„Dieser Personenkreis entwickelt eigene Vorstellungen zum Begriff Freiheit“
Eine beispielhafte Vita aus der DDR. Nachruf auf den Jenaer Bürgerrechtler Achim Dömel, der am 15. Juni 2025 verstarb.
Peter Wensierski
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Achim Dömel (1950 bis 2025) gehörte zum Kern der Jenaer Oppositionsszene in der DDR, blieb nach außen aber ein eher Unbekannter. Seine Vita steht aber stellvertretend für viele Oppositionelle: Er protestierte gegen staatliche Willkür, sammelte Unterschriften gegen die Biermann-Ausbürgerung und kam deshalb in Untersuchungshaft, suchte aber auch die intellektuelle Auseinandersetzung mit Staat und Partei in der DDR. Nach einer Eingabe über einen Polizeiüberfall auf Jugendliche in ihrer Wohnung kam er wegen „Staatsverleumdung“ ins Gefängnis und musste die DDR verlassen. Aber auch in der Bundesrepublik blieb er politisch aktiv.
Im Rathaus von Jena teilten die Genossen der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands (SED) die Jugend ihrer Stadt mit schlichten Worten und noch schlichteren Begründungen in Freund und Feind ein. Über den 29-jährigen Achim Dömel, geboren und aufgewachsen in Jena, hielten sie 1979 in ihren Akten fest: „Dömel stellt einen Unsicherheitsfaktor in unserer Gesellschaft dar, zumal er einen großen Bekanntenkreis besitzt.“
Derartige „Einschätzungen“, die ohne Wissen der Betroffenen über das ganze Leben von DDR-Bürgerinnen und -Bürgern bestimmen konnten, haben Achim Dömel schon seit seiner frühesten Schulzeit begleitet. Damit steht er nicht allein. Seine Lebensgeschichte ist die Geschichte eines aufrechten DDR-Bürgers, der zum Kern des oppositionellen Milieus in Thüringen gehörte. Menschen wie ihn gab es in Ostdeutschland viel mehr, als von der medialen Öffentlichkeit wahrgenommen wurde. Achim Dömel war einer von ihnen. Aus der Perspektive des Staates lagen bei ihm zum Zeitpunkt der Einschulung ideale Voraussetzungen vor, ein wohlgelittener Bürger der DDR zu werden. Schließlich entstammte er der Arbeiterklasse. Seine Mutter ging kellnern, der Vater verdiente sein Geld im „Reichsbahn-Ausbesserungs-Werk“ RAW Jena.
Wie bei so vielen Familien wurde auch Achim von seinen Eltern angehalten, in der Schule nicht zu erzählen, welches Radioprogramm sie daheim hörten und worüber am Küchentisch so alles geredet wurde. Ob über Walter Ulbricht oder die West-Politiker Franz-Josef Strauß, Konrad Adenauer und Willy Brandt.
Folgenreiche Schweigeminute für Kennedy
Als 1963 John F. Kennedy ermordet wird, passiert etwas Einschneidendes in Achims Leben – jenseits des Elternhauses und er mittendrin: Die 12- und 13-jährigen Schüler und Schülerinnen seiner Klasse in Jenas Nordschule wollen an diesem Novembertag ihre Sympathie für den beliebten amerikanischen Präsidenten ausdrücken. Die ganze Klasse verabredet kurz vor Unterrichtsbeginn eine Schweigeminute für Kennedy im Klassenraum.
