Leerstellen und Geschichtsklitterungen
Über die Lücken im Abschlussband der dreiteiligen Memoiren von Egon Krenz
Ilko-Sascha Kowalczuk
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Der letzte „Generalsekretär“ der SED, Egon Krenz, hat die Trilogie seiner Autobiografie abgeschlossen. Ausgerechnet dieser letzte Band über das Entscheidungsjahr 1989 enttäuscht Historiker am meisten. Ilko-Sascha Kowalczuk versucht nachzutragen, was Krenz in seinem Buch auslässt aus dem Geschehen, das Ende 1989 zu Revolution und Implosion der DDR führte und dem „Sozialismus in den Farben der DDR“ ein jähes Ende bescherte – maßgeblich durch eine ausgeprägte Selbstzufriedenheit und eine auf Gehorsam getrimmte Führung aus ideologisch bornierten „Funktionären statt Politikern“.
Der dritte Band der Lebenserinnerungen von Egon Krenz ist erneut mit einer großen Medienaufmerksamkeit erschienen – und rückte gleich in die Spiegel-Bestsellerliste. Der Bedarf nach solcher Art Literatur, die viel verspricht und wenig hält, scheint immens zu sein. Es ist zum Verzweifeln, wie Krenz darin, gewiss im Sinne vieler seiner treuen Leser*innen, Diktaturen verharmlost, als wäre es nach wie vor sein Ziel, Demokratie und Freiheit propagandistisch zu bekämpfen. Soll man solche Literatur ignorieren? Ich denke nein. Es ist unerlässlich, solcher Verfälschung von Geschichte entgegenzutreten.
Den ersten beiden Memoiren-Bänden von Egon Krenz habe ich hier Interner Link: 2023 und Interner Link: 2024 ausführlich und mit Beispielen unterlegt eine systematische Geschichtsklitterung bescheinigt. Dem Verlagseigner und Ghostwriter von Krenz, dem früheren FDJ-, SED- und MfS-Funktionär Frank Schumann (der auch unter mehreren Pseudonymen agiert), ist es zu verdanken, dass diese Bände – trotz kurioser Fehler, etwa in Band 2 (siehe meine Rezension von vor einem Jahr) – gut lesbar und keinesfalls langweilig sind. Zumindest das gilt auch für Band 3.
Krenz selbst ist vor allem in einem atemberaubenden Maße von sich selbst überzeugt. Nun gut, einem alten Mann von 88 Jahren sollte man so etwas nicht ankreiden. Worauf blickt er denn sonst zurück außer auf eine Trümmerlandschaft? Er war im mittleren Erwachsenenalter langjähriger Chef der „Freien Deutschen Jugend“ (FDJ), besonders ernst genommen wurde der „Berufsjugendliche“ in dieser Rolle außerhalb der DDR-Nomenklatura gleichwohl nicht.
Dann stieg er in der SED-Führungsfamilie zum Sekretär im ZK der SED für Sicherheitsfragen auf, als gegenüber Ministern weisungsbefugter Chef von Stasi, Armee, Polizei, Justiz und Jugendverwaltung, wurde de facto Erich Honeckers Stellvertreter und hielt mit eiserner Hand und vielen Potemkin’schen Dörfern den Laden so lange zusammen, bis er 1989 durch Ausreisewelle, Staatspleite und friedliche Revolution zusammenbrach – und Krenz als Honecker-Nachfolger am 18. Oktober 1989 nichts anderes einfiel, als in einer Fernsehansprache die DDR-Gesellschaft mit „Liebe Genossen und Genossinnen“ anzureden und eine Ansprache abzulesen, die er zuvor im obersten Machtgremium ebenfalls schon vorgetragen hatte – unprofessioneller, ach, nennen wir es beim Namen: dümmer ging es in dieser Situation einfach nicht.
