"Liebe Kollegen, wir sind frei. Aber es wird schwerer für uns" (Klaus Werner)
„Nach Hammer und Sichel im Nacken möchte ich nicht unbedingt einen Mercedes-Stern auf der Stirn tragen.“ (Thomas Rosenlöcher)
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Was unterschied die Kunst im Osten und Westen? Und wie wandelte sich das Selbstverständnis von Künstlern und Künstlerinnen seitdem? Eine Rückschau aus Paris.
"Liebe Kollegen, wir sind frei. Aber es wird schwerer für uns" (Klaus Werner)
„Nach Hammer und Sichel im Nacken möchte ich nicht unbedingt einen Mercedes-Stern auf der Stirn tragen.“ (Thomas Rosenlöcher)
Bei der Konferenz "35 ans Chute du Mur" von Goethe-Institut und dem Deutschland Archiv der bpb am 7. und 8. Februar 2025 in Paris. Am Rednerpult der Kunsthistoriker und Autor dieses Beitrags, Eckhart Gillen. (© Goethe-Institut Paris / Eugénie Willaume)
Mein Beitrag fragt nach den Gründen, die dazu geführt haben, dass die Kunstbegriffe in der DDR und der BRD sich so grundsätzlich auseinander entwickelt haben bis die „Alchimie des Marktes“ nach der Wende dafür gesorgt hat, „daß auch zusammenwachsen wird, was nicht zusammengehört“,
Als in der DDR mit dem Fall der Mauer am 9. November 1989 der übermächtige Vater Staat und die für alles zuständige Mutter Partei plötzlich von der Bildfläche verschwanden, hinterließen sie ein Vakuum, das als Phantomschmerz viele ostdeutsche Künstler_innen mit der Tatsache konfrontierte, dass die vermeintliche Eigenart einer in 40 Jahren beschworenen eigenständigen „sozialistischen Nationalkultur“ mit einer besonderen „Kunst im Sozialismus“ auf einem ideologisch konstruiertem Feindbild beruhte, das den Westen pauschal auf Kapitalismus und latenten Neofaschismus reduzierte.
Der im späten 19. Jahrhundert im Deutschen Kaiserreich entstandene Antagonismus zwischen Kultur und Zivilisation, mit dem sich die kulturell überlegen fühlenden Deutschen von den angelsächsischen ‚Krämerseelen’ distanzieren wollten, wurde von der SED nach 1945 kurzerhand auf die beiden deutschen Teilstaaten übertragen. Die Bundesrepublik galt im Osten als Teil der angloamerikanischen Zivilisation des Kapitalismus und einer materialistischen Konsumkultur, die DDR dagegen behauptete, als Erbin der Kultur des Weimarer Humanismus das ‚bessere Deutschland’ zu sein, dass die Wahrheit und Moral auf ihrer Seite hat.
Mit dem Ende der DDR sahen deshalb viele Schriftsteller_innen, Künstler_innen und Intellektuelle diese humanistische Kultur bedroht vom westlichen Liberalismus. Dieser habe der Kunst die Würde genommen, ihr das ‚Menschenbild‘ ausgetrieben und sie zu einer Ware auf einem anonymen Kunstmarkt gemacht. Der Leipziger Künstler Jörg Herold beschrieb die Wende als „Entlassung aus einer Ideologie und Ankunft in der Beliebigkeit.“
Wenige Wochen nach der ersten Großdemonstration am 4. November 1989 auf dem Alexanderplatz in Ostberlin, offenbarte der von Stefan Heym und Christa Wolf initiierte Aufruf „Für unser Land“ die tiefe Entfremdung zwischen einigen mit Dauervisa ausgestatteten Intellektuellen und „ihrem Volk“ in der DDR. Sie warnten die Bevölkerung vor den kapitalistischen Versuchungen im Westen und forderten stattdessen Verzicht und Askese auf einem „dritten Weg“ zwischen real existierenden Sozialismus und Kapitalismus. Das Fortbestehen einer eigenständigen DDR als Alternative zur Vereinigung mit der Bundesrepublik wurde begründet mit der Besinnung „auf die antifaschistischen und humanistischen Ideale, von denen wir einst ausgegangen sind.“
Die Schriftstellerin aus der ehemaligen DDR, Christa Wolf, bei einer Lesung in Berlin-Köpenick. (© AP)
Die Schriftstellerin aus der ehemaligen DDR, Christa Wolf, bei einer Lesung in Berlin-Köpenick. (© AP)
Christa Wolf befürchtete einen Ausverkauf dieser kulturellen und humanistischen Werte, die in der Literatur und Kunst der DDR bewahrt worden seien. Diese Werte wurden und werden immer noch gegen den Liberalismus und Pluralismus der westlichen Zivilisation ausgespielt. Die katastrophalen Folgen der gemeinsamen Frontstellung der radikal linken und rechten Parteien gegen die libertäre Weimarer Republik sollte dabei nicht in Vergessenheit geraten.
Sowohl die kritisch-loyalen Maler der älteren Generation, wie auch die Künstler der Alternativszene sahen sich nach der Wende gemeinsam in einer Identitätskrise. Für die einen ist vorerst das Projekt Sozialismus gescheitert, sie beklagten den Utopieverlust, der jede künstlerische Arbeit sinnlos mache. Für die anderen fehlte der vertraute Gegner, die repressive Toleranz der antifaschistischen Erziehungsdiktatur, gegen die man in der Nestwärme der lokalen Bohèmezirkel Schutz suchte und fand.
Bis zum Ende der DDR definierte sich die Qualität und Bedeutung des Kunstwerkes nach der mit ihm demonstrierten Haltung: wie eindeutig zeigt es Verweigerung, kritische Affirmation, ehrliches Engagement für den Sozialismus oder Kollaboration mit dem „aus heutiger Sicht“ plötzlich nur noch verbrecherischen Regime? Wichtiger als das Kunstwerk war die „moralische Identität“ der künstlerischen Persönlichkeit.
Exemplarisch wird der Konflikt 1991 sichtbar in einem Gespräch zwischen der ostdeutschen Schriftstellerin Christa Wolf und dem westdeutschen Philosophen Jürgen Habermas über eine neue Stunde Null 1989: Wolf behauptet, es habe in beiden deutschen Teilstaaten „Anpassungen an die Mentalität und Kultur der jeweils dominierenden Weltmächte gegeben“. Habermas protestiert gegen diese „merkwürdige Konvergenzthese“. In der BRD sei nach 1945 „eine keineswegs erzwungene“ Hinwendung zu den intellektuellen und politischen Traditionen des Westens erfolgt, die eine als „Emanzipation erfahrene Orientierung“ gewesen sei. Habermas plädiert also für die resolute Westbindung, die westdeutsche Künstler_innen und Intellektuelle nach 1945 aus Überzeugung und aus freien Stücken eingegangen seien.
