine, das muss ich dir nicht erklären...
Man merkte, da war viel Verklemmung, viel Tabu bei vielen Menschen dieser Generation. Aber es war für uns eigentlich nie etwas, was negativ auffiel oder negativ zum Thema wurde. So wurden wir auch nicht erzogen, eher multikulti, offen, nach dem Motto: „Jeder ist so wie er ist, und das ist gut so.“ Mit diesem linken Background meiner Eltern. Und ich habe gemerkt, als ich mit der Jüdischen Gemeinde auf den Machanot war, dass das schon ein sehr anderer Schnack war und auch nicht wirklich meiner. Dieser Kryptozionismus, so habe ich es immer genannt. Eine Verklärung auch von Israel. Ich fand das sehr unreflektiert. Ich hatte auch entsprechende Diskussionen mit jüdischen Leuten in meinem Alter. Gleichzeitig hat das in der Pubertät, wo man auf Identitätssuche ist, irgendwas befriedigt, was ich von Zuhause nicht kannte. Schabbat zu feiern, die ganzen Gebete, die Lieder ... mit allem Drum und Dran. Also, ich hatte so eine kurze Phase, wo ich dachte: „Ja, das ist es. Hier fühle ich mich Zuhause.“ Ich habe dann auch mal mit dem Gedanken gespielt, nach Israel zu gehen.
Sharon Adler: Wie kam das?
Shelly Kupferberg: Das kam so: Ich kam etwas gebrainwashed von einer Machane : eine Woche Spanien, eine Woche Portugal, zwei Wochen Israel – super Programm. Zwei Wochen Israel habe ich dann von meinen Großeltern verlängert bekommen. Während der ganzen Sommerferien, die ich dort war, habe ich meinen linken, kommunistischen Großeltern erzählt, dass ich vorhabe, nach dem Abitur in die israelische Armee zu gehen.
Sie waren schockiert. Aber ich dachte, um das Land richtig kennenzulernen und die Sprache zu verbessern, sei das eine gute Idee. Zuhause wurde Hebräisch gesprochen, mit uns aber nur Deutsch. Also, mein Ivrith war nicht so gut und ich dachte: „Das ist es. Das muss ich machen.“ Meine Eltern waren auch schockiert.
Als dann der Einberufungsbefehl kam, weil ich einen israelischen Pass habe, war mir völlig klar: Das geht gar nicht. Aber es gab so Anflüge von einer Sehnsucht, die ich meinte erfüllt zu wissen, wenn ich hier irgendwie mehr partizipiere, nennen wir es so. Das Judentum war für uns Normalität und keine exaltierte, ghettoisierte Welt.
Der Mauerfall: „Warum freut ihr euch denn nicht?“
Sharon Adler: Wie hast du die Öffnung der innerdeutschen Grenzen wahrgenommen?
Shelly Kupferberg: Bei der Öffnung der Mauer war ich 15 Jahre alt und Schulsprecherin; ich war schulpolitisch wahnsinnig aktiv. Ich erinnere mich, wie mein Vater uns viel früher als sonst geweckt hat, und sehr panisch und seltsam war: „Kinder, es ist Zeit. Jetzt müssen wir das Land verlassen, jetzt ist der Zeitpunkt gekommen. Die Mauer ist weg, das war immer unsere Lebensversicherung, wir müssen raus. Deutschland ist wieder groß, Deutschland wird wieder mächtig und das wird nicht gut.“
Das war total verstörend für Yael und mich. Wir mussten erstmal begreifen, was passiert war. Dann fuhren wir in die Schule. In der Schule herrschte Ausnahmezustand, in der Aula liefen mehrere Fernseher, auf denen man die Bilder gesehen hat, wo alle auf der Mauer tanzten. Alle waren total guter Stimmung, nur Yael und ich hatten ein ganz beklommenes Gefühl und waren skeptisch. Und alle fragten uns: „Warum freut ihr euch denn nicht?“ Kurz darauf war auch mein Großvater bei uns. Er war in mehrere Talkshows eingeladen, zu Lea Roshs Sendung „3 nach 9“ und da ging’s natürlich um den Mauerfall. Er war der Ansicht, es sei nicht gut, wenn Deutschland wiedervereint ist, denn dann fühle es sich besonders mächtig, groß und stolz. Das Nationalgefühl würde wieder hochkommen. Er hat dann den legendären Satz gesagt: „Hitlers Panzer haben’s nur bis nach Stalingrad geschafft. Heutzutage braucht Deutschland keine Panzer mehr. Es hat die D-Mark und mit der D-Mark kommt es bis nach Wladiwostok.“ Und da ist was dran, bis heute.