Ich muss mich entschuldigen, wenn ich zu polemisch werde. Aber für Historiker und Historikerinnen sowie für Geschichtsinteressierte ist das Buch ein Ärgernis. Es gib kaum eine Seite in dieser Autobiografie, bei deren Inhalt ich nicht aus rein sachlichen Gründen Widerspruch anmelden könnte und müsste. Egon Krenz lebt in einer eigenen Blase, die autark daherkommt und die DDR in einem Maße verklärt, das sich jeder rationalen Zuschreibung entzieht. Dass ihn dabei seine strafrechtliche Verurteilung zu einer geringen Haftstrafe als Mitverantwortlichen für Mauermorde wurmt, ist durchaus nachzuvollziehen. Doch leider hat er auch heute hierzu nichts Neues mitzuteilen. Und Selbstkritisches schon gar nicht.
Dass er aber unfähig ist, wenigstens Unterschiede im Gefängniswesen zwischen Ost und West anzuerkennen, macht ihn aus meiner Sicht unmöglich. Er schreibt, „Knast ist Knast“ (S. 264), ob nun Bautzen oder Moabit. Als zum Kontrast der 1. Sekretär der Leipziger SED-Stadtleitung, Joachim Prag, wegen Wahlfälschung in Untersuchungshaft kam, schrieb er am 12. Februar 1990 an DDR-Ministerpräsident Hans Modrow (SED): „Seit ich in Haft bin, kommt die Scham hinzu, wie bei uns Menschen unter Verschluss gehalten wurden. Das ist einfach unmenschlich. (…) Wie kann man sich unter solchen Bedingungen richtig und würdig auf die Verhandlung vorbereiten? Es ist unsagbar schwer.“ Eine solche Einsicht ist Egon Krenz nicht gegeben. Stattdessen inszeniert er sich immer wieder als Opfer, sogar schon unter Honecker, etwa wenn er davon spricht, im August 1989 in „Zwangsurlaub“ geschickt worden zu sein, so als habe der zu dieser Zeit Angst vor ihm gehabt.
Die DDR als Idylle
Sein Buch ist erwartungsgemäß eine pure Apologie kommunistischer Herrschaft. Seine Anhänglichkeit an Russland, den Kreml und den Massenmörder Putin, den er in diesem Buch wie einen nahen Freund mit seinen beiden Vornamen auftauchen lässt, ist hinlänglich bekannt. Dass aber Krenz behauptet, der „erste rechtsextremistische, rassistisch motivierte Mordanschlag im vereinten Deutschland“ sei im November 1992 in Mölln geschehen (S. 239), während er nur einen Satz später die Mordanschläge in Hoyerswerda (September 1991) und Rostock-Lichtenhagen (August 1992) als „gewalttätige Ausschreitungen“ abtut (S. 239), ist nur auf den ersten Blick überraschend. Denn Krenz beschreibt die DDR als Idylle, als Bildungs-, Lese-, Freiheits- und Lustprinzip mit wenigen Dellen, als Hort des Antifaschismus. Wie aber hätte das so aufrechterhalten bleiben können, wenn nur wenige Monate nach dem Mauerdurchbruch Menschen im Osten faschistische und rechtsextremistische Aktionen durchführten und bejubelten? Krenz und sein Ghostwriter lösen das Problem ganz einfach: Es gab sie nicht, er stuft sie schlicht zu „Ausschreitungen“ herunter.
Seine Erinnerungen enthalten viele, meist knappe Würdigungen von Persönlichkeiten. Auf Altersmilde von Krenz dürfen Andersdenkende und Andershandelnde wie Günter Schabowski, Michael S. Gorbatschow, Joachim Gauck, Dietmar Keller, Rainer Eppelmann oder Alexander N. Jakowlew nicht hoffen. Sie und viele andere werden vom alten Krenz nach wie vor jugendhaft verachtet, gehasst, geschmäht. Krenz beherrscht hierbei auch die Verachtung mittels Übergehen, Beschweigen, Andeutungen. Leute wie Gregor Gysi oder Hans-Dieter Schütt werden en passant abgefertigt.
