Sigrid Brinkmann: Die Städte L’viv, Moskau und San Francisco markieren wichtige Stationen in Ihrem Leben. Berlin gehört unbedingt dazu und seit einigen Jahren auch Jerusalem. Ihre Geburtsstadt hat viele Namen: L’viv, Lvov, Lwów, Lemberg, Leopolis. Seit dem 24. Februar fliehen Menschen aus dem Osten der Ukraine in den Westen, in L’viv konnten sie Luft holen, aber Schutz vor russischen Raketen gab und gibt es auch dort nicht. Welche Gedanken kommen Ihnen angesichts der rohen Gewalt, die Menschen in der Ihnen so vertrauten Stadt angetan wird?
Marina B. Neubert: Obwohl ich schon seit so vielen Jahren nicht mehr in Lemberg lebe, bin ich der Stadt mehr verbunden als ich dachte. Je älter ich werde, desto stärker spüre ich das. Es ist bedauerlich, dass so wenig aus der Geschichte gelernt wurde, ja, dass wir Menschen offenbar nichts lernen. Wenn ich an die Geschichte meiner Familie denke, hingen schon zur Zeit der Habsburger Monarchie Rauchwolken über der Stadt, dann zu Beginn des Ersten Weltkrieges. Rauchwolken wehten während der polnischen Herrschaft, dieser ganze andauernde Bürgerkrieg, dann kam die sowjetische Besatzung, dann Rauch ohne Wolken, als die deutsche Wehrmacht einrückte, dann versetzten ukrainische Nationalisten die Stadt in Schrecken, es hörte nicht auf.
Und jetzt sind die Rauchwolken wieder da. Lemberg liegt nur 70 Kilometer von der polnischen Grenze entfernt. Die Stadt ist jetzt ein wichtiger Umschlagpunkt für die Waffenlieferungen aus dem Westen und ich denke, deshalb wird Lemberg angegriffen. Ich muss auch an den ukrainischen Schriftsteller und Übersetzer Juri Andruchowytsch denken, der die Stadt als ein Geisterschiff bezeichnet hat. Er hat dabei an die Geister der vielen Menschen gedacht, die in Lemberg gewaltsam zu Tode gekommen sind. Die Stadt war immer schon Zeugin von menschlicher Gewalt, von Gräueltaten und unserem Unvermögen. Bis jetzt hat sie durchgehalten.
Sigrid Brinkmann: Ist die Bindung an die Geburtsstadt stärker als an Moskau?
Marina B. Neubert: Sie ist stärker, schmerzhafter und auch ambivalenter. Lemberg ist mir näher. An Moskau habe ich Erinnerungen, die nicht an meine Kindheit, sondern eher an die Zeit der Jugend gebunden sind. Als Jugendliche konnte ich mit dem, was ambivalent und zwiespältig war, schon viel besser umgehen.
Sigrid Brinkmann: Vor dem Zweiten Weltkrieg machten die jüdischen Einwohner:innen etwa ein Drittel der Stadtbevölkerung aus. Weit über 100.000 Lemberger Juden und Jüdinnen sind in den Konzentrationslagern ermordet worden. Ihre Großmutter hat das Ghetto von Lemberg überlebt. Hat sie Ihnen davon erzählt oder konnte sie nur schweigen über das, was ihr angetan wurde?
Marina B. Neubert: Wenn Sie mir diese Frage gestellt hätten, als ich noch Kind war, hätte ich sie mit großen Augen angeschaut und überhaupt nicht verstanden, was Sie meinen. Jetzt, im Nachhinein, denke ich, dass sie unter einer großen Anspannung lebte, denn sie wollte mich als Kind schützen. Ich sollte unbeschwert und glücklich aufwachsen können. Und sie hätte mir niemals etwas über die Schrecken des Krieges erzählt. Entscheidend war, dass sie überlebt hatte und weiterleben konnte. Ich glaube, die Strenge in unserem Haus rührte daher, dass weiterzuleben, nach allem, was sie erlebt hatte, nicht einfach war. Auch die Disziplin, die sie sich und anderen abverlangte, hing damit zusammen.