Kein Schüler steht also wie üblich vorne vor der Klasse, als die Lehrerin hereinkommt. Sie vernimmt nicht, wie üblich, den Appell: „Klasse 6 zum Unterricht bereit!“ Stattdessen zwei Dutzend schweigende Schüler, die so eine Minute durchhalten und erst auf das wiederholte „Was soll das?“ einer zunehmend hysterischer werdenden Lehrerin antworten: „Das war eine Gedenkminute für den ermordeten Präsidenten Kennedy“. Was für ein Eklat! Den ganzen Morgen über werden alle einzeln aus der Klasse herausgeholt und vernommen, um den Rädelsführer herauszufiltern. Doch es gibt keinen. „Das war meine erste Lektion – dieses ‚Gemeinsam-sind-wir-stark‘“, erinnerte sich Dömel in einem Interview 2023. „Wir können etwas schaffen, was allen anderen unmöglich scheint.“
Dieser Gedanke wird sein weiteres Leben immer wieder mitbestimmen, seine Suche nach Gemeinsamkeit, nach solidarischem Zusammenhalt einer Gruppe, nach dem Austesten vorgegebener Grenzen. Doch zunächst einmal lassen er und die meisten Freunde um ihn herum, gegen Ende der Sechzigerjahre, ihre Haare immer länger wachsen. Gemeinsam hören sie die Stones und die Beatles, die Kinks, The Who und Jimi Hendrix. Sehen im Westfernsehen den „Beatclub“ und lesen in der DDR nicht erhältliche Bücher, die ständig unter ihnen kursieren. Dann die ersten Tramptouren zu Blues- und Rockkonzerten, das Eintauchen in die DDR-weite Szene der „Kunden“ – langhaarige Jugendliche in Parka und Jeans, die zeitgleich im Westen vielleicht „Freaks“ oder „Gammler“ genannt wurden. Auf der Straße werden sie von Jenaer Bürgern beschimpft: „Ab ins Arbeitslager“ und auch „Sowas hätte man früher vergast.“ Ein West-Berliner Freund sagt lakonisch zu Achim: „Das geht uns doch genauso.“
Sein Jugendzimmer ziert ein vom West-Cousin mitgebrachter Starschnitt der „Bravo“ mit den lebensgroßen Beatles. Auf der gegenüberliegenden Wand die anderen Bands. Das erfahren auch seine Lehrer irgendwann, und gleich beim nächsten Elternabend wird vor allen Anwesenden Achims Mutter wegen ihres „dekadenten Sohnes“ niedergemacht – wegen seines Aussehens und seiner Vorliebe für die „Musik des Klassenfeindes“. Sie kommt tief verunsichert und um ihr Kind besorgt von der Schule nach Hause und reißt am nächsten Morgen alle Bilder von den Wänden. Als Achim später zurück aus der Schule kommt und sieht, was passiert ist, spricht er wochenlang nicht mehr mit seiner Mutter. „Das war meine zweite Lektion: Ich will mich niemals in meinem Leben so unterwerfen müssen.“
Dann wird es politischer in und um Achim: die frechen Lieder von Wolf Biermann, die Renft-Musiker Pannach und Kunert, die Gedichte und Texte von Jürgen Fuchs und Reiner Kunze. Die tippt auch er ab und verbreitet sie. Inzwischen hat er seine Lehre als Gebrauchswerbegrafiker längst beendet (zur Gesellenprüfung wird nur zugelassen, „wer keine langen Haare trägt“). Schließlich bringt Achim eineinhalb harte Jahre bei der Volksarmee hinter sich. „Das“, erinnerte er, „ging nur mit viel Alkohol“.
Danach trifft er sich wieder mit den anderen Freunden in Jena, besucht dort verschiedene „Lesekreise“, diskutiert nächtelang. Darüber, was eigentlich los ist mit der DDR, er setzt sich mit der Geschichte der Arbeiterbewegung, dem Sozialismus und dem Kommunismus intensiv auseinander. Er und die anderen studieren eifrig selbst die dicksten Bücher und reden darüber: Wolfgang Leonhards „Die Revolution entläßt ihre Kinder“, Trotzkis „Verratene Revolution“, Rudolf Bahros „Alternative“ oder Victor Klemperers „LTI“ über die Propagandasprache der Nazis im Vergleich zur Sprache der SED. Achim kommt auch an Material der neuen Linken und der Kreuzberger Szene im Westen ran, trifft einige der West-Marxisten heimlich in Karl-Marx-Stadt (heute Chemnitz), hört sogar Radio Tirana. Der Gedanke dahinter: „Wir müssen politisch fundiert in unserer Kritik sein und uns gegenseitig darin fit machen.“
Als in Portugal die am längsten regierende Diktatur in Europa durch die sogenannte Nelkenrevolution beseitigt worden war, sammelt Achim im Frühling 1974 mit anderen zusammen mitten in der Stadt vor einem Buchladen Solidaritätsunterschriften – ohne jegliche Anmeldung. Denn er glaubte: „Wenn man das einfach macht, denkt jeder, das sei offiziell. So hat das in diesem Fall auch funktioniert. Ich wollte nichts Konspiratives machen, sondern so legal wie möglich auftreten. Wir wollten uns Freiräume Schritt für Schritt erkämpfen.“
Achim zieht es nach der Armeeentlassung zunächst zu seinem Bruder Wolfgang und dessen Freundin Maria, die mit ein paar anderen in der Gartenstraße 7 eine Wohngemeinschaft gegründet haben. Er schläft auf engstem Raum in einer Nische im Flur der kurz zuvor trickreich ergatterten Wohnung. Sie wird rasch ein Treffpunkt mit großer Anziehungskraft. Es herrscht ein ständiges Kommen und Gehen, unentwegter Austausch von Informationen und Kontakten. Manche der jungen Leute kommen einfach nur vorbei, um zu lesen. Sie sitzen stundenlang zurückgezogen in einem Sessel, in irgendeiner Ecke. Andere reden und reden. Es gibt sogar einen alten Fernseher, sehr nützlich, um gemeinsam „Rockpalast“ zu schauen. Als die Serie „Holocaust“ im Westfernsehen gezeigt wird, ist es besonders voll.