Wir standen von zuhause aus positioniert dem Ganzen sehr skeptisch gegenüber. In meinem nichtjüdischen Freundeskreis gab es zwar Verständnis für unsere Ängste, sie haben sich das durchaus angehört, und wenn wir darüber gesprochen haben, meinten sie: „Ach, so haben wir es noch gar nicht gesehen.“ Das gab es schon, aber sehr vereinzelt. Die meisten haben es überhaupt nicht begriffen, für die war es natürlich so, dass endlich die Verwandtschaft aus dem Osten kam. Wenige hatten dafür ein Gefühl oder Gespür. Für uns war da so ein Gefühl, eine Position zu haben, die außerhalb der Mehrheitsgesellschaft liegt. Also eine gewisse Art und Weise von gedanklicher Isolation, von Ausgeschlossensein.
Sharon Adler: Kannst du dich daran erinnern, wie die jüdischen Schwestern und Brüder aus dem Osten in der West-Berliner Gemeinde aufgenommen wurden? Sie wurden ja nicht von allen mit offenen Armen empfangen.
Shelly Kupferberg: Da hast du Recht, das war bitter. Obwohl die West-Berliner mit den Sowjetjuden, den Leuten aus dem Ostblock, diese Erfahrung schon hatten. Aber die Brüder und Schwestern jenseits der Mauer ... Ich selber war mit 16 und 17 Jahren nochmal auf Machanot und bin mit der Münchener Gemeinde sogar nach Prag gefahren. Da waren nur Wessis dabei.
Nach dem Abi hab' ich beim Deutschlandradio angefangen, mit 20. Ich habe viel Berichterstattung über jüdische Themen gemacht, habe unter anderem mit Ulrike Offenberg gesprochen und die Ost-Berliner Gemeinde porträtiert. Und hab' dabei auch gemerkt: „Oh, so einfach ist das alles gar nicht.“ Vor allem die Stasi-Tätigkeiten und diese ganzen Dinge kamen dann ja auch so nach und nach zum Vorschein. Das habe ich aber nur am Rande mitbekommen, nicht wirklich aus der internen Sicht heraus.
Sharon Adler: Du hast Jahre später, am 24. August 2010, anlässlich der Buchvorstellung der Amadeu Antonio Stiftung zur Ausstellung „Bei uns hat’s das nicht gegeben – Antisemitismus in der DDR“ , die Podiumsdiskussion moderiert. Du hast nachgefragt, wie es sich als Kind jüdischer Eltern in der DDR lebte. Was hat dich besonders bewegt?
Shelly Kupferberg: Einerseits, dass sie alle Antifaschisten waren. Aber auch die totale Verdrängung der eigenen Identität, um ein Teil davon zu sein. Diese Tatsache wurde mir nochmal klar, und allein das hat mich sehr fasziniert.
Was mich aber schockiert hat, war dieser Antizionismus, beziehungsweise, von dieser Anti-Haltung der DDR gegenüber Israel zu erfahren. Speziell nach dem Sechstagekrieg. Das war für mich relativ neu, und es hat mich wirklich geschmerzt, dass Israel nur als Machwerk einer imperialistischen USA-Erweiterung dargestellt wurde. Und dann gab’s da auch den „Feuerdrachen Zion“,
eine ganz berühmte antizionistische Propaganda in der DDR in dieser Kinderzeitung, ein richtiges Propagandablatt.
Und das hat mich einfach berührt und geschmerzt in diesen Biografien dieser Menschen, die ja teilweise heimlich zu Treffen gegangen sind, wo sich ein paar Juden zusammengetan haben, um ganz vorsichtig jüdische Themen zu besprechen. Jakob Hein erzählt das immer so schön, er erinnert sich auch noch, wie man sich so heimlicherweise dann mal irgendwo zusammengerottet hat. So ein paar Juden in der DDR, die nicht offen aussprechen konnten, dass man irgendwie Interesse an jüdischen Themen hat... Das hat mich schon berührt.
Sharon Adler: Wie steht es aus deiner Sicht um die Einbeziehung der jüdischen Perspektive, im Jahr 1989 und in den Jahren danach? Gab es dafür eine Sensibilität in der nicht-jüdischen Mehrheitsgesellschaft?
Shelly Kupferberg: Glaube ich nicht. Und interessanterweise scheint es aber auch, als würden diese Multiperspektiven auf 30 Jahre Wende jetzt erst richtig ins Rollen kommen. Ich hatte im vergangenen Jahr auf dem Stasi-Campus [in der Normannenstraße in Berlin-Lichtenberg] eine spannende Moderation, das Thema war „Randständige Gruppen in der DDR“, das heißt Frauenfriedensgruppen und insgesamt die weibliche Perspektive. Bei der Veranstaltung ging es darum, dass alle diese Perspektiven gar nicht im großen Kontext der Narrative zur Friedlichen Revolution auftauchen, auch nicht die jüdische.