Die wichtigsten Personen aus der Opposition, die Schrittmacher der Freiheitsrevolution, werden wie Bärbel Bohley, Edelbert Richter oder Wolfgang Ullmann nur im Sinne Krenz‘ benutzt, nicht gewürdigt, die meisten nicht einmal einer Erwähnung für wert befunden. Das ist im Falle von Leuten wie Egon Bahr, Manfred Stolpe, Wolfgang Herger, Friedrich Schorlemmer, Peter-Michael Diestel, Heinz Rudolf Kunze, Peter Gauweiler oder Friedrich Wolff ganz anders: offenbar für Krenz allesamt Ehrenmänner – Frauen von Bedeutung, abgesehen von seiner verstorbenen Ehefrau, gibt es in seiner Welt nicht –, mit denen er gern einen Staat gemacht hätte. Ob sich Bahr oder Stolpe über jeden Satz von Krenz gefreut hätten, muss dahingestellt bleiben. Jedenfalls suggeriert Krenz nicht, dass beide eine übermäßige Distanz zur SED-Führung gehabt hätten. Beide erscheinen bei ihm wie heimliche Nachrichtenüberbringer, die vertrauenswürdig waren wie gute Genossen.
Die verteidigte Mär vom Friedensstaat
Immer wieder betont Krenz, die DDR sei der friedliebendste Staat in der deutschen Geschichte gewesen. Er behauptet sogar, in der DDR sei keinem Funktionär eingefallen, die notwendige „Kriegstüchtigkeit“ der Gesellschaft zu betonen. Was für ein Propagandist, ja ein Lügner dieser Krenz doch ist. Eine Hauptparole in der DDR lautete „Der Frieden muss bewaffnet sein“ - die Kriegstüchtigkeit der Bevölkerung war oberster Grundsatz. Wer sich dagegen zu „Schwerter zu Pflugscharen“ bekannte und einen entsprechenden Aufnäher trug, wurde verfolgt. Pazifisten galten als Staatsfeinde. Die SED führte ohnehin Tag für Tag Krieg gegen die eigene Gesellschaft. Die ideologische Dauerbeschallung von der Wiege bis zur Bahre, der niemand entkam, war im Kern eine militaristische Daueraufrüstung. Die Mauer als Begrenzung eines letztlich großen Freiluftgefängnisses war dafür der unübersehbare Beleg.
Die DDR war hochgerüstet und militarisiert, wie kein anderer Staat in Europa nach 1945 bis 1990. Jedem Kind wurde militärischer Drill beigebracht, der gesamte Schulunterricht war an militärähnlichen Normen ausgerichtet, wer nicht mitmarschierte, flog raus, wurde ausgegrenzt und bestraft. Und das galt auch für die Hochschulen und viele weitere Bereiche. Andersdenken wurde militant unterdrückt. Und auch andersdenkende sozialistische Nachbarstaaten waren der DDR ein Dorn im Auge. In Prag 1968 militärisch zu intervenieren, geschah auch auf Drängen der DDR, die sich anfangs selbst daran beteiligen wollte. Und heimlich Kriegsgerät und Berater für militärische Optionen befreundeter Staaten zu liefern, gehörte recht skrupellos zu den Devisengeschäften der DDR dazu. Nichts davon findet sich bei Krenz, sondern nur das Propaganda-Bild von der friedlich friedliebenden DDR und ihrer SED-Spitze, die angeblich alles im Sinne der Menschen im „Arbeiter- und Bauernstaat“ und im Sozialismus tat.
Das neue Buch von Egon Krenz leidet an vielen Stellen darunter, dass der Autor seine Quellen nicht präzise benennt. Für so manche Behauptung hätte ich gern die Originalquelle eingesehen. Historikergeschäft eben. Einmal wandte ich mich an Egon Krenz – am 5. Mai 2020, ich bat ihn um ein Dokument. Tags zuvor hatte er in der „Berliner Zeitung“ über ein Geheimtreffen in der sowjetischen Botschaft mit Valentin Falin und Hans Modrow am 24. November 1989 berichtet, an dem er teilgenommen habe. Darüber gebe es eine 47-seitige Niederschrift: „Das Original befindet sich in meinem Besitz.“ Nur einen Tag später, am 6. Mai, teilte mir Krenz mit, dass er das Protokoll nicht aus der Hand gebe – was es wertlos macht, wenn es nicht nachprüfbar ist.
Immerhin, Krenz schreibt offen, er habe zu keinem Zeitpunkt daran gedacht, das Machtmonopol der SED zu brechen, zu teilen, aufzugeben (S. 120). Ein gescheiter Berater hätte ihn in seinem Schreibprozess vielleicht nach seiner „Demokratievorstellung“ fragen können. Welcher Art „Demokratie“ hast Du angehangen? Wir erfahren es nicht.