Meine Großmutter war sehr gebildet. Ihr Blick auf die Welt war scharf und kritisch. Sie war eine kultivierte Frau, die alles und jeden mit großer Aufmerksamkeit betrachtete. Und ich sollte immerzu aufpassen, immer konzentriert bleiben. Dass sie das forderte, war ihrer Erfahrung geschuldet. Sie hat ihr Empfinden der Welt weitergelebt. Sie hat Geschichten über den Krieg erzählt, aber in einer märchenhaften Form. Das war ihre Art, etwas auszudrücken und mir mitzugeben. Sie sprach mehrere Sprachen. Sie kannte die jüdischen Märchen so gut wie die Märchen der Gebrüder Grimm, und sie hat sie miteinander verbunden. Im Nachhinein verstehe ich, dass vieles, was für mich wie ein reines Märchen geklungen hat, auf Geschichten basierte, die sie selbst erlebt hatte. Ihre Erzählungen waren in der Kriegszeit verwurzelt. Es waren Geschichten der Flucht. Wie viel Anstrengung es sie gekostet hat, das Erlebte zu verpacken, kann ich erst jetzt, als erwachsener Mensch und mit einem gehörigen zeitlichen Abstand, sehen.
Sigrid Brinkmann: 2013 hat die Stiftung „Zurückgeben“
Marina B. Neubert: Ich habe bereits erwähnt, dass meine Kindheitserinnerungen an Lemberg sehr ambivalent sind; einerseits schön, und das hat mit dem Märchenhaften zu tun, andererseits sehr schwierig, weil ich in einem sehr großen Konflikt lebte. Ich bin mit meiner Großmutter und ihrer Schwester, beide seligen Gedenkens, aufgewachsen. Wir waren zu dritt und haben unser Jüdischsein gelebt, so wie das in der Sowjetunion möglich und unmöglich war, das heißt es war schwierig. Die Mesusa
Sigrid Brinkmann: Ihr im Frühjahr 2022 im Aviva Verlag erschienener Roman Was wirklich ist
Marina B. Neubert: Ich glaube, mein Zeitgefühl ist zu einem großen Teil jüdisch geprägt. In der Thora gibt es kein lineares Erzählen, und das ist exemplarisch für die jüdische Zeitlichkeit. Es gibt in der Thora keine Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft und dennoch werden wir mit allen Zeiten konfrontiert. Wenn ich erzähle, möchte ich nicht einfach nur nachbilden. Ich möchte lineare Zeitläufte und die gewohnte Einordnung von Ursache und Wirkung ebenso hinterfragen. Wir leben in einer komplexen Welt, und ich möchte, dass meine Geschichten dieses vielschichtige Beziehungsgefüge auch reflektieren.
Marina B. Neubert: „Ich glaube, die Mehrsprachigkeit ist ein großes Geschenk.“ (© Sharon Adler/PIXELMEER, 2022)
Marina B. Neubert: „Ich glaube, die Mehrsprachigkeit ist ein großes Geschenk.“ (© Sharon Adler/PIXELMEER, 2022)
Ich empfinde die Zeit als Kreis. Das Vergangene kann sich wiederholen, das Vergangene kann zur Zukunft werden, die Gegenwart kann sich schnell zur Vergangenheit wenden, und die Zukunft kehrt sich in die Gegenwart. Deshalb konfrontiere ich meine Figuren zugleich mit der Vergangenheit, mit der Gegenwart und einer hypothetischen Zukunft. Dass diese Art von Zeitlichkeit sich in Jerusalem wie in kaum einem anderen Ort der Welt widerspiegelt, liegt schon allein im Wesen dieser Stadt begründet. In Jerusalem spiegelt sich – zumindest für die monotheistischen Religionen – die ganze Welt wider. Ich kenne mich in anderen Kulturen und Religionen weniger gut aus, bedauerlicherweise. Für das Abendland jedoch ist Jerusalem das Herz der Welt – eine zentrale Pumpe, die den ganzen spannungsvollen Kreislauf antreibt. Es besteht die Gefahr des Untergangs, aber es gibt auch die Hoffnung auf Erlösung. Das alles finde ich in Jerusalem, und das in einer Simultanität der Ereignisse, die manchmal verblüffend ist. Ich spüre sie im Besonderen, wenn ich auf den Ölberg, die Klagemauer und den Tempelberg schaue. Ich sehe Gefahr und Hoffnung auf Erlösung gleichzeitig.