Der
Im Westen war die Funktion der Kunst ihre Funktionslosigkeit, während sie im Osten das Noch-Nicht-Bestehende im Dienst der Erziehung der Bevölkerung behaupten musste. Das Kunstschöne als Konstruktion eines Ideals hatte in beiden Gesellschaftssystemen in den 1950er-Jahren die „Mängel der unmittelbaren Wirklichkeit“ (Georg Wilhelm Friedrich Hegel) zu kompensieren. Während im Osten das Leben revolutioniert werden sollte, galt im Westen die illusionslose Feststellung, „es gibt kein richtiges Leben im falschen“ (Theodor W. Adorno).
Die Polarisierung der Kunstbegriffe – im Westen eine Kunst, die im Namen der Freiheit konsequent zu sich selbst findet und nichts anderes als die eigenen Formmittel vorzeigt und im Osten bis in die 1960er-Jahre die Kunst als Botschaft einer besseren Welt, als sinnlicher Vorschein der kommunistischen Utopie – geht zurück auf die Vorkriegszeit, wird aber erst im Kalten Krieg zu einem Medium der Systemauseinandersetzung.
In den Vereinigten Staaten von Amerika lösten die stalinistischen Schauprozesse 1936-38 in Moskau und der Hitler-Stalin-Pakt 1939 die Abwendung von einem in den 1930er-Jahren in Amerika weit verbreiteten sozialen Realismus mit Klassenkampfcharakter aus und setzten einen Wandel im Verhältnis der amerikanischen Künstler_innen zur Ideologie, Politik und Geschichte in Gang. Marxisten wie der Kunsthistoriker Meyer Schapiro oder der Kunstkritiker Clement Greenberg verteidigten jetzt in kommunistischen Zeitschriften, wie zum Beispiel der 1934 gegründeten Partisan Review, vehement die Freiheit und das Individuelle als Grundwerte, die im Gegensatz zur industrialisierten Welt nur noch in der Kunst zu finden seien.
Jackson Pollock in Aktion: bei der Arbeit an One: Number 31, 1950. (© VG Bildkunst/Hans Namuth)
Jackson Pollock in Aktion: bei der Arbeit an One: Number 31, 1950. (© VG Bildkunst/Hans Namuth)
Mit einem opulent bebilderten Artikel im Magazin Life erschien im August 1949 Jackson Pollock mit der rhetorischen Frage „Is he the greatest living painter in the United States?“ als ein neuer Künstlertypus in der Öffentlichkeit, dessen Pinselduktus seinem persönlichen, von der Außenwelt unbeeinflussbaren seelischen Empfinden Ausdruck gibt. Mit dem Verzicht auf jeden mimetischen oder literarischen Bezug zur Außenwelt, verteidigt er seine absolute Freiheit, seine Unabhängigkeit von Auftraggebern und weist jede Nützlichkeit für die Gesellschaft entschieden zurück. Authentizität, Kreativität und Spontaneität waren jetzt gefragt, keine Botschaften.
Mehr und mehr neigten die Künstler der Ideologie der Mehrheit, dem Liberalismus, zu, der Freiheit, persönliches Risiko und Humanismus propagierte und neben dem Faschismus auch dem Sowjetmarxismus im Kalten Krieg Paroli bieten sollte. In einer Rede vor der American Federation of Arts im Mai 1948 erklärte der ab 1949 als Direktor des Museum of Modern Art amtierende René d’Harnoncourt, der moderne Künstler habe sich von einem kollektiven Stil befreit und entwickle „seinen Stil nach dem Bild seiner eigenen Persönlichkeit“. Dieser Stil ist Ausdruck einer demokratischen Ordnung, in der „die Freiheit des Individuums mit dem Wohl der Gesellschaft in Einklang gebracht wird“. Führendes Symbol dieser Gesellschaftsordnung sei „die moderne Kunst in ihrer unendlichen Vielfalt und unablässigen Suche“.
Im Dualismus zwischen Individuum und Kollektiv, Freiheit und Gleichheit konnte die amerikanische und die, von ihr inspirierte, westdeutsche Kunst zur ideologischen Waffe des freien Westens gegen den Totalitarismus der Sowjetunion werden.
Die New Yorker Abstrakten Expressionisten entwickelten zusammen mit den Pariser Tachisten und den westdeutschen Künstlern des Informel in der Auseinandersetzung mit dem Surrealismus, dem Existentialismus, der Mythologie und Psychoanalyse eine völlig neue Form von Kunst als Reaktion auf den totalen Krieg, Auschwitz und Hiroshima, die jede Form klassischer Komposition, auch die geometrische Abstraktion ablehnte zugunsten einer hierarchiefreien und prozessualen Form der Malerei gegen das Komponieren mit einem planenden Bewusstsein.
Im Vergleich zu den 1930er-Jahren mit Organisationen wie dem John Reed Club und der Art Front entpolitisierte sich die Kunst in Amerika und Westeuropa, „denn es war“, so Arnold Gehlen, „jetzt unmöglich geworden, die jeweils neueste Richtung mit politischen Vorstellungen nach links hin glaubhaft zu verbinden. Damit wurde die Kunstrevolution von den politischen Nebengeräuschen befreit, d.h. in die bloße Kunstimmanenz hineingezwungen.“
Auffallend viele amerikanische Unternehmer unterstützten die Abstrakten Expressionisten durch Ankäufe. Vergleichbar ist das Engagement des Kulturkreises des Bundesverbandes der deutschen Industrie für die informelle Malerei in der Bundesrepublik. Früher als die Politiker erkannte der CIA das propagandistische Potential einer unbequemen Kunst, „geschaffen von alten Linken, die aus dem europäischen Surrealismus hervorgegangen waren“, erklärt der Kunstkritiker Philip Dodd
Die Amerikaner waren sich bei ihrem Versuch, die westdeutschen Künstler zu Demokratie und Freiheit zu erziehen, natürlich bewusst, dass eine ganze Generation der zwischen 1915 bis 1930 Geborenen unter der Nazi-Indoktrination und ohne Kenntnis der modernen Kunstentwicklung aufgewachsen waren. Daher wollten sie vor allem sicherstellen, dass die deutschen Künstler Zugang zur westlichen Kunstentwicklung erhielten.
Um den Export der neuen, politisch gezähmten, ideologiefreien, dafür existentiell aufgeladenen amerikanischen Avantgarde in Form von Wanderausstellungen der Abstrakten Expressionisten nach Europa und vor allem nach Westdeutschland zu organisieren und zu finanzieren, wurde das privat finanzierte Flaggschiff der Moderne, das Museum of Modern Art angesprochen, das mit seinem International Program praktisch als nichtstaatliche Tarnorganisation des CIA, ohne offiziell mit dem Geheimdienst verbunden zu sein, seit 1948 die großen Vorbildausstellungen organisierte, die durch Europa tourten und die Freiheit der Kunst propagieren sollten.