Ob Geburtstagsfeiern oder Sylvester, die Geburt von Kindern, Verlobungen oder Hochzeiten – es ist immer etwas los, die Wohnung oft überfüllt. Manchmal einfach nur, um zusammen zu kochen oder „Risiko“ zu spielen. Unentwegt läuft Blues-Musik vom Band. Im Frühling stellen sie einen Tisch in den Hof, Stühle und Kisten drum herum, um in der Sonne zu frühstücken, Pläne zu schmieden, Erlebnisse auszutauschen oder die nächste große gemeinsame Wanderung in die Berge rund um Jena zu planen. Der 1981 bei einem Stasi-Verhör zu Tode gekommene Matthias Domaschk gehört als regelmäßiger Besucher und auch bei den politischen Debatten im Lesekreis der Gartenstraße mit dazu. Er kommt mit seiner kleinen Tochter vorbei und sorgt öfter für Kaffee und Kuchen.
Bekannte und Freunde kommen nicht nur aus Jena, sondern auch aus Berlin, Leipzig, Halle, Dresden oder Karl-Marx-Stadt zu Besuch. Sie bleiben die eine oder andere Nacht. Denn umgekehrt kann man selbst nach einem Blues- oder Rockkonzert bei ihnen in ihrer Stadt schlafen. Auch Westdeutsche wie West-Berliner schauen vorbei, die haben Achim, Wolfgang und die anderen beim Trampen in Polen, Ungarn oder Rumänien kennengelernt. Weihnachten und Ostern verschicken die WG-Bewohner kreativ fotografierte, leicht ironische Grußpostkarten. Darauf sind sie selbst zu sehen, mal mit Hasenohren, mal mit Ostereiern, mal hat Achim einen Adventskranz mit brennenden Kerzen auf dem Kopf. Alles Eigenprodukte aus ihrer Dunkelkammer.
Die Gartenstraße 7 in Jena erleben Achim und alle anderen als eine Insel der Freiheit, der Gemeinschaft und der Kreativität – als Gegenpol zur uniformen ostdeutschen Einheitsgesellschaft, in dem sie versuchen, ihr eigenes Leben zu gestalten, möglichst unkontrolliert und selbstbestimmt. Achim stets mittendrin. Bis auch ihm eines der vielen Treffen in der Wohnung zum Verhängnis wird.
Schon in den ersten Wochen, als die Wohngemeinschaft 1974 entstand, legte die Jenaer Volkspolizei, Kommissariat I, eine Akte namens „Wohnung“ an. Darin heißt es, dort braue sich wohl „eine staatsfeindliche Gruppe“ zusammen. Denn „die Bewohner gehören einer großen noch nicht übersehbaren Gruppe asozialer und arbeitsscheuer Jugendlicher und Jungerwachsener mit ungepflegtem Äußeren an, bei denen sich der dringende Verdacht der staatsfeindlichen Hetze ergibt. Dieser Personenkreis tritt vorwiegend als Diskussionsklub in Erscheinung, entwickelt eigene Vorstellungen zum Begriff ‚Freiheit‘ und versucht, dieselben zu verwirklichen.“ Deshalb müsse man sie bekämpfen…
Achim Dömel Polizeiakte
Anlage zur Eingabe von Achim Dömel nach Polizeiüberfall auf eine Feier von Jugendlichen in Jena Gartenstrasse 7 (Bitte anklicken zum Vergrößern).
Anlage zur Eingabe von Achim Dömel nach Polizeiüberfall auf eine Feier von Jugendlichen in Jena Gartenstrasse 7 (Bitte anklicken zum Vergrößern).
