Gedächtniskultur ist kein Selbstläufer. Sie organisiert sich nicht selbst, sie entsteht nicht in einem kollektiven Unbewussten, das lediglich bewusst gemacht würde. Das Gedächtnis reproduziert und rekonstruiert nicht einfach die Vergangenheit. Gedächtnis wird hergestellt, konstruiert, gemacht – in der Gegenwart, in Kontexten, Interessenlagen, zur Zementierung, Widerlegung oder Legitimierung gegenwärtiger Positionen. Das ist nicht arbiträr, sondern in hohem Maße kontextuell.
Ich spreche lieber von Erinnerungspolitik als von Gedächtniskultur. Es fasst genauer, was wir tun, wenn wir Vergangenheiten beschreiben: Wir tun es im vollen Bewusstsein, gegenwärtige Positionen, Werte und Perspektiven auszudrücken. Das ist noch nie ein leichtes Geschäft gewesen, auch wenn es scheint, dass gerade die allerneueste Historiografie besonders heftigen Frontstellungen, manchmal unversöhnlichen Positionen ausgesetzt ist.
Was fehlt: der gesellschaftliche Konsens über die zweite deutsche Diktatur
Vor mehr als 20 Jahren hat der inzwischen verstorbene Hamburger Politikwissenschaftler Michael Thomas Greven die offene Frage gestellt, wie man denn damit umgehen solle, dass man es zum zweiten Mal im 20. Jahrhundert „mit der Geschichte einer verbrecherischen Diktatur“ zu tun hat, „die in der Zeit ihrer Existenz bestürzend viel Unterstützung durch die Bevölkerung erfahren hat“.
Diese Frage bleibt vor allem auch deshalb ein Ausdruck von Ratlosigkeit, weil sie schon als Frage nicht konsensual ist. Schon 1996 diagnostizierte der Historiker, Theologe und Psychologe Gerhard Besier, dass es bisher nicht gelungen sei, einen gesellschaftlichen Konsens über die zweite deutsche Diktatur und deshalb auch über die zweite deutsche Demokratie zu finden, und dass es aber darum gehe, nicht durch das „hektische Beschwören der ‚christlich-abendländischen‘ Kultur“, sondern durch einen gesellschaftlichen Selbstverständigungsdiskurs einen „konstruktiven Kompromiß“ herzustellen.
In der Tat: Über die Generationen hinweg und quer durch die Landesteile Ost und West findet man Unkenntnis über die Geschichte von Verfolgung und Widerstand in der DDR. Die mitlaufende oder eben auch mittragende Mehrheitsgesellschaft der ehemaligen DDR will nicht an ihr Versagen erinnert werden, an ihr Wegsehen oder an ihre mangelnde Solidarität. Die Ridikülisierung und Bagatellisierung politischen Protests und politischer Nonkonformität war in der DDR unter der Bevölkerung weit verbreitet, sie war nicht nur Bestandteil der Zersetzungsstrategie des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS).
Von Jüngeren oder Altbundesdeutschen ist mitunter zu hören, man wisse ja auch nicht, wie man sich verhalten hätte und werde sich kein Urteil erlauben. Mich erschreckt zudem das Argument, das man schon lange und immer wieder hört, auch in der Altbundesrepublik habe man sich anpassen müssen. Doch nicht nur da zeigt sich der mangelnde Konsens über die zweite Diktatur und über die zweite Demokratie. Er ist am schärfsten dort zu sehen gewesen, wo der Unterschied zwischen Demokratie und Diktatur auf der Straße und dann in den Parlamenten lauthals verwischt worden ist und wird, vor allem in den Attacken gegen die angebliche Corona-Diktatur. Das war und ist nicht in erster Linie Ausdruck einer gesellschaftlichen Amnesie; hier ist nicht etwas vergessen worden. Es ist auch eine Folge dessen, dass die Mehrheitsgesellschaft in der DDR die Diktatur nicht als Diktatur erlebt und empfunden, sondern sie ertragen und mitgetragen hat.
Das war der Boden, von dem aus der fehlende Konsens über die zweite deutsche Diktatur und über die zweite deutsche Demokratie politisch instrumentalisiert worden ist: als blaue Revolte von rechts, die den Anspruch erhob, die Revolution von 1989 fortzuführen oder zu vollenden. Wie gesagt: Das hat nichts mit Amnesie zu tun, sondern damit, dass der fehlende Konsens sozusagen auf fruchtbaren Boden gefallen ist.