Blick in die Ausstellung Jackson Pollock Retrospektive, 1958 in der Hochschule für Bildende Künste Berlin. (© VG Bildkunst/Archiv E.Gillen)
Blick in die Ausstellung Jackson Pollock Retrospektive, 1958 in der Hochschule für Bildende Künste Berlin. (© VG Bildkunst/Archiv E.Gillen)
1958 kam zum Beispiel die Ausstellung Die neue amerikanische Malerei nach Westberlin. Fast gleichzeitig schickte das International Program des MoMA die Retrospektive Jackson Pollock 1912-1956 von 1957 bis 1959 durch Europa. Sie wurde neben vielen anderen Stationen als Teil der legendären Doppelausstellung vom 3. September bis 5. Oktober 1958 in der Berliner Hochschule für bildende Künste gezeigt. Dank der Listen über verkaufte Eintrittskarten und Kataloge im Archiv der Hochschule wissen wir, dass diese Ausstellung auch auf den Ostteil der Stadt und die DDR ausstrahlte.
Inspiriert durch das amerikanische Beispiel suchten die westdeutschen Künstler damals Anschluss an eine das Verdrängen des deutschen Zivilisationsbruchs fördernde „Weltsprache Abstraktion“ (Werner Haftmann)
Max Ackermann, Überbrückte Kontinente XXI, 1952. (© VG Bildkunst/Archiv E.Gillen)
Max Ackermann, Überbrückte Kontinente XXI, 1952. (© VG Bildkunst/Archiv E.Gillen)
So erinnert Max Ackermanns Gemäldeserie Überbrückte Kontinente 1952 bis 1954 an die Idee der beiden korrespondierenden Luftbrückendenkmäler am Berliner Flughafen Tempelhof und am Rhein-Main-Flughafen. 1951 stellte die Zeitschrift das kunstwerk (Heft 5) in polemischer Absicht Willi Baumeisters Gemälde Kosmische Geste und Walther Meinigs Bild Ein neuer Traktor kommt gegenüber. Hart stößt die kosmische Harmonie als Symbol grenzenloser Freiheit und der Traktor als Vehikel gesellschaftlicher Nützlichkeit aufeinander. Die Kunst liefert hier eindeutige Identifikationsmerkmale für die Systemauseinandersetzungen um widerstreitende Ideologien und kulturelle Welt- und Menschenbilder.
In der Sowjetischen Besatzungszone bezog die Gruppe Ulbricht ihre Macht einzig und allein von der Sowjetischen Militäradministration, die mit dem Befehl Nr. 1 am 9. Juni 1945 errichtet worden war.
Der selbst ernannte antifaschistische Staat DDR leugnete seine Verantwortung für die deutschen Geschichte, auch zum Beispiel für die Enteignung der Jüdinnen und Juden. Angesichts der Tatsache, dass sich noch Mitte der 1950er Jahre die SED-Mitgliedschaft zu fast einem Drittel aus ehemaligen NSDAP-Mitgliedern zusammensetzte, hatte die DDR, ebenso wie die Bundesrepublik Deutschland mit ihren NS-Angehörigen in höchsten Ämtern, gute Gründe, von der deutschen Schuld abzulenken und von den Künstler_innen stattdessen zu fordern, ihren Blick nach vorne auf die Zukunft des sozialistischen Aufbaus zu richten.
Uwe Johnson formuliert, zwei Jahre nachdem er die DDR 1959 verlassen hatte, den antifaschistischen Konsens, der zum moralischen Grundgesetz der DDR geworden ist, in seinem Versuch, einem Bundesbürger die DDR zu erklären: „Die DDR als Lehrerin, so streng und wunderlich sie auftrat, konnte sich lange Zeit fast unbedenklich verlassen auf die beiden moralischen Wurzeln des Antifaschismus und Antikapitalismus [...] Bürger und Staat konnten einfach um der Wahrheit willen zueinander stehen gegen die unzutreffenden Interpretationen von seiten westlicher Scharfmacher.“
Einerseits verlangte die SED Strafe, Sühne und Läuterung eines schuldig gewordenen Volkes, andererseits durften diejenigen, die das ‚richtige’ Bewusstsein und das richtige Parteibuch hatten, sich als „Sieger der Geschichte“
Der Medien-Künstler Lutz Dammbeck stellte bei seinen Recherchen nach den kommunistischen Widerstandskämpfern in Leipzig ernüchtert fest, dass die Archivmappen leer waren. Der Antifaschismus entpuppte sich als Chimäre. Mit seiner medialen Herakles-Höhle stieß er unweigerlich auf Analogiesituationen zwischen NS-Staat und SED-Staat: „Die Erziehung sagt dir, du darfst sowas nicht einmal denken, obwohl es sich aufdrängt.“ Selbst nach seiner Ausreise und Ankunft in Hamburg „gab es das unterschwellige Gefühl, etwas ‚Ungehöriges’ zu sagen, eine Scheu, das auszusprechen.“
Für die Künstler_innen in der DDR wuchs der Druck, Das Große Vorbild
Die rhetorische Frage, wie und was sollen die Künstler_innen stattdessen malen, blieb bis zum Ende der DDR unbeantwortet, weil die Frage eine politische, keine ästhetische Frage ist und von den jeweiligen Kurswechseln der Parteipolitik zwischen Tauwetter und Repression abhing. Der Sozialistische Realismus ist nichts anderes als die politische, d.h. parteiliche Einstellung des Künstlers zur Wirklichkeit. Der Künstler wird für diese verantwortungsvolle Aufgabe von der Partei erzogen, die in ihrer kollektiven Weisheit unfehlbar ist. Auch in der DDR wurden daher Vorbildausstellungen organisiert, die den Sozialistischen Realismus propagieren sollten.
Wassili Prokofjewitsch Jefanow, Sitzung des Präsidiums der Akademie der Wissenschaften der UdSSR, 1951. (© VG Bildkunst/Archiv E.Gillen)
Wassili Prokofjewitsch Jefanow, Sitzung des Präsidiums der Akademie der Wissenschaften der UdSSR, 1951. (© VG Bildkunst/Archiv E.Gillen)
Zehn Tage nach dem Arbeiteraufstand vom 17. Juni 1953 eröffnete im Ostberliner Pergamon-Museum die Ausstellung „Sowjetische und vorrevolutionäre russische Kunst“. Im Zentrum hing das Monumentalgemälde Sitzung des Präsidiums der Akademie der Wissenschaften der UdSSR, 1951 (297 x 585 cm!), das der Akademiker Wassili Prokofjewitsch Jefanow und ein Künstlerkollektiv unter seiner Leitung mit akribisch ausgeführten Porträts aller Präsidiumsmitglieder nach Fotografien gemalt hatte.
Im Rahmen eines liberaleren „Neuen Kurses“, kam es dann auf der außerordentlichen Vorstandssitzung des VBKD am 14. November 1953 zu einer denkwürdigen Auseinandersetzung zwischen Jefanow und dem Bildhauer Fritz Cremer, der mit der Autorität seines Buchenwalddenkmals auf die skandalöse Nähe vieler Bilder der III. Deutschen Kunstausstellung im Dresdener Albertinum (Frühjahr 1953) zur NS-Malerei hinwies. Jefanow konnte diese Verwandtschaft nicht erkennen und Cremer antwortete ihm: „Das ist es ja eben, das ist für sowjetische Künstler nicht zu sehen; aber für uns ist es zu sehen.“
Die Malerin Lea Grundig (© Bundesarchiv, Bild 183-R88551 / Fotograf: o.Ang.)