Und ich glaube durchaus, dass es Kontinuitäten gibt von der jüdischen Perspektive, die 1989/90 herrschte, dieses Kritische, dieses Ängstliche, dieses: „Jetzt ist Deutschland wieder groß“. Dieses Nationalbewusstsein, was wiederkommt, wovor man Angst hat. Das zeigt sich heute, durch das Auftreten der AfD. Ich glaube schon, dass es da eine ganz klare Kontinuität gibt, die nicht erkannt wurde und nicht gesehen werden wollte. Das passte nicht zu dem Freudentaumel und der Überwindung der Teilung als Strafe nach dem Zweiten Weltkrieg. Das bedeutete für die Bio-Deutschen: „Auch das haben wir irgendwie geschafft.“ Wenn auch ganz schnell die Meckereien kamen, dass Aldi leer gekauft ist von den Ossis, daran kann ich mich noch gut erinnern.
Sharon Adler: In Deinem Beitrag „Oj Tannenbaum“ erzählst du, wie wichtig es dir als kleines Mädchen war, auch einen Weihnachtsbaum zu bekommen, und welche Herausforderung es heute als jüdische Mutter für dich ist, „seinen Kindern inmitten der Mehrheitsgesellschaft ein Stück eigene Tradition mit auf den Weg zu geben“. Wie schwierig es sei, „mit Chanukkia und Dreidel gegen Weihnachten anstinken zu wollen“. Hast du als Mutter von drei Kindern mit Erfolg dagegen angestunken?
Shelly Kupferberg: Schwierig. Also die Kinder sind interessiert, sie wissen, dass es mir ein Anliegen ist, dass sie interessiert sind. Deswegen ist es mir auch wichtig, immer mal wieder mit ihnen nach Israel zu kommen, damit sie ein Gespür für das Land, die Religion und die jüdische Geschichte bekommen. Das finden sie toll. Es ist nach wie vor total schwierig, dagegen anzustinken. Allerdings hat sich meine Sicht darauf ein bisschen geändert, insofern als dass sich für mich Religion oder das Jüdische ein bisschen relativiert haben. Warum? Sagen wir so: Ich bin froh, dass ich das in mir habe und ich glaube und hoffe, dass es mich sensibilisiert für Themen.
Das ist meine Art, Judentum zu leben. Ich hoffe, dass es mir eine andere Perspektive auf Dinge schenkt. So glaube ich zumindest. Das hat damit zu tun, dass man mehrere Länder und mehrere Kulturen, Mentalitäten in sich hat und sie auch analysieren, lesen, interpretieren kann. Das wünsche ich meinen Kindern auch, das werden sie wahrscheinlich mit Italien im besten Falle haben. Vielleicht ein bisschen mit Israel, und mit Deutschland. Alles was sozusagen „Othering“ ist, defizitär gesprochen, das ist für mich ein Riesen-Reichtum. Das möchte ich meinen Kindern mit auf den Weg geben. Denn das haben mir meine Eltern Gott sei Dank auch, sie haben es nie als Problem definiert, sondern immer als Chance, und so würde ich das gerne auch meinen Kindern mitgeben, als Potential.
Mir ist es auch egal, was meine Kinder entscheiden. Sie müssen es selber verantworten. Und das ist für mich eine Frage der Gerechtigkeit - gleiche Rechte für alle, Liebe, gleiche Rechte für alle Religionen. Leben und leben lassen, werde glücklich, so wie du denkst. Religion als solche sagt mir nicht mehr viel. Je älter ich werde, umso weniger. Vielleicht kommt das irgendwann wieder, ich bin gespannt. Aber ich finde es eher schwierig und problematisch, wie Religion ausgeübt wird und von welchen Menschen, mit denen ich mich nicht identifizieren kann.
Aber dennoch ist es für mich meine Identität: Ich bin jüdisch. Ich bin eine Jüdin, ich bin Berlinerin, und ein bisschen Israelin.
Zitierweise: "Shelly Kupferberg: Zwischen Chanukkia und Lametta - Enkelin von Jeckes, Tochter von Sabres - Leben zwischen Israel und (West-)Berlin", Interview mit Shelly Kupferberg in: Deutschland Archiv, 13.11.2020, Link: www.bpb.de/318798
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; 1974 in Tel Aviv geboren, in West-Berlin aufgewachsen, studierte Publizistik, Theater- und Musikwissenschaften an der Freien Universität Berlin und arbeitete bereits während ihres Studiums als Journalistin für den öffentlich-rechtlichen Rundfunk. Neben Beiträgen für die ARD moderiert sie seit 20 Jahren Kultur-, Literatur und Gesellschaftsmagazine und arbeitet als freie Redakteurin sowie Moderatorin für Deutschlandfunk Kultur und moderiert auf rbbKultur tägliche Kultur- bzw. Live-Radiosendungen. Ihre thematischen Schwerpunkte sind neben der Kultur auch Bildung, Kulturvermittlung, Zivilgesellschaft, Demokratie und Partizipation, Diskriminierungs-, sowie Migration. Interner Link: Mehr Informationen zu Shelly Kupferberg >>