1989 revoltierte eine Minderheit
Und es war die allzu schnelle und gebetsmühlenartige Rede von der Revolution des Volkes, die zur Rede vom Volk der Revolution geworden ist. Auch wenn nach und nach flächendeckend: Es war eine Minderheit, die 1989 auf die Straße ging und die die Revolution als ihre ureigenste Sache ansah. Selbst auf den ganz großen Demonstrationen um den Leipziger Ring war nur eine – allerdings gut sichtbare – Minorität unterwegs, die zudem auch aus der weiteren Umgebung angereist war. Grit Lemke hat in ihren „Kindern von Hoy“ beschrieben, wie der immer noch und fälschlich als Wende bezeichnete Umbruch 1989 in der Provinz von der Bevölkerung getragen wurde: von einer winzigen Gruppe von Nonkonformisten, oft in und um die Kirchgemeinden herum, und dann von nur wenigen Demonstrantinnen und Demonstranten im sehr späten Spätherbst 1989. Die neuen Möglichkeiten vor allem des Reisens und des Konsums wurden begrüßt, aber die neuen demokratischen Strukturen wurden nur von sehr wenigen mitgestaltet, wie auch nur sehr wenige im Konflikt mit Stasi und SED-Kreisleitung gestanden hatten. Die neue Welt wurde vor allem mit dem Ende der „Schwarzen Pumpe“ und der Arbeitslosigkeit erfahren: alles von oben und alles von außen. Bald darauf, im September 1991, folgten die Pogrome gegen Vertragsarbeiterinnen und Vertragsarbeiter aus Vietnam und Mosambik.
Die Rede von der Revolution, die für viele den wichtigsten Lebenswendepunkt ausgedrückt hat, ist zu hemdsärmelig und fälschlich zur Rede vom Volk der Revolution geworden, während zugleich übersehen oder gezielt ignoriert wurde, wie distanziert eine Mehrheit gegenüber der Revolution und dann gegenüber der neuen Demokratie geblieben war.
Die Vermarktung der Revolution im Westen
Und natürlich kam hinzu, dass die Umbruchsfreude der Minderheit von den altbundesdeutschen Medien als Repräsentation des Gesamtvolkes dargestellt worden ist. Das Volk schien bestens geeignet zu sein, durch die Minderheit der Sieger und Siegerinnen repräsentiert zu werden, wo doch außerdem die schärfsten Gegner der SED-DDR, die Millionen seit den 1950er-Jahren in den Westen Geflohenen und dann Ausgereisten, aus dem „Westen“ sprachen, nun mit der altbundesdeutschen Medienmacht im Rücken.
Die Spannung zwischen den gebliebenen Angepassten und den gebliebenen Unangepassten oder Opponierenden sowie den geflohenen Unangepassten war aber längst da. Sie wurde unter das Diktum vom „Volk der Revolution“ gekehrt, das nun wie eine große Volksharmonie erschien – die es freilich nie gegeben hat, schon gar nicht in meiner eigenen Generation der in den 1960er-Jahren Geborenen, die den größten Teil ihrer Schul- und Studienzeit in der DDR verbracht hat und von der sich ein sehr, sehr übersichtlicher Teil nonkonform geschweige denn offen opponierend verhalten hatte – und von denen beispielsweise nur eine Minderheit unter den Abiturienten nicht bereit war, länger als die 18 Monate des Grundwehrdienstes bei der Nationalen Volksarmee (NVA) zu dienen, um einen Studienplatz zu bekommen. Heute ist es diese Generation, die die größte Affinität zum Rechtspopulismus und die größte Distanz zur Demokratie hat, die von dieser Generation häufig nach wie vor als westlicher Import betrachtet wird Es ist auch die unsichtbare Generation derer, die kaum in den gesellschaftlichen Führungspositionen und Eliten anzutreffen ist.
Repressionsgeschichte versus Alltagsgeschichte?
Die an politischer Oppression und der Ausgrenzung und Verfolgung von Gruppen und Einzelpersonen orientierte Aufarbeitung der zurückliegenden Jahrzehnte ist von einem großen Teil der konformen Bevölkerung ignoriert, manchmal schamhaft zur Kenntnis genommen, aber von vielen auch als permanenter Vorwurf empfunden worden, weil sie mit dem Blick auf die Verfolgten und Geflohenen unausgesprochen auch die Perspektive der Gebliebenen und Angepassten beleuchtet hat. Nun attackieren viele von ihnen die Demokratie als Diktatur.
Auch vor diesem Hintergrund hat sich in der Aufarbeitungsgeschichte eine gewichtige Veränderung vollzogen. Oder wie soll man sonst den Versuch beschreiben, die Mehrheitsgesellschaft der ehemaligen DDR dadurch zu integrieren, dass man ihrer Alltagsgeschichte nach Möglichkeit eine gewisse Normalität bescheinigt und dem Vorwurf entgegentritt, die Lebensleistung der Ostdeutschen zu entwerten, von denen manche dazu tendieren, mit ihrer Lebensleistung auch das gesamte diktatorische Staatssystem gleich mit zu verteidigen?