Die Malerin Lea Grundig (© Bundesarchiv, Bild 183-R88551 / Fotograf: o.Ang.)
Lea Grundig als Vertreterin der Weimarer Generation erklärte auf dieser Sitzung empört: „Vor allen Dingen unserer Generation, zu der Kollege Cremer gehört, zu der viele unserer Kollegen und zu der auch ich gehöre, hat man wirklich die Füße abgeschnitten, mit denen wir auf dem Boden standen, und man hat von uns verlangt, wir sollten unser gesamtes, bis dahin geschaffenes Werk für begraben erklären und völlig von neuem anfangen.
Ich möchte hier daran erinnern, daß es in der Nachfolge von Käthe Kollwitz in Deutschland eine Gruppe Assoziation revolutionärer bildender Künstler gegeben hat, die absolut auf dem Boden des Klassenkampfes gestanden und fest an der Seite der kommunistischen Partei mit den Mitteln der bildenden Kunst gekämpft hat. Alles [...] das ist ‚Formalismus’“.
In der Folge musste, angefangen mit dem proletarisch-revolutionären Kunst der ASSO in den 1960er-Jahren
Die Grunderfahrung eines Künstlers wie Georg Baselitz, der von der Hochschule für Bildende und Angewandte Kunst in Berlin-Weißensee 1957 exmatrikuliert wurde wegen seiner Beschäftigung mit Picasso und sich in Westberlin neu erfinden musste, ist den meisten Künstler_innen in der DDR gar nicht bewusst gewesen: „Das wichtigste war für mich, in all dem den Gedanken der Avantgarde zu spüren, der Zerstörung der Bilder, die vorausgegangen waren.“
In der Regel haben die Künstler_innen in der DDR genau das nicht gemacht in der Auseinandersetzung mit ihren Favoriten aus der Vorkriegsmoderne.
Den stärksten Fußabdruck in der Kunst der DDR hinterließ der deutsche Expressionismus. Mit der Generation von Bernhard Heisig beginnend, setzte er sich bei seinen Schülern, wie zum Beispiel Hartwig Ebersbach, in den 1960er-Jahren fort und fand, zeitgleich mit den Westberliner Neuen Wilden im Umfeld der Kreuzberger Galerie am Moritzplatz, seinen Höhepunkt in den 1980er_Jahren mit den Neoexpressiven am Prenzlauer Berg in Ostberlin. Trotz aller Unterschiede der Mentalität und der Intensität der Gefühle wurden die Künstler_innen in den 1980er-Jahren getragen von einem gemeinsamen Lebensgefühl zwischen Ahnungen und unbestimmbaren Ängsten, melancholischen Stimmungen des Scheiterns und dem Willen, alle Regeln zu brechen, Grenzen zu überschreiten, etwas auszuprobieren. Gemeinsam lehnten sie in Ost und West jede Form der Weltverbesserung mit ihrer Kunst ab. Der Glaube an Utopien und eine sinnvolle Geschichte war ihnen schon lange verloren gegangen.
Im Osten drängten die uneingelösten Hoffnungen und Versprechungen des Sozialismus an die Bildoberfläche. Unter dem Kesseldruck des vormundschaftlichen Staates entwickelten die Künstler_innen eine eigene, unverwechselbare Intensität, die Einblicke in den Aufruhr der Seelen gewährte und vom Lebensgefühl einer poststalinistischen Generation kurz vor der fast geräuschlosen Implosion des Ostblocks zeugte. Zunächst noch vorsichtig reihte Jörg Makarinus diese Entwicklung als „expressive Gestaltungsweisen innerhalb der Methode des sozialistischen Realismus“ in den ästhetischen Kanon der DDR-Kunst ein.
Ein Jahr später, 1986, war der Expressionismus, der in der DDR lange Zeit als Spiegelbild der Dekadenz und des Verfalls der imperialistischen Epoche in Deutschland galt, mit der großen Ausstellung Expressionisten. Die Avantgarde in Deutschland von 1905 bis 1920 in beiden Etagen der Nationalgalerie in Ost-Berlin zum ersten Mal offiziell anerkannt worden.
Ralf Kerbach, Ohne Titel, 1983. (© VG Bildkunst/Archiv E.Gillen)
Ralf Kerbach, Ohne Titel, 1983. (© VG Bildkunst/Archiv E.Gillen)
Für den aus Dresden nach Westberlin übergesiedelten Maler Ralf Kerbach erwies sich die Konfrontation mit den neuen Wilden als produktiv: „Das, was ich hier erreicht habe, hätte ich in Dresden nicht geschafft. Die Auseinandersetzung mit der Kunstszene hier gab mir einen großen Schub nach der selbstgenügsamen Dresdner Zurückgezogenheit und Selbstzufriedenheit.“
Im Vergleich zwischen Ralf Kerbach und dem Rheinländer Walter Dahn werden die mentalen Unterschiede zwischen dem Osten und Westen deutlich. Kerbach zeigt sich 1983 als Wahrheitssucher fröstelnd im Wintermantel mit hochgeschlossenen Pelzkragen. Mit der Palette in Form eines Herzens, die er an seine linke Brust drückt, und einer brennenden Kerze auf der Handfläche seines ausgestreckten linken Armes schwebt er von Stacheldrähten zerrissen im Raum.
Walter Dahn, Nach(t)krieg, 1982. (© VG Bildkunst/Archiv E.Gillen)
Walter Dahn, Nach(t)krieg, 1982. (© VG Bildkunst/Archiv E.Gillen)
Walter Dahn stellt 1982 auf seinem Bild Nach(t)krieg die Verhältnisse auf den Kopf. An der formatfüllenden brennenden Kerze mit der Malerfaust hängt ein fliegengroßes Männlein tief im Bildraum. Sarkastisch wird die Diskrepanz sichtbar zwischen dem künstlerischen Anspruch, die Wahrheit zu suchen, das Chaos der Begriffsverwirrungen und Komplexitäten auszuleuchten (Kerze), und dem Eskapismus vieler Künstler, die „ihre Bilder runterpinseln auf der Suche nach ‚nem möglichst unverwechselbaren Stil...“.
Auf Werner Büttners Bildern, die er selbstbewusst bad paintings nennt als Warnung an die Sammler, ist das in der DDR gepflegte humanistische Idealbild des Künstlers als Schöpfer und Genie, Erschaffer des Neuen buchstäblich auf den Hund gekommen.