Im Januar 1975 schlagen die Bekämpfer derartiger Freiheit zu. Im wahrsten Sinn des Wortes, mit harten Gummiknüppeln. Eine Feier in der Wohnung mit zahlreichen Gästen bekommt plötzlich Besuch von der Volkspolizei, weil sich Nachbarn über den angeblichen Lärm beschwert hätten. Schnell entwickelt sich ohne besonderen Anlass eine wüste Schlagstockorgie der Uniformierten gegen die Jugendlichen in den engen Räumen. Platzwunden, Schreie, Massen-Festnahme, Abtransport im Lkw zum Volkspolizeikreisamt. Erst am nächsten Tag werden die Jugendlichen nach erkennungsdienstlicher Behandlung und Verhören wieder freigelassen. Gegen das in ihren Augen völlig überzogene Vorgehen wollen sie protestieren. Mit Eingaben, in denen sie das Vorgehen der Polizisten als ungerechtfertigt schildern. Achim Dömel verfasst ein Gedächtnisprotokoll. Er verlangt eine Gegenüberstellung mit den Volkspolizisten, um die Sache zu klären. Wer verletzt ist, macht eine Anzeige. Achim hat Hämatome am ganzen Körper und lässt sich das von einem Arzt attestieren.
Abend für Abend kommen gut zwanzig Leute zusammen, einmal kommt Jürgen Fuchs dazu. Marcella, die Tochter des Schriftstellers Reiner Kunze, erscheint ebenfalls. Und Maria, die Freundin von Achims Bruder Wolfgang, spricht aus, was alle denken: „Wir glauben an Gerechtigkeit.“ Sorgfältig getippt, in Briefumschläge gesteckt, werden Eingaben und Anzeigen in der Hauptpost als Einschreiben aufgegeben oder direkt bei der Wache der Volkspolizei abgeliefert. Ein paar Tage vergehen.
Inhaftierung wegen Eingaben
Dann kommt die Antwort auf 17 Eingaben und elf Anzeigen gegen die Volkspolizei: Bei allen, die vom ihnen zustehenden Recht Gebrauch gemacht haben, pochen frühmorgens Volkspolizei und Stasi-Mitarbeiter in Zivil an die Tür oder erscheinen am Arbeitsplatz und in der Schule. Einer nach dem anderen werden sie dem Volkspolizeikreisamt „zugeführt“. Achim wird von drei Stasileutenim Betrieb vor aller Augen abgeholt. Alle sind in einem großen Raum unter scharfer Bewachung und Sprechverbot, Verhöre folgen. Währenddessen werden ihre Wohnungen durchsucht, vorhandene Bücher registriert, private Briefe kopiert, die mit Sprüchen, Gedichten oder Plakaten versehenen Wände in ihren Privaträumen fotografiert, sämtliche Adressen aus Kalendern abgeschrieben, Papierkörbe durchwühlt, verdächtige Notizen beschlagnahmt. Die intensiven Befragungen dauern Stunden. Achim, Maria und drei weitere Freunde kommen am Ende des Tages nicht mehr zurück. Der Vorwurf: Ihre Eingaben sind zwar einzeln unterzeichnet, jedoch gemeinschaftlich besprochen und angefertigt worden.
Der Vernehmer sagt es Achim ganz offen: „Sie sind nicht hier, weil Sie eine Eingabe geschrieben haben. Sie sind hier, weil Sie als staatsfeindliche Gruppe gehandelt haben.“ Achim antwortete ihm: „Unser Vergehen war also, dass wir uns gemeinsam zur Wehr gesetzt hatten?“ Er bekommt keine Antwort, sondern Handschellen angelegt. Nur zehn Tage später folgt überraschend hart die Verurteilung durch ein Schnellgericht in Gera unter Ausschluss der Öffentlichkeit. Gefängnis für alle, zwischen einem halben und einem Jahr. Dazu Geldstrafen. Berufungen werden abgelehnt. Achim muss in Sträflingskleidung, scharf bewacht, tagsüber in Gera Bordsteine verlegen. An seinen Bruder Wolfgang schreibt er: „Ich kann das alles immer noch nicht glauben, Wolfgang, ich weiß nicht, was ich schreiben soll, in meinem Kopf ist alles leer.“
Von der Gartenstraße ausgehend verbreitet sich jedoch nach dem ersten Schock die wohl bis dahin größte Solidaritätswelle in der alternativen Szene der DDR. Innerhalb weniger Wochen treffen mehr als 5.000 Mark Spendengelder in der Wohngemeinschaft ein. Die Freunde versuchen, mit allen möglichen Aktionen Informationen zu verbreiten und Geld für die Inhaftierten aufzutreiben. Mehr als 40 Jenaer Jugendliche schneiden gemeinsam Weidenruten am Ufer der Saale, die ihnen eine Korbflechterei abkauft. Das schmiedet sie zusammen, manchen Jüngeren öffnet es die Augen über die wahren Machtverhältnisse in der DDR, jenseits der Parolen. Der Staat hat mit der Inhaftierung von Achim und den anderen genau das Gegenteil erreicht. Statt Einschüchterung entsteht Widerstandsgeist und so eine politisch zunehmend bewusstere, aktiv engagierte oppositionelle Szene in Jena. Dazu ein DDR-weites Geflecht an Beziehungen.