Vielleicht hätte ihm dann selbst auffallen können, dass schon die permanente Betonung, er habe als Marxist gehandelt, verlogen ist. Denn: Es gab keine Marxisten in der SED-Führung, Honecker wie Ulbricht wie Krenz waren Leninisten, ein gewaltiger Unterschied. Lenin war durch nichts anderes als einen Putsch an die Macht gelangt – Putsche waren, anders als Krenz behauptet, ein wichtiges Mittel der Leninisten, was sie auch theoretisch zu begründen wussten, denn die „Partei neuen Typus“, die Lenin Anfang des 20. Jahrhunderts erfunden hatte, war nichts anderes als eine Putsch- und Kaderpartei, eine Partei von Berufsrevolutionären, um eine eigene Diktatur zu errichten.
Machtkämpfe und Intrigen innerhalb der Führungsspitze waren charakteristisch, auch der Diplomgesellschaftswissenschaftler Krenz, der von 1964 bis 1967 an der Parteihochschule der KPdSU in Moskau studierte, kam mit einer Palastrevolte und nicht auf demokratischen Wegen an die Spitze. Hätte er 1989 auch nur einen Funken Demokratiebewusstsein gehabt, wäre er am Tag seiner Ernennung zurückgetreten und hätte freie Wahlen ausgerufen. Das freilich hätte bedeute, das Machtmonopol aufzugeben. Krenz war genauso ein gelehriger Schüler Lenins und Stalins wie Ulbricht oder Honecker. Er war immer ein „fröhlicher kalter Krieger“ (Wolf Biermann) geblieben. Krenz ist die lebende Antithese zur freiheitlichen Demokratie, er war für ein paar Tage auch nach eigener Auskunft hauptamtlicher Diktator – denn nichts anderes bedeutet es, das Machmonopol nicht aufgeben zu wollen.
Funktionär statt Politiker
Egon Krenz glaubt, er habe Politik betrieben, sei Politiker gewesen; er schreibt das immer wieder. Er ist wohl zu alt, um zu begreifen, dass es zu keinem Zeitpunkt in der DDR Politik gab, dass er niemals Politiker war. Politik setzt eine Arena voraus, in der widerstreitende Interessen, auch scharf sich gegenüberstehender Gruppen, kommuniziert und verhandelt werden und nach Kompromissen gesucht wird. In der DDR gab es das nicht. Wer politisch der SED widersprach oder Politik anstrebte, über den wurde vor Gericht verhandelt.
Die Akteure von Staat und Partei hießen auch nicht Politiker, sondern Funktionäre. Sie hatten zu funktionieren, hatten die in den zuständigen Machtzentralen erlassenen Befehle umzusetzen und durchzusetzen. Krenz zählte zu den obersten Funktionären, die keinen Widerspruch duldeten, schon gar keinen grundsätzlichen, denn die Partei, die Partei hatte immer recht. Noch heute glaubt Krenz, die SED-Führung habe „an keinem Tag der Existenz der DDR“ gegen „das eigene Volk regiert“ (S. 223). Warum aber ließ er dann beispielsweise in seinen letzten Amtstagen SED-Akten vernichten?
Am 6. Dezember 1989 trat er nach nur sieben Wochen Amtszeit als Staatsratsvorsitzender zurück. Eine von ihm am 30. November angeordnete Vernichtungsaktion von SED-Dokumenten – über die er in seinen Memoiren natürlich ebenfalls kein Wort verliert, die bis zum 12. Dezember abgeschlossen sein sollte und der eine nicht abzuschätzende Zahl von Dokumenten tatsächlich zum Opfer fiel – ist nach Aussage von leitenden Mitarbeitern des SED-Parteiarchivs nach dem Rücktritt der Parteispitze unverzüglich gestoppt worden. Bis dahin verschwand aber so einiges.