Der Bildtitel "Wirklichkeit erschlägt Kunst" (1980) seines Mitstreiters Albert Oehlen bringt es auf den Punkt: „Der Titel ist nicht resignativ zu verstehen, sondern stellt nur die Verhältnisse klar. Und das ist wichtig, wenn die Kunst sich an die Wirklichkeit heranmachen will. Also ich würdige mittlerweile wirklich stumpfes Reagieren auf harte Erlebnisse.“
Der Vergleich der Malerei im Westen Deutschlands und in der DDR zeigt die fundamentalen Unterschiede zwischen dem tragischen Basso continuo östlicher Befreiungskämpfe aus dem Klammergriff des vormundschaftlichen Staates und einem respektlosen, pathosbrechenden Umgang mit dem künstlerischen Erbe der Vorkriegsmoderne im Westen. So parodiert der Lehrer der neuen Wilden in Westberlin, Karl Horst Hödicke, mit seinem Triptychon Der Große Schlachter als „trainierter Tachist“
Karl Horst Hödicke, Triptychon "Der Große Schlachter", 1983. (© VG Bildkunst/Archiv E.Gillen)
Es geht Hödicke nicht um tiefe Gefühle und deutsche Inhalte, sondern um eine intelligente Auseinandersetzung mit Oberflächen und Wahrnehmungsproblemen. Er brachte seinen Schülern und Schülerinnen bei, wie man mit allen Medien arbeitet. Neben Performance und Video war die Aktionsmalerei der Neo-Expressionisten am Moritzplatz mit der schnelltrocknenden Acrylfarbe Teil einer lifestyle-Kunst, die, vergleichbar mit den modischen ‚remakes’ der Kulturindustrie, gemalte Erlebnisreisen durch die Kreuzberger Nächte suggerierte und mit den bekannten Versatzstücken und Klischees vom Großstadtdschungel und der Hure Babylon anreicherte.
Gerhard Richter war sowohl ein anerkannter Wandbildmaler des Sozialistischen Realismus in Dresden als auch ein erfolgreicher Maler im Westen, der mit 29 Jahren noch einmal ganz von vorne anfangen musste. Auf einer seiner Reisen in den Westen, die ja bis zum Mauerbau 1961 prinzipiell möglich waren, besuchte er 1959 die documenta 2 in Kassel. Die Bilder von Pollock und Fontana dort empfand er als „Unverschämtheit! Von der war ich fasziniert und sehr betroffen. Ich könnte fast sagen, daß diese Bilder der eigentliche Grund waren, die DDR zu verlassen. Ich merkte, daß irgend etwas mit meiner Denkweise nicht stimmte.“ In der DDR „da lebte ich in so einem Kreis, der ein moralisches Anliegen für sich in Anspruch nahm, der überbrücken wollte, einen Mittelweg suchte zwischen Kapitalismus und Sozialismus, einen sogenannten dritten Weg. Und so kompromißlerisch war auch dann unsere Denkweise und das, was wir in der Kunst suchten. Das war also gar nicht radikal [...], sondern voller falscher Rücksichten.“
Nach den in seine Augen vergeblichen Versuchen, einen Mittelweg zwischen Staatskunst und persönlichem Ausdruck zu finden, verließ er 1961 Dresden und begann ein neues Kunststudium an der Düsseldorfer Kunstakademie bei dem informellen Maler Karl Otto Goetz. Aus einem Kunstsystem kommend, in dem künstlerische Subjektivität verpönt war (die Parole lautete ja „Vom Ich zum Wir“), wird im Westen die Subjektivität, die sich im Abstrakten Expressionismus und der informellen Malerei in den 1950er-Jahren triumphal als Symbol der Freiheit manifestiert hat, genau in dem Moment radikal durch die amerikanische Pop Art in Frage gestellt, in dem Richter die Systemgrenze überschritten hatte.
Richter griff unerschrocken die affirmative Pop Art auf und betrachtet diese mit dem von ihm geprägten ironischen Begriff „Kapitalistischer Realismus“ als Kritik an der Manipulation des Betrachters durch die Werbung vergleichbar seiner eigenen ideologischen Praxis in der DDR als Sozialistischer Realist, der dem betrachtenden Volk die zukünftige Arbeit als Lebens- und Glückserfüllung an die Wand malte, 1956 als Wandbild im Deutschen Hygienemuseum:
Gerhard Richter, Lebensfreude, 1956, Wandbild, Deutsches Hygienemuseum, Dresden, übermalt, inzwischen teilweise wieder freigelegt. (© VG Bildkunst/Archiv E.Gillen)
Im Westen plötzlich allein auf sich gestellt ohne den staatlichen beziehungsweise parteilichen Auftraggeber, befreite sich Richter vom Zwang, mit seiner Malerei etwas erfinden zu müssen, indem er sich seit 1962 scheinbar willenlos den unbekannten Intentionen anonymer Fotografen auslieferte, die er abmalte und mit dem Pinsel verwischte. Sie befreien ihn von der Qual originell zu sein: „nichts erfinden, keine Idee, keine Komposition, keinen Gegenstand, keine Form - und alles erhalten: Komposition, Gegenstand, Form, Idee, Bild“.
Mit Richters Demonstration für „Volker Bradke“ in der Galerie Schmela im Jahre 1966 geht das Projekt des Kapitalistischer Realismus als Form der Auseinandersetzung mit dem Sozialistischen Realismus zu Ende. Er widmet den Galerieraum einem Abiturienten, der auf allen Vernissagen in Düsseldorf auftauchte. An der Stirnwand steht in großen Lettern nur der Name des Heroes of the Day. Sicher in Absprache mit Richter ist im Katalog seiner ersten Retrospektive 1986 in der Kunsthalle Düsseldorf ein Foto von Gerhard Richter und einer Fahne mit dem Konterfei von Volker Bradke im Galerieraum neben dem Ausschnitt seines Wandbildes, das er Anfang 1958 für das Haus der Bezirksleitung Dresden der SED gemalt hat, abgebildet.
Gerhard Richter: Detail aus einem Wandbild für den Rat des Bezirks Dresden; Gerhard Richter, Demonstration für Volker Bradke, Galerie Schmela, 1966. Doppelseite aus dem Katalog der ersten Retrospektive von Gerhard Richter in der Kunsthalle Düsseldorf 1986. (© VG Bildkunst/Archiv E.Gillen)
Gerhard Richter: Detail aus einem Wandbild für den Rat des Bezirks Dresden; Gerhard Richter, Demonstration für Volker Bradke, Galerie Schmela, 1966. Doppelseite aus dem Katalog der ersten Retrospektive von Gerhard Richter in der Kunsthalle Düsseldorf 1986. (© VG Bildkunst/Archiv E.Gillen)
Zu sehen ist auf dem Wandbild eine Frau mit wehender roter Fahne, die sich über einen rücklings zu Boden sinkenden Arbeiter beugt, während im Hintergrund, zum Kampf mit der ‚kapitalistischen’ Polizei entschlossene Arbeiter vorbeiziehen.
Richter reagiert mit der Pose der Eigenschaftslosigkeit auf die Rolle des Künstlers in der „Diktatur des Proletariats“, der den anonymen Weisungen austauschbarer Funktionäre folgt, dabei sein Ich aufgibt und den sozialistischen Realismus schafft. Er findet im Prozess der Wiederholung dieser Propagandakunst im Westen den illusionslosen, kapitalistischen Realismus, der in der Pop Art von Warhol sich manifestiert: die Einsicht, es mache keinen Sinn, Utopien, Ideen, Botschaften oder gute Absichten zu verfolgen, außer dem Gebot des Marktes zu folgen, zu produzieren, dafür bezahlt zu werden und Berufskünstler zu sein.