Sigrid Brinkmann: In Israel gibt es Menschen, die auf keinen Fall in Jerusalem wohnen wollten: zu wenig Toleranz gegenüber säkular lebenden Juden und Jüdinnen wie überhaupt gegenüber pluralen Lebensformen, und dann der nicht endende, in der Stadt sehr präsente Konflikt mit Palästinensern. Wie erleben Sie die Stadt?
Marina B. Neubert: In Jerusalem potenziert sich alles. Natürlich ist die religiös und politisch aufgeladene Spannung nicht leicht auszuhalten. Wir sitzen hier in einem Café. Die Sonne scheint, Kinder spielen in der Nähe. Eine solche Szenerie ist in Jerusalem genauso möglich, nur kann auf der anderen Straßenseite plötzlich eine Bombe explodieren, absolut zur gleichen Zeit. Innerhalb von wenigen Minuten sind die Ambulanz und die Polizei am Ort. Schreie, Schmerz. Ja, hier wird mehr toleriert als in Jerusalem, aber wir können nicht sagen, hier sind wir tolerant, und da sind die Leute intolerant. So einfach geht das nicht. Ich glaube, die Welt spricht zu uns durch diese Gleichzeitigkeit. Und in Jerusalem zeigt sich das deutlicher als anderswo.
Sigrid Brinkmann: Sie haben Germanistik und Journalistik in Moskau, Hannover und Berlin studiert. Dazwischen liegt ein Aufenthalt in San Francisco. Nicht mehr nur in den beiden Muttersprachen zu reden und zu denken, war das produktiv für Ihre literarische Arbeit?
Marina B. Neubert: Ich glaube, die Mehrsprachigkeit ist ein großes Geschenk. Jede Sprache sieht die Welt mit anderen Bildern. Jede Sprache fühlt die Welt anders, schmeckt sie anders. Und dann gibt es noch einen zwischensprachlichen Bereich, mit seinem eigenen Ausdruck. Es ist immer noch ein großes Erlebnis für mich, zu sehen, wie in diesem Zwischenraum neue Sprachbilder entstehen. Wenn ich schreibe, schreiben sich diese Bilder mit, weil sie in meinen eigenen Blick auf die Welt hineingewachsen sind. Zuhause habe ich Deutsch, Russisch und Jiddisch gehört. Wenn meine Großmutter und meine Tante nicht wollten, dass ich sie verstehe, haben sie Polnisch gesprochen. Aber sie haben mich unterschätzt, denn ich verstand Ukrainisch und ich konnte mir aus ihren Worten etwas zusammenreimen. Zwischen den Sprachen entstehen sehr oft solche Bilder und Assoziationsketten, die ich nie im Leben missen möchte.
Sigrid Brinkmann: Was hat Sie bewegt, ihr Leben zwischen Berlin und Jerusalem zu teilen?
Marina B. Neubert: Ich glaube, dass es tief in meiner Seele immer diese Sehnsucht nach Jerusalem gab. Nur konnte ich sie lange Zeit nicht benennen. Als ein Mensch, der gläubig ist, spüre ich diese Sehnsucht. Das Leben ist so unvorhersehbar. Der DAAD
Sigrid Brinkmann: Hat sich Ihr Verhältnis zur Religion verändert, seitdem Sie auch in Israel leben?
Marina B. Neubert: Mir ist absolut bewusst geworden, dass der Schabbat überall kommt, völlig unabhängig davon, wo du als jüdischer Mensch gerade lebst. Und das ist wunderbar. Am Freitagabend beginnt Schabbat. Auf Hebräisch „betritt“ er diese Welt. Es ist wirklich egal, wo du lebst, selbst im entlegensten Winkel dieser Erde kommt der Schabbat. Er beginnt genauso wie in Jerusalem, absolut genauso. Und das war für mich eine erfüllende Erfahrung. Natürlich wird der Schabbat in Jerusalem anders begangen als in Berlin. Die ganze Atmosphäre ist eben doch eine andere. Meine Nachbarn in Berlin zum Beispiel sind unglaublich offen und höflich. Sie achten darauf, am Samstag keinen Lärm zu machen. Aber dennoch haben sie ihren Tagesablauf, ihre Zeitlichkeit, und ich habe meine. In Jerusalem ist das natürlich anders, dennoch kommt Schabbat so oder so. Er hält mich tatsächlich am Leben und bestimmt auch über den Ort, an dem ich bin und nicht umgekehrt.