Nun begann eine andere Geschichte – der Funktionär Krenz wurde zum Bürger Krenz, der zur Verantwortung gezogen wurde. Zuerst musste er seiner Partei Rede und Antwort stehen. Vermutlich hat ihn nichts so getroffen wie der Ausschluss aus seiner Partei. Aus Überzeugung blieb er Kommunist alter Schule und fühlt sich, wie er schreibt, im Kreise der „Kommunistischen Plattform“, beim „RotFuchs“ oder auf Veteranentreffen von NVA, SED, Volkspolizei, Grenztruppen oder MfS bis heute wohl und anerkannt.
Seine drei Erinnerungsbände kommen zusammen auf fast 1.100 Buchseiten, die leider die Erwartungen von Historikern grundlegend enttäuschen, wohl aber nicht die seiner ideologischen Fans, deren Anzahl dem Buch nach wie vor hohe Verkaufserfolge garantieren dürfte. Er bedient eine Marktnische, aber nicht Wissenschaft und Geschichtsschreibung, und er kämpft bis heute für seine Weltsicht. Das beeindruckt mich durchaus – insofern ist er kein „Wendehals“, er ist nicht umgefallen, er gibt nicht klein bei, er will das Idol seiner Treuesten bleiben, daher bleibt er in seiner Trilogie bei seinen Ansichten ohne Einsichten. Es sei ihm wenigstens das gegönnt. Denn ihm ist auch klar, dass sein Kampf dem mit einer Windmühle gleicht: „Nachdem man uns schon die Gegenwart nahm, bemächtigte man sich nun auch noch unserer Geschichte.“ (S. 187)
Mal abgesehen davon, dass unklar bleibt, wer „uns“ und wer „man“ ist – was übrigens kurios ist, weil er diese Form der Vereinnahmung selbst kritisiert (S. 222). Die Geschichts- und Gegenwartssicht von Egon Krenz, verknüpft mit seinem distanzlosen Putinbündnis, mag auch mir im Moment gefährlich erscheinen, weil sich seine Feindbildprägungen mit seinen Büchern weiter verbreiten.
Aber nüchtern gesagt: Schon heute fragen immer mehr Menschen, wer denn dieser Egon Krenz sei. Egon Krenz ist Vergangenheit, und in der Geschichte wird er den Platz zugewiesen bekommen, den Diktatoren historisch gerechterweise einnehmen: Keinen guten – und den eines Helden schon gar nicht. Kurz gesagt: Kein Buch, das sich lohnt.
Quellentext"Krenz‘ Buch ist ein Werk der Auslassungen"
Weitere Kritikpunkte des Historikers Ilko-Sascha Kowalczuk:
Nichts von dem, was ich nachfolgend ausbreite, kommt bei Krenz vor. Denn Krenz‘ Buch ist ein Werk der Auslassungen. Dabei wären ehrliche und selbstkritische Erinnerungen, besonders über das Schlüsseljahr 1989, der finalen Geschichte der DDR, eine große Chance für Egon Krenz gewesen, aus dem Schatten eines ideologischen Propagandisten herauszutreten. Diese Chance nutzt er nicht.
Ich wende mich an dieser Stelle einigen grundsätzlichen Aspekten jenes Jahres 1989 zu, die im Vorfeld besondere Neugier auf sein Buch weckten. Gehört es beispielsweise zur Habenseite von Krenz, dass die friedliche Revolution in der DDR friedlich blieb, wie Krenz-Apologeten wie der verstorbene FAZ-Herausgeber Frank Schirrmacher meinten? Krenz beschreibt das noch ausführlicher und zum Teil wortgleich wie vor über 25 Jahren in einem anderen Buch. Und Krenz meint, er habe die militärische Niederschlagung mit vielen Todesopfern in China Anfang Juni 1989 nicht begrüßt. Als dünnen „Beweis“ führt er ein Gerichtsurteil gegen eine Bundesministerin an, die das nicht mehr behaupten durfte (S. 258-259).