Der unerwartete Untergang der DDR, in der er aufgewachsen und sozialisiert worden war, löste eine Krise in seiner künstlerischen Produktivität aus. Nach dem Rücktritt des Politbüros im Dezember 1989 verließ er enttäuscht die SED, der er seit 1947 angehörte, und gab die staatlichen Auszeichnungen, aber auch die damit verbundenen Geldpreise zurück, mit der Begründung: „Das bisher bekannt gewordene Ausmaß an Machtmißbrauch und Korruption in der ehemaligen Führungsspitze der DDR läßt mich die durch die damalige Staatsführung für meine künstlerische Arbeit mir erwiesenen Ehrungen nicht mehr als solche empfinden.“ Die plötzlich weggefallene vertraute Reibung mit seinem Gegenspieler, der immer ganz genau hingeschaut hat, was er gemalt hatte, begleitete ihn als Symptomschmerz an der Staffelei und fand seinen Ausdruck im manischen Zwang, seine Gemälde immer wieder zu korrigieren und zu übermalen.
Bernhard Heisig, Der verbrauchte Ikarus. (© VG BIldkunst/Archiv E.Gillen)
Bernhard Heisig, Der verbrauchte Ikarus. (© VG BIldkunst/Archiv E.Gillen)
Sein zwischen 1993 und 1998 entstandenes Gemälde, das er Der verbrauchte Ikarus genannt hat, ist ein Symptom dieser Krise. Nicht nur die Figur des Ikarus, nein, die ganze Bild-Komposition ist abgestürzt und in sich zusammengefallen wie ein nicht aufgegangenes Soufflé. Die Einzelteile des Bildes kann der Betrachter, wenn er will, sich wie bei einem Puzzle zusammensuchen: Köpfe, Hände, Augen, Beine, Münder, Stiefel, Flugzeugteile. In diesen gemalten Haufen von Requisiten vergangener Gemälde schreibt der Maler anklagende, resignierende Sätze, die wie Klebstreifen die Teile notdürftig zusammenhalten: DU STIRBST FÜR DICH – DEINE LEISTUNG WIRD DIR GESTRICHEN – ES WIRD DIR NICHT ZUGESEHEN.
Demonstrativ verweigert das Bild die Darstellung der Ikarusfigur, in der Heisig das Sinnbild seiner künstlerischen Arbeit sah: Sie hat sich verbraucht, macht in der neuen Gesellschaftsordnung, in der nach seiner Überzeugung Kunst beliebig und austauschbar geworden ist, keinen Sinn mehr.
Die Autoperforationskünstler Michael Brendel, Else Gabriel, Rainer Görß, Via Lewandowsky reagierten in Dresden auf das letzte Aufflackern der Utopie-Erwartungen unter den Reformern und Dissidenten kalt und unsentimental. Via Lewandowsky sagt: „Wir hatten keinen Bezug mehr dazu. ... Wir konnten vieles nicht mehr ernst nehmen. ... Selbst die Dissidentenszene erschien uns plötzlich anachronistisch. ... Wir haben mehr das Lächerliche gesehen als das Angsteinflössende.“
Radikaler als viele ihrer Kolleg_innen hatten sie die Tiefendimensionen der von der stalinistisch geprägten Sowjetunion übernommenen „totalitären Diktatur“
Der Dichter Durs Grünbein, der bei der Performance "Deutsche Gründlichkeit" als Sparringspartner von Via Lewandowsky am 22. Juni 1989 in der Ostberliner Galerie Weißer Elefant mitwirkte, bringt die Widersprüche im Arbeiterstaat auf den Punkt:
Via Lewandowsky und Durs Grünbein, Galerie Weißer Elefant, Performance "Deutsche Gründlichkeit", 22. Juni 1989, Berlin. (© VG Bildkunst/Archiv E.Gillen)
„Das Problem des Sozialismus waren Leute, die Parteigenossen waren, die stellten sich irgendwo hin und hielten Ansprachen an die Werktätigen […]. In unserer Performance dagegen heisst es shut up und dann bin ich sozusagen zum Verstummen gebracht worden und nun kommen die Elemente auf mich zu: die Braunkohle, der wirkliche Dreck, die Arbeit, der Lärm. […] Ich lag da in der Ecke wie ein ausgeschalteter sozialistischer Parteitagsredner, der jetzt den Kohlenruß ins Gesicht geblasen bekommt. Wenn Du den Weg der Braunkohle durch die Gesellschaft verfolgt hast, konntest Du viel ablesen. […]
Oben sitzt die Parteileitung und macht sich die Pfoten nicht schmutzig und irgendwann die Ingenieure usw. Und noch die Leute in der großen Fertigungshalle fühlten sich immer noch als was Besseres gegenüber dem Heizer im Keller. Schon in der Kantine ging es los. Man rückte etwas von ihm ab, der war schmutzig, der kam wie aus der tonischen Erde usw. Das war toll, diese Widersprüche. Der Gott hieß Braunkohle, das war das, was den ganzen Scheiß zusammenhielt. Und der Heizer wusste, wenn ich hier nicht arbeite, bleibt die Halle kalt ihr Arschlöcher und überhaupt bleibt alles stehen. Das hat mich immer fasziniert, das Unbewusste dieser komischen Gesellschaft, das wurde ja nie aufgearbeitet.“
Eine Ergänzung zu Eckhart Gillen von Hans-Peter Lühr, ebenfalls vorgetragen in Paris. Der Dresdener Historiker und Publizist war von 1990 bis 2016 verantwortlicher Redakteur der Dresdner Hefte:
Der Dresdener Historiker und Publizist Hans-Peter in Lühr in Paris. (© Goethe-Institut de Paris/Eugénie Willaume)
Der Dresdener Historiker und Publizist Hans-Peter in Lühr in Paris. (© Goethe-Institut de Paris/Eugénie Willaume)
Eckhart Gillen hat in seinem Vortrag in Paris, den er für die gedruckte Fassung noch einmal stark überarbeitet hat, eine für die ganze Tagung grundlegende Fragestellung in ihrer historischen Entwicklung geduldig durchdekliniert: woher kommt die Differenz der Kunstbegriffe zwischen Deutschland Ost und Deutschland West, die seit dem Zusammenbruch der DDR alle “innerdeutschen“ Kunstdebatten beherrscht.
Tatsächlich erscheint mir dieser Problemaufriss auch für die nachträgliche Untersuchung ostdeutscher Kunstverhältnisse in jenen 1990er Jahren, die für unsere deutsch-französische Tagung im Februar 2025 mit dem prägnanten Label „Freiheit und freier Fall“ versehen wurde, sehr hilfreich zu sein. Ich hätte diesen Text gern vorher gekannt. Denn auch wenn ich mich mit meinem Vortrag – fast ein bisschen kunstfern – auf die gesamtgesellschaftliche Lernerfahrung einer neuen Bürgerschaftlichkeit in Ostdeutschland fokussiert habe; die Dresdner Kunstverhältnisse nach der politischen Wende waren mir natürlich immer gegenwärtig.