Sigrid Brinkmann: Wie verändert die räumliche und die kulturelle Distanz Ihren Blick auf Deutschland?
Marina B. Neubert: Deutschland bedeutet mir viel. Ich sage das ohne Pathos. Ich habe Deutschland viel zu verdanken, weil ich als junge Frau aus der Sowjetunion hierherkam und mich persönlich entfalten konnte. San Francisco, das war eine Übergangsstation. Ich sehe Deutschland keineswegs durch eine rosarote Brille, und es gibt gesellschaftliche Veränderungen, die mich nachdenklich machen. Aber trotzdem, je öfter ich aus meinem Alltag in Deutschland heraustrete, desto mehr Dankbarkeit empfinde ich und oft vermisse ich das Land. Es ist ein bisschen so wie mit der Familie. Wenn man ständig mit ihr zusammen ist, ärgert man sich manchmal und denkt, lieber wäre ich weg. Und dann ist man weg und man vermisst etwas. Mein kritischer Blick ist ein konstruktiver, wohlwollender Blick.
Sigrid Brinkmann: Im Vorfeld der Eröffnung der documenta 15
Marina B. Neubert: Rechtfertigen nicht, aber ich hatte schon das Gefühl, dass man eine
Die Schriftstellerin Marina B. Neubert bei der Buchpremiere ihres im Frühjahr 2022 erschienenen Romans „Was wirklich ist“ am 8.5.2022 in der Hansabibliothek in Berlin. (© Sharon Adler/PIXELMEER, 2022)
Die Schriftstellerin Marina B. Neubert bei der Buchpremiere ihres im Frühjahr 2022 erschienenen Romans „Was wirklich ist“ am 8.5.2022 in der Hansabibliothek in Berlin. (© Sharon Adler/PIXELMEER, 2022)
Erklärung von mir erwartet. Ich habe das nicht gemacht, weil ich denke, das ist nicht meine Aufgabe. Ich frage mich natürlich, was ist das überhaupt für ein Phänomen? Wie lebt man Toleranz, wie akzeptiert man Religionen und andere Lebensweisen, andere Meinungen und Denkweisen? Für eine demokratische Gesellschaft sind das zentrale Fragen. Wie kann es sein, dass sich Israel gegenüber so viel Intoleranz entwickelt? Was das Beispiel der documenta 15 zeigt, ist, dass es nicht unbedingt um die sachliche Auseinandersetzung geht. Man bleibt konsequent intolerant gegenüber einer Gesellschaft. Ginge es tatsächlich um die Kunstfreiheit, dann müssten die documenta-Macher gerade an einem Austausch interessiert sein. Für die Kunstfreiheit einzutreten, bedeutet schließlich, Positionen auszuhalten. Das gehört zur Demokratie. Ich vermute, dass die Fähigkeit der israelischen Juden, sich auf allen Ebenen gegen Angriffe zu verteidigen und zu wehren – überhaupt die Tatsache, einen Ort zu besitzen, an dem sich jeder Jude zuhause fühlen darf -, dass das für sehr viele Menschen nur schwer zu tolerieren ist. Und diese Intoleranz kann in der Tat schon sehr heftig und antijüdisch sein.
Sigrid Brinkmann: Wie denken Sie über Identitätsfragen?
Marina B. Neubert: Ich kann Herrmann Hesse nicht wortwörtlich zitieren, aber sinngemäß sagt er in seinem Roman Der Steppenwolf,
Sigrid Brinkmann: Was für ein schönes Bild. Beschreibt es nicht auch Ihr Lebensgefühl?
Marina B. Neubert: Mein Lebensgefühl beruht auf einer Grundhaltung und einer tiefen Empfindung: Erwartung und Dankbarkeit. Es geht aber nicht um eine existenzielle Erwartung, nicht um ein Beckett‘sches Warten, nicht um die Gefühle von Estragon und Wladimir, die nicht wissen, worauf oder auf wen sie warten.
Zitierweise: „Marina B. Neubert: „Jeder ist ein Sternenhimmel“, Interview mit Marina B. Neubert, in: Deutschland Archiv, 22.6.2022, Link: www.bpb.de/509606