Steitfall China
Die SED-Führung feierte bereits am 5. Juni 1989 im Neuen Deutschland: „Volksbefreiungsarmee Chinas schlug konterrevolutionären Aufruhr nieder.“ Dass sich die Führung des Staates offen mit Massenmördern solidarisierte und die Niederschlagung begrüßte, machte viele Menschen sprachlos. Besorgt zeigten sich viele zudem über den unterschwellig drohenden Satz: „Die Aufrührer hätten den Sturz der sozialistischen Ordnung beabsichtigt.“
Egon Krenz zählte seit 1983 zu den ranghöchsten und einflussreichsten Funktionären in der SED-Diktatur. Er war natürlich auch Mitglied der Volkskammer, Mitglied der SED-Fraktion und Mitglied der SED-Parteigruppe der Volkskammer (dort waren alle SED-Mitglieder vereint, also auch die aus anderen Fraktionen wie FDJ, FDGB, Kulturbund und so weiter). Am 8. Juni verabschiedete die Volkskammer eine Erklärung, die die SED-Führung eingebracht hatte. Darin hieß es:
„Die Abgeordneten der Volkskammer stellen fest, dass in der gegenwärtigen Lage die von der Partei- und Staatsführung der Volksrepublik China beharrlich angestrebte politische Lösung innerer Probleme infolge der gewaltsamen, blutigen Ausschreitungen verfassungsfeindlicher Elemente verhindert worden ist. Infolgedessen sah sich die Volksmacht gezwungen, Ordnung und Sicherheit unter Einsatz bewaffneter Kräfte wieder herzustellen. Dabei sind bedauerlicherweise zahlreiche Verletzte und auch Tote zu beklagen.“
Die Botschaft aus der SED-Spitze kam wirkungsvoll in der DDR-Gesellschaft an. Von nun ab traute man ihr die „chinesische Lösung“ zu, sollte es auch hier zu Unruhen und Massenprotesten kommen. Zum 40. Jahrestag der Gründung der Volksrepublik China weilte Egon Krenz seit Ende September als höchster SED-Vertreter in China und bejubelte die kommunistische Volksrepublik neuerlich. Kritik an deren Gewalttaten wurde nicht laut.
Krenz hatte sich ein weiteres Mal nachhaltig diskreditiert – das war im kritischen Teil der DDR-Gesellschaft ein unwidersprochener Konsens. Er war als oberster Funktionär für die Durchführung der „Wahlen“ verantwortlich – er verkündete als Vorsitzender der „Wahlkommission“ im Fernsehen das geschönte amtliche Ergebnis –, zuletzt Anfang Mai 1989.
Selbstverständlich streitet er bis heute und so auch in seinem Buch ab, dass es zu Fälschungen kam, dass er zuständig dafür war. Dabei hatte die SED-Führung vorgegeben, maximal ein Prozent Gegenstimmen zu akzeptieren. Es ist längst dokumentiert und analysiert, wie die Fälschungen der „Wahlen“, die nie demokratische waren, abliefen. Krenz selbst ging sogar im Juni 1989 davon aus, dass es 8 bis 15 Prozent Gegenstimmen gab, eine nicht unrealistische Annahme. Und seine Verantwortung drückte sich auch in dieser Äußerung aus: Er schlug im Juni vor, bei der nächsten Wahl die Vorgaben bei Wahlbeteiligung und Ja-Stimmen um „einige Punkte“ abzusenken, weil dies leichter „verkraftbar“ sei „als nachträgliche Ungereimtheiten“. Das schrieb er – deutlicher kann man seine Hauptverantwortung für die systematischen Fälschungen wohl nicht benennen.
Der fehlende Blick auf die Geflüchteten aus der DDR
Am 2. Mai 1989 kündigte die ungarische Regierung an, die Grenzbefestigungen zwischen Österreich und Ungarn abzubauen. Die ungarische Regierung teilte diese Pläne Moskau bereits am 3. März 1989 mit. Der Fall der Mauer trat in seine finale Phase. Der ungarische Außenminister Gyula Horn und sein österreichischer Amtskollege Alois Mock zerschnitten am 27. Juni symbolisch den ungarischen Stacheldrahtzaun an der Grenze in der Nähe von Sopron. MfS-Generalmajor Gerhard Niebling flog noch am selben Tag im Auftrag von Krenz nach Budapest, um mit dem Chef der ungarischen Staatsicherheit, Ferenc Pallagi, zu sprechen. Sie vereinbarten, die bisherige Praxis der Übergabe von Flüchtlingen an das MfS beizubehalten.
Die Zahl der Ausreiseanträge stieg permanent, die Anzahl geflüchteter Menschen