Und die waren äußerst disparat. Ich würde sie auch anders beschreiben als Eckhart Gillen, der den Konflikt vor allem aus der Konfrontation ihrer Hauptvertreter ableitet. Natürlich war Christa Wolf mit ihrem berühmten Aufruf „Für unser Land“ zu einer mutigen Verteidigung ihrer einstigen Ideale in eine Arena gestiegen, die bei genauer Betrachtung nicht nur wegen der von Gillen eindringlich beschriebenen ideologischen Freund-Feind-Projektionen längst obsolet war (vom ökonomischen Trümmerfeld DDR zu schweigen), sondern auch von einer deutlichen Verkennung der Stimmung im Land geprägt. Aber wer konnte damals, im zu Ende gehenden Jahr 1989, dem Volk überhaupt den Puls fühlen? „Das Volk“ wusste womöglich selbst noch nicht, was es wollte mitten im Zusammenbruch des Landes. Erhalt des Sozialismus oder Rette-sich-wer-kann? Mit der März-Wahl 1990 hat besagtes Volk (Kohls Verheißungen im Ohr) dann unwiderruflich für die deutsche Einheit und das Ende der DDR gestimmt, und hat dann wahrscheinlich selber gestaunt über das klare Wahlergebnis.
Natürlich war auch die Kunst in diese Fieberkurve der Gefühle eingespannt. Sie war aber von jeder Homogenität weit entfernt. Selbstverständlich gab es noch die alten Barden (wie viele waren es?), die einer sozialistischen Kunst und deren Idealen nachtrauerten, aber längst war eine junge Szene in Aktion, die – sofern sie überhaupt im Lande geblieben und nicht ausgereist war – skeptisch-distanziert auf die alten muffigen Kunstdogmen reagierte. Ihr Ding war das schon lang nicht mehr – sie waren seit den späten 70er Jahren auch an der Kunsthochschule, ebenso wie in den vielen Stadtteilgalerien Dresdens durch kräftigen Eigensinn aufgeweicht worden. Die Autoperforationsartisten an der HfBK, auf die sich Eckhart Gillen am Ende seines Textes beruft, sind da nur ein Beispiel.
Auch eine neue Expressivität wurde schon vor dem Ende der DDR dominant; sie war vor allem weiblich inspirieret. Die „Dresdner Sezession 89“ vereinte Künstlerinnen mit einem starken emanzipatorischen Impuls. Angela Hampel war lange ihre Führungsfigur. Mit ihren Performances z.B. in der Galerie Mitte wurden ganz neue Kunstformen erprobt. Helge Leiberg experimentierte mit Multimedia und Christine Schlegel und Conny Schleime drehte Künstlerfilme (Mitte der 1990er verschwanden sie alle in West-Berlin) und im Leonhardi-Museum wurden mit „Frühstück im Freien“ provokante Happenings inszeniert.
Und dann gab es neben den Jungen eine „Genration der Mitte“ (Paul Kaiser), Vertreter der Dresdner Malschule, die – vom Impressionismus kommend – immer eine gediegene Malkultur angestrebt hatten und sowieso nie sonderlich beeindruckt waren vom offiziellen Ideologiegetöse. Die bekannte private Galerie Kühl war lange ihr wichtigster Auftrittsort, wo z.B. immer auch nonfigurative Malerei von Altmeister Hermann Glöckner bis Gerhard Altenbourg und Max Uhlig zu sehen war. Die „andere Walt“ war partiell immer schon auch die eigene.
Diese vielgliedrige Szene lässt sich nicht auf irgend ein Verhaltensmuster subsummieren, und es ist die große Frage, ob die neue Freiheiten (z.B. des Reisens in die Welt – auch in die der Kunst) manchmal nicht wesentlich höher bewertet wurden als jener „freie Fall“ in einen ungewohnten Kunstmarkt mit unbekannten ökonomischen Risiken. Harten Kapitalismus wollte natürlich keiner haben, aber dass Utopien nicht satt machen, hat auch die Kunst schnell gelernt und (so wie einst) mit Witz und feinen Doppelbotschaften die kalten Verhältnisse sanft temperiert. Und sofort war die Kunst wieder Kunst. Ost-Kunst oder West-Kunst? Hätte es nicht eine Jahrzehnte währende (zumeist ökonomisch inspirierte und von Klischees kontaminierte) unsinnige Verdrängungskampagne der großen Institutionen des Westens gegen „Ostkunst“ gegeben (daher Paris), wäre ein Gemeinsamkeitsbewusstsein unter den Künstlern womöglich viel früher entstanden. Ihre Bilder nämlich gehörten schon nimmer zu einer großen gemeinsamen Deutschen Kunst – keiner hat das mit seinen Ausstellungen so deutlich bewiesen wie Eckhart Gillen.
Die Kunstverhältnisse Anfang der 1990er Jahre waren also (in Dresden und anderswo) höchst differenziert und wollten auch so betrachtet werden. Und neben der skizzierten Situation der bildenden Kunst wären die Theaterverhältnisse zu erzählen und die der Literatur – zum Beispiel von der Avantgarde in Hellerau, dem großen Reformort der Jahrhundertwende, wo nach dem Abzug der Roten Armee das alte Festspielhaus von zeitgenössischer Musik, Jazz und Tanzperformance und einem hungrigen jungen Publikum in Beschlag genommen wurde. Durs Grünbein aus besagtem Hellerau – und bald nach Berlin und Rom entfleucht – wurde, 1995 Büchnerpreis-geehrt, zu einer neuen markanten Stimme der Literatur. Für die hatte der Lyriker Thomas Rosenlöcher mit seinem Wende-Tagebuch „Die verkauften Pflastersteine“ 1990 einen skeptisch-heitere Bestandsaufnahme jenes fundamentalen Umsturzjahres geliefert. „Training des aufrechten Ganges“ hatte Volker Braun programmatisch schon über den Anfang des Jahrzehnts geschrieben. Und neues Theater kam in die Stadt und eine neue Architektur, die in dem von vielen Verwundungen gezeichnete Baugefüge – manchmal nur zögerlich willkommen geheißen – eine bis dato unbekannte Moderne implantierte: der neue Landtag und die neue Synagoge, das Benno-Gymnasium und das mit wuchtigem Keil gespaltene Militärhistorische Museum.
Ich würde die von Eckhart Gillen beschriebenen Polarisierungen des Kunstbegriffes also nur als eine erste Näherung gelten lassen, denn sie waren in ihrer jeweiligen Welt schnell auch abgenutzte Kampfbegriffe geworden: im Osten galten sie schon lang nicht mehr, weshalb in der ‚neuen Unübersichtlichkeit‘ der frühen 1990er Jahre sofort das Erlernen eines neuen (alten) europäischen Geistes begann. Das brauchte Zeit. Und im Westen (den ich erst 1990 kennenlernte) wusste man sehr wohl, dass die vielbeschworene „Freiheit der Kunst“ immer schon diversen Manipulationen ausgesetzt war. Auch das relativiert.
Wir kommen also nur millimeterweise vorwärts in unserem Bemühen um Aufklärung. Sie in Paris deutsch-französisch zu definieren, war ein kluger Schachzug. „Kleinmalender Realismus“ hat der Erzähler Christoph Hein das poetische Verfahren einmal genannt. Aber die deutsche Geschichte ist sowieso ein Wimmelbild – vor allem daran müssen wir uns gewöhnen.
Hans-Peter Lühr
Zitierweise: Eckhart Gillen, "Die Freiheit geht zum Angriff über auf die Utopie des Kommunismus", in: Deutschland Archiv, 05.06.2025. Link: www.bpb.de/562703.
Dieser Beitrag ist Teil einer Serie ausgehend von Diskussionsbeiträgen auf einer Tagung von Goethe-Institut und bpb am 7. Februar 2025 in Paris und Leitung des Autors dieses Beitrags, Eckhart Gillen und Jean Mortier:
Zur Tagung: Ausgewählte Beiträge der Tagung „35 Jahre Wende / "35 Ans Chute du Mur“ im Goethe-Institut Paris vom 7. bis 8. Februar 2025. Ein Überblick von Eckart Gillen:
Bei der Konferenz "35 ans Chute du Mur" von Goethe-Institut und bpb am 7. und 8. Februar 2025 in Paris. Am Rednerpult der Kunsthistoriker und Initiator des Kolloquiums, Eckhart Gillen. (© Goethe-Institut Paris / Eugénie Willaume)
Der Umbruch 1989/90 in der DDR war eine Chance, sich von der staatlichen und parteilichen Gängelung zu befreien, eine Chance, den Schritt ins Offene zu wagen. Zugleich war es ein Sprung ins kalte Wasser des Kapitalismus. Es war ein Systemwechsel: Über Nacht änderten sich schlagartig alle Regeln. Die vormundschaftliche Sicherheit des DDR-Staates, die alle Risiken ausschloss, schlug um in die marktwirtschaftliche „Freiheit“, die jeden zwang, jetzt für sich selbst und alleine Verantwortung für den Lebensunterhalt und die eigenen Produktionsverhältnisse zu übernehmen. Die bisherigen Auftraggeber waren verschwunden. Die Ateliermieten explodierten, neue Eigentümer_innen aus dem Westen standen vor der Tür. Ein völlig neuer Kunstbegriff bestimmte den Kunstmarkt. Galerist_innen, die Ostkunst anboten, wurden von den Kunstmessen ausgeschlossen, weil die ostdeutschen Künstler/innen als unmodern galten oder als angepasste Auftragskünstler_innen.
Für die jungen Künstler/innen, die nach dem Mauerbau geboren wurden und nicht mehr an die Utopie des Sozialismus glauben wollten, war es wiederum ein Sprung ins Offene. Sie reisten nach New York, nahmen Stipendien des Westberliner Senats im PS 1 an und zogen in die Welt hinaus und präsentierten ihre Kunst in Venedig, Paris, Los Angeles und andernorts, ob Bilder, Filme, Musik oder Mode. Manche aus der älteren Generation haderten mit der neuen Beliebigkeit einer auf formale Innovation ausgerichteten Kunstwelt und mauerten sich ein in ihr Ressentiment.
Ganz anders wurde die Wende von denen empfunden, die bereits vor dem Fall der Mauer die DDR verlassen hatten. Sie hatten einen harten Schnitt gemacht und waren frei von Heimwehgefühlen nach der „sozialistischen Wärmestube“. Der Fall der Mauer war für sie kein Anlass zum Jubeln, er löste vielmehr das Gefühl aus, wieder von der Vergangenheit eingeholt zu werden.
In intensiven Gesprächen und Analysen hat die hier in Auszügen dokumentierte Tagung vom 7. und 8. Mai 2025 in Paris diesen historisch einmaligen Umbruch nach 35 Jahren untersucht, um die Dramatik dieser gesellschaftlichen und kulturellen Transformation, die noch lange nicht abgeschlossen ist, in Erinnerung zu rufen. Und auch zu fragen: Was bleibt?
Die Diskussionen mit den französischen Kunsthistoriker_innen und Germanist_innen, in Paris haben den oft verkrampften innerdeutschen Dialog erweitert und bereichert durch den unbestechlichen Blick von außen. Alle Teilnehmenden waren sich mit dem Publikum am Ende der Tagung einig, dass die Differenz der Kunstbegriffe, die der Kalte Krieg befeuert hat, schon heute im Wesentlichen überwunden ist – auf jeden Fall aber von zukünftigen Generationen überwunden werden wird.
Zusätzlich zu dieser Publikation werden die französischen Vorträge und die deutschen Beiträge in französischer Übersetzung in der Zeitschrift Allemagne d‘aujourd’hui publiziert werden (E.G.).
Geplant sind bis Ende Mai 2025:
Eckhart Gillen:
Stichworte zur Differenz der Kunstbegriffe im geteilten Deutschland
Hans-Peter Lühr: Eine Anmerkung zum Beitrag von Eckhart J. Gillen
Hans-Peter Lühr: Neue Bürgerschaftlichkeit und neues Menschenbild.
Die ostdeutsche Gesellschaft als Lerngemeinschaft - Das Beispiel Dresden
Michaela Mai: Zwischen Hoffnung und Ernüchterung
Die ‚Wende‘-Zeit im OEuvre der Leipziger Malerin Doris Ziegler
Uwe Kolbe:
Sibylle Goepper: Von einem Georg zum anderen: Kontinuitäten und Metamorphosen im Werk von Jan Faktor seit 1989
Gabriele Dietze: Totenreklame und Waldmaschine - eine Re-Lektüre 40 Jahre danach
Matthias Zwarg:
Annette Simon: Bleiben will ich, wo ich nie gewesen bin - HEIMAT als ambivalenter Ort.
Hier als PDF das komplette Pariser Interner Link: Tagungsprogramm.
Es folgen weitere Beiträge in dieser Serie von:
Alle Beiträge im Deutschlandarchiv sind Recherchen und Meinungsbeiträge der jeweiligen Autorinnen und Autoren, sie stellen keine Meinungsäußerung der Bundeszentrale für politische Bildung dar.
Eckhart Gillen,
Joachim Walther,
Matthias Zwarg,
Uwe Kolbe,
Eckhart Gillen über Bernhard Heisig:
Joseph Beuys,
Der 1947 in Karlsruhe geborene Kunsthistoriker und Ausstellungs-Kurator ist Autor zahlreicher Aufsätze und Bücher über die Bildende Kunst Osteuropas nach dem Zweiten Weltkrieg, insbesondere die DDR. In den 80er Jahren war er Mitherausgeber der Zeitschrift "Niemandsland. Zeitschrift zwischen den Kulturen". Er promovierte in Heidelberg über "Die Schwierigkeiten beim Suchen der Wahrheit - Eine Studie zur Problematik der antifaschistischen und sozialistischen Kunst der SBZ, DDR 1945−1989 " am Beispiel des Leipziger Malers Bernhard Heisig. 2003 erhielt er den Bürgerpreis zur Deutschen Einheit der Bundeszentrale für politische Bildung