Achim schafft es unterdessen, im Geraer Knast über ein kleines Wandloch zwischen der Brotkammer der Frauenküche und der Männerschlosserei Schreib-Kontakt zu Maria aufzunehmen. Das hilft ihr, darüber hinwegzukommen, dass sie ihren 19. Geburtstag hinter Gittern in einem düsteren ehemaligen Naziknast verbringen muss. Er selbst vergleicht in Briefen („Hallo Ihr Zuhause!“) das Eingesperrtsein mit seiner vorherigen Kasernierung und dem brutalen Umgang mit Menschen während seiner Armeezeit. Er lässt sich aber nicht brechen und schreibt: „Dass wir mit den Eingaben richtig gehandelt haben – der Meinung bin ich noch immer. Es ist doch ein gutes Gefühl, wenn man weiß, dass man viele Freunde draußen hat, die an einen denken und diese Gewissheit habe ich ja. Es gibt ja Unterschiede, weshalb man im Gefängnis ist, und das lässt einem die Zeit leichter werden.“
Die Freunde denken nicht nur an ihn, sie handeln auch
Achims Bruder fährt mit einem Freund sogar in die Hauptstadt der DDR. Sie suchen eine Stelle, bei der sie sich erneut beschweren können – in der SED-Parteizentrale oder im Raum für „Bürger mit Anliegen“ im Gebäude des Staatsrates. „Wir werden das prüfen“, heißt es dort. Schließlich bekommen sie einen Termin bei einem prominenten Anwalt namens Friedrich Kaul, den sie aus dem Fernsehen der DDR kennen. Sie tragen ihm den Fall vor, doch er ist seltsam uninteressiert. „Wir werden das klären“, sagt auch er. Nichts wird geprüft, nichts wird geklärt. Hinter ihrem Rücken schreibt DDR-Staranwalt Kaul an den stellvertretenden Innenminister, dass die Schlagstockanwendung „gerechtfertigt war“, wegen „grober Mißachtung der gesetzlichen Bestimmungen, aktivem Widerstand und staatsverleumderischen Äußerungen.“
Porträtiert in Reiner Kunzes „Die wunderbaren Jahre“
Marcella Kunze, Reiner Kunzes Tochter, schildert den Überfall auf die WG-Feier ihrem Vater. Der prominente Schriftsteller trägt es über seine Kanäle weiter nach Ost-Berlin. Die Jugendlichen in Jena sind genau diejenigen, die in Kunzes Buch „Die wunderbaren Jahre“ beschrieben werden. Auch die West-Presse berichtet über die Jenaer Verhaftungen. Am Ende hat all das eine Wirkung: Die Inhaftierten müssen früher entlassen werden. Die zurückgewonnene Freiheit nutzt Achim sofort aus und zieht im Juni 1975 in den Sommerurlaub durch die mecklenburgische Seenplatte – mit einem Freundestrupp aus dem Umfeld der Gartenstraße, darunter sein Bruder Wolfgang und Maria.
Zurück in Jena beteiligt sich Achim trotz Ermahnung und Freilassung auf Bewährung ungebrochen weiter an den Aktivitäten der Szene und treibt manches mit voran. Etwa, als er einen Raum findet, den sie für einen unabhängigen Jugendclub mit selbstgestaltetem Programm nutzen wollen, was dann aber an der FDJ scheitert. Auch der von Achim mitbetriebene Einzug in ein noch größeres Haus als jenem in der Gartenstraße, in dem sie als junge Leute zusammenwohnen und Projekte realisieren könnten, scheitert an der Stasi, die die Besitzerin einschüchtert.
Im Februar 1976 gehen sie zu dritt zum „Konsultationsstützpunkt“ ins Gebäude der SED-Kreisleitung Jena, denn die Partei hatte in den DDR-Medien zur „Mitsprache“ über ihr neues Statut eingeladen. Achim hat den Text des Entwurfes genauestens durchgearbeitet und zu jedem Punkt Fragen formuliert. Der leitende Genosse der Versammlung reagiert unwirsch, er ist es nicht gewohnt, dass jemand, den er nicht kennt, Fragen stellt. Sie probieren es mit zehn ausformulierten Fragen weiter, doch ihr Dialogversuch wird abgebrochen. „Alles destruktiv“ heißt es: „Sie stehen damit in Widerspruch zu unserer Entwicklung (…) gegen die führende Rolle der Partei.“
Sie wollten es immerhin einmal probieren. Achim schlägt vor, auch zu den kommenden Wahlveranstaltungen zu gehen und dort weiter zu diskutieren. Rückblickend sagte er dazu: „Wir haben ja alle damals noch die Vorstellung gehabt, wenn man sich einbringt, kann man vielleicht auch noch etwas ändern an dieser DDR. Aber wir merkten bald, das ging einfach überhaupt nicht. Ich bin dann auch nicht mehr zur Wahl gegangen. Daraufhin kamen sie mit der Wahlurne zur Haustür und klingelten. Sie meinten, Herr Dömel, Sie waren noch nicht zur Wahl. Ich antwortete: Ich komme auch nicht mehr, Sie können gleich wieder gehen. Am nächsten Morgen kam mein Chef zu mir und fragte: Wieso warst Du denn gestern nicht wählen? Da habe ich gesagt: Genau aus dem Grund, weil Du das heute schon weißt.“
Eintreten für Pfarrer Oscar Brüsewitz
Im Herbst 1976 verbrennt sich in Zeitz, nicht weit von Jena entfernt, der evangelische Pfarrer Oskar Brüsewitz aus Protest gegen die Politik des Staates und dessen Umgang mit christlichen Jugendlichen. In den Zeitungen der SED wird er in die Nähe eines Geisteskranken gerückt. Das empört viele Menschen. Ein Krankenpfleger aus der Uniklinik in Jena formuliert ein Protestschreiben dagegen und will in Jena und Umgebung Unterschriften sammeln. Er geht damit zu Achim und den anderen in die Gartenstraße.
Achim unterschreibt sofort als Erster den vier Seiten langen Text. Zitiert sind darin Aussagen des Zivilgesetzbuches, wie: „Jeder Bürger hat das Recht auf Achtung der Persönlichkeit“ – was gegenüber Brüsewitz seitens der DDR-Medien nicht eingehalten worden sei. Der unterschriebene Text endet mit einer klaren Forderung: Spätestens zum Termin der Volkskammerwahl wird in der Wochenendausgabe 16./ 17. Oktober 1976 auf Seite eins des Neuen Deutschlands eine eindeutige und klare Berichtigung verlangt, dazu der Abdruck einer kritischen Stellungnahme der Kirche. Dann folgt noch ein Ultimatum an das SED-Zentralorgan Neues Deutschland: „Wir, die Unterzeichner, machen darauf aufmerksam, dass, falls die Berichtigung nicht geschehen sollte, wir uns gezwungen sehen, diese Angelegenheit wegen gröblichster Verletzung der Charta der UNO über die Menschenrechte der Weltöffentlichkeit zu übergeben und Anklage wegen Verleumdung erheben werden.“ Die Unterschriftenliste kursiert – auch mit Achims Hilfe – von der Gartenstraße ausgehend mehrere Tage in Jena. Über 50 Menschen unterschreiben. Mitte Oktober 1976, vier Wochen vor der Ausbürgerung Wolf Biermanns, wird der Initiator verhaftet. Den anderen geschieht nichts. Noch nicht.
Protest gegen Biermanns Ausbürgerung und die Folgen
Am Abend des 16. November 1976 laufen im Fernseher der Gartenstraße nacheinander „Aktuelle Kamera“ und „Tagesschau“. Wolf Biermann darf nach dem Kölner Konzert nicht zurück in die DDR. Er wird ausgebürgert. So etwas gab es in Deutschland zuletzt unter den Nazis. In den beiden Wohnzimmern der Gartenstraße strömen rund dreißig Leute zusammen, um über mögliche Protestaktionen zu sprechen. Erst geht es um Protestbriefe oder Unterschriftensammlungen, dann wird alles Denkbare erwogen („Scheiben der Jenaer SED-Parteizentrale einwerfen“) und gleich wieder verworfen. Achim ruft in die Runde: „Wir müssen aber etwas tun, nicht nur reden!“ Die Emotionen verlangen Radikales. „Wir müssen mitten in Jena demonstrieren.“ Es geht hoch her bei diesem ersten spontanen Treffen in der Gartenstraße.
Biermann nach Konzert in Köln am 13.11.1976
Wolf Biermann nach dem Ende seines Kölner Konzerts am 13. November 1976. Zu diesem Zeitpunkt stand seine Ausbürgerung für die DDR-Regierung bereits fest, wurde aber erst vier Tage später offiziell mitgeteilt.
Wolf Biermann nach dem Ende seines Kölner Konzerts am 13. November 1976. Zu diesem Zeitpunkt stand seine Ausbürgerung für die DDR-Regierung bereits fest, wurde aber erst vier Tage später offiziell mitgeteilt.
Wolf Biermann ist für alle hier ein Idol in diesem Staat der Jasager und Angepassten, der Mitläufer und Eiferer. Seine Texte, seine Lieder kennen sie bestens. Hundertfach wurden sie auf Tonbändern kopiert, abgeschrieben und weitergegeben. Der Sänger kam wegen einer Liebschaft zu Sybille Havemann öfter in ihrer Stadt vorbei. Achim und andere haben ihn dadurch auch persönlich in Wohnungen erleben können.
So entwickelt sich in diesen Tagen die wohl größte Protestaktion in der DDR gegen die Ausbürgerung Wolf Biermanns. Ausgangspunkt ist ein rasch organisierter Solidaritäts- und Informationsabend in den Räumen der Jungen Gemeinde – mitten im Stadtzentrum. So etwas war bis dahin undenkbar gewesen. Es werden Nachrichtensendungen und Biermann-Lieder vorgespielt, von den Protesten der Schriftsteller und Künstler berichtet und über die Suche nach Rat beim Dissidenten Robert Havemann.
Am Ende der überfüllten Veranstaltung werden Unterschriften gesammelt, die als Protest an die Staats- und Parteiführung gehen sollen. Achim nimmt sich sofort ein paar Blanko-Unterschriftenlisten mit, um Unterzeichner und Unterzeichnerinnen in seinem Betrieb zu werben. Er arbeitet inzwischen als Grafiker im Kreisbetrieb der Handelsorganisation (HO) in Apolda. In Jena hatte er zuvor jahrelang viele Schaufenster dekoriert, vom Modegeschäft bis zum Kaufhaus, vom Konsum bis zum Fotoladen. Doch da alle Schaufenster der Stadt zum 1. Mai oder anderen DDR-Feiertagen mit Parolen der Partei versehen wurden, hatte man Achim untersagt, seinen Job an diesen „sensiblen Terminen“ auszurichten. Aus Sorge, er könne als „Unsicherheitsfaktor in der Gesellschaft“ absichtlich etwas Partei- oder Sozialismusschädliches in den Fenstern unterbringen. Darum wechselte er nach Apolda, dorthin will er den Protest tragen. Doch die Stasi schlägt frühmorgens überall in Jena zu. Blaulicht und Sirenen in der ganzen Stadt, Hausdurchsuchungen, massenweise Zuführungen und Festnahmen.
Verhaftet und zur Ausreise gedrängt
Achim schafft es mit den Listen nach Apolda und wird erst einen Tag später abgeholt. Selbst nach DDR-Recht wird er unerlaubt 36 Stunden lang bis zur völligen Erschöpfung verhört. Angebrüllt, eingeschüchtert. Etliche der am Biermann-Solidaritätsabend Beteiligten kommen von den „Zuführungen“ nicht mehr zurück, sie bleiben fast ein Jahr, einfach so, in Untersuchungshaft, ohne Gerichtsverfahren. Am Ende werden sie in den Westen abgeschoben. Sie fehlen in Jena, wo sich Resignation und Wut zugleich breit machen. Wer zurückbleibt, dem werden privat und beruflich viele Steine in den Weg gelegt. Da wirft auch Achim irgendwann das Handtuch, er will einen Neuanfang und für seinen 1978 geborenen Sohn eine andere Perspektive. Er stellt einen Ausreiseantrag, den die SED aber länger nicht beantwortet.
Erst nach dem Tod von Matthias Domaschk im April 1981 werden Leute wie er aus der sozialistischen Menschengemeinschaft beschleunigt entfernt. Der übergeordnete Rat der Stadt Gera schreibt in Sachen Dömel an den Rat der Stadt Jena am 5. Mai 1982: „Wir bitten Sie, darauf Einfluß zu nehmen, dass eine umgehende Übersiedlung erfolgt. Mit sozialistischem Gruß, Abteilungsleiter T.“
Achim Dömel muss kurz darauf Jena binnen 48 Stunden gen Westen verlassen und kommt zunächst bei einem Freund unter, der aus Jena nach Kaiserslautern übergesiedelt war. Von Mainz aus geht es für ihn nach Darmstadt weiter, wo er sich zum Werbetechniker weiterbildet, Messestände gestaltet, wo er mit seiner Frau 1989 noch einen weiteren Sohn bekommt und bis an sein Lebensende wohnt. Im Westen endete sein politisches Engagement nicht. Er suchte weiter die Nähe zu engagierten Menschen und blieb am Neuen so interessiert, wie er es immer war. Nahm an Friedens- und Umweltdemonstrationen oder Sitzblockaden teil, unterstützte Greenpeace und Bürgerinitiativen. Er war enttäuscht über Sozialdemokraten oder andere linke Freunde im Westen und ihr idealistisches Bild von der DDR, was er in vielen Diskussionen mit seinen Erfahrungen zurechtzurücken versuchte.
Er nutzte nicht nur die neugewonnenen demokratischen Rechte, er suchte auch die Freiheit des Reisens und eines unkontrollierten Alltaglebens, oft mit seinen alten Freunden aus der Jenaer Gartenstraße. In seiner Wohnung hängen viele Bilder von den gemeinsamen Expeditionen in alle Welt. Gemeinsam mit Freunden oder seiner Frau war er im Basecamp auf dem Mount Everest, in Nepal, Tibet, China, in den USA, Südamerika, Australien, Neuseeland, Kanada, Island. Irgendwann war für ihn das Glas in Sachen Reisefreiheit nicht mehr halb- sondern ganz voll. Vielleicht galt das auch für sein Leben.
Achim Dömel starb am 15. Juni mit 74 Jahren, er wird am 5. Juli in seinem Wohnort Roßdorf (nahe Darmstadt) beigesetzt.
Zitierweise: Peter Wensierski, Nachruf auf Achim Dömel: „Dieser Personenkreis entwickelt eigene Vorstellungen zum Begriff Freiheit“, www.bpb.de/563632, Deutschlandarchiv vom 2.7.2025. Alle Beiträge im Deutschlandarchiv sind Recherchen und Meinungsbeiträge der jeweiligen Autorinnen und Autoren, sie stellen keine Meinungsäußerung der Bundeszentrale für politische Bildung dar und dienen als Mosaikstein zur Erschließung von Zeitgeschichte. (hk)
Peter Wensierski, Journalist, Buchautor und Dokumentarfilmer, kam im Juni 1954 in der Gerhart-Hauptmann-Straße 13 in Heiligenhaus zur Welt und besuchte von 1960 bis 1964 die Gemeinschaftsschule am Sportfeld, danach das Theodor- Heuss-Gymnasium in Kettwig an der Ruhr bis zum Abitur 1973. An der Freien Universität Berlin studierte er Politik, Geschichte und Publizistik. Nach dem Abschluss begann er 1978 mit Reportagen aus der DDR für den Evangelischen Pressedienst (epd), dem SPIEGEL, dem Deutschlandfunk und viele andere Medien. Wensierski besuchte als vom Außenministerium der DDR akkreditierter Westjournalist Partei- und Massenveranstaltungen der SED ebenso wie Kirchentage, Synoden oder Punkkonzerte, Bluesmessen und Friedenswerkstätten in der DDR und erlebte die aufkommende Oppositionsbewegung der Jugend, in Kirchen-, Künstler- und Intellektuellenkreisen. Ab 1986 arbeitete er als Fernsehjournalist der ARD für aktuelle Brennpunkte, Sondersendungen und vor allem für das politische Magazin KONTRASTE.
1993 wechselte er zum SPIEGEL und arbeitete mehr als zwei Jahrzehnte lang als Redakteur im Deutschlandressort und auch als Auslandskorrespondent in Rom und im Vatikan, wo er den Missbrauch von Kindern und Jugendlichen durch Priester und dessen Vertuschung öffentlich machen konnte. 2006 erschien sein Buch "Schläge im Namen des Herrn - Die verdrängte Geschichte der Heimkinder in der Bundesrepublik", das mehrfach verfilmt wurde. Für seine Verdienste um die Aufarbeitung dieses Kapitels der bundesdeutschen Nachkriegsgeschichte erhielt Wensierski 2012 das Bundesverdienstkreuz. Durch seine Enthüllungen über den Limburger Bischof Tebartz van Elst kam es erstmals zum Abtritt eines Bischofs in Deutschland. 2014 erschien „Die verbotene Reise – Die Geschichte einer abenteuerlichen Flucht“, 2017 „Die unheimliche Leichtigkeit der Revolution – wie eine Gruppe junger Leipziger die Rebellion in der DDR wagte“, über den Hintergrund der Friedlichen Revolution. Es wurde unter gleichem Titel für die ARD verfilmt.
2023 erschien nach mehrjährigen Recherchen sein Buch über den in Stasi-Haft zu Tode gekommenen Jenaer Jugendlichen Matthias Domaschk unter dem Titel „Jena Paradies“, der auch in der bpb-Schriftenreihe erschienen ist. Peter Wensierski kehrt regelmäßig in seine Geburtsstadt Heiligenhaus zurück und besucht Freunde, Verwandte und Nachbarn in der Straße und der Stadt, in der er aufgewachsen ist.