Nicht dem Konformismus und der Anpassung das Wort reden
Ich möchte sehr nachdrücklich dafür plädieren, einer solchen Vergangenheitspolitik im historiografischen Gewande nicht nach dem Mund zu reden. Es ist eben auch provozierende Aufgabe einer aufklärerischen Gedächtnis-Historiografie, die Gesellschaft der DDR von ihren repressiven Machtmechanismen her zu betrachten – und vor allem auch von ihren ausgegrenzten Rändern her, nämlich aus der Perspektive derjenigen, die nonkonform gewesen sind oder aktiv widerstanden haben, als der „Dorn im Fleisch“ der Staatsgesellschaft.
Es gilt, der Versuchung zu widerstehen, nun dem Konformismus das Wort zu reden und die Anpassung zur Norm zu erklären. Ein solches Vorgehen ist heute nichts weniger als Arbeit an der Demokratie, die beharrlich und mutig zu leisten ist, auch wenn Gleichgültigkeit und Widerstände zu erwarten sind.
NS-Diktatur und SED-Staat nicht gegeneinander ausspielen
Und einen weiteren Punkt möchte ich benennen, der für die Universität Halle von besonderem Belang ist. Zu den seit den 1990er-Jahren immer wieder auftauchenden Diskussionen gehört es, die nationalsozialistische und die kommunistische Diktatur gegeneinander auszuspielen. Zuweilen scheint der SED-Staat wie eine Bagatelldiktatur betrachtet zu werden, und manchmal wird in diesem Zusammenhang auf die horrenden Schrecken des Nationalsozialismus verwiesen, denen gegenüber jedes andere Unrecht und Verbrechen geradezu marginal erscheine.
Die „Rektoratskommission für die Aufarbeitung der Universitätsgeschichte in den Diktaturen des 20. Jahrhunderts“, die ich leite, hat daher gezielt beide Perspektiven eingenommen. Denn in der DDR ist ja nicht nur die Aufarbeitung der NS-Zeit mehr als nur zu kurz gekommen, sie wurde auch verhindert, weil der Nationalsozialismus propagandistisch in den Westen verlegt worden war. Hier gibt es Nachholbedarf. Darüber hinaus muss der Blick auf die Kontinuitäten und Diskontinuitäten jenseits der Bruchjahre gelenkt werden, auch auf 1945.
Aufarbeitung an der Universität Halle
Wir haben in Halle Aufarbeitung vor allem personenbezogen betrieben, unter anderem vor zwölf Jahren mit einem großen Projekt über die 44 zwischen 1933 und 1945 aus politischen und rassistischen Gründen vertriebenen Hochschullehrern und Hochschullehrerinnen und einer Gedenkveranstaltung, zu der Familienangehörige aus aller Welt eingeladen waren. Für die DDR-Zeit haben wir auf einer eigenen Webseite Biogramme von inzwischen mehr als 250 Angehörigen der Universität zusammengestellt, Hochschullehrerinnen und Hochschullehrer, Mitarbeitende und Studierende, die von 1945 bis 1989 aus politischen Gründen verfolgt, verhaftet, exmatrikuliert oder auf andere Weise malträtiert worden sind. Das nehmen nicht alle an der Universität zur Kenntnis, und es sorgt bei manchen, nicht nur in der DDR Geborenen, für (meist) unausgesprochenen Widerspruch und auch Ärger – und zwar aus den oben genannten Gründen: entweder unter dem Stichwort „Bagatelldiktatur“ und aus dem Vergleich zu den Schrecken des Nationalsozialismus heraus oder weil manch einem die DDR doch als die bessere Variante erschien und noch erscheint.
Kein Selbstläufer, sondern Aufgabe bleibt es, Geschichts- und Erinnerungspolitik bewusst zu betreiben als Aufdeckung der Geschichten von Repression und Unfreiheit. Mehr denn je ist das Demokratiebildung. Und es ist ein ethisches Projekt der Freiheit und auch der Wiedergutmachung, die über den Rahmen der juristischen und finanziellen Rehabilitation hinausgeht und den Prozess der gesellschaftlichen Selbstverständigung in Gang setzt.
Zitierweise: Friedemann Stengel, "DDR-Geschichte als Erinnerungspolitik. Aufdeckung von Repression und Unfreiheit ist Demokratiebildung", www.bpb.de/563650, in: Deutschland Archiv vom 02.07.2025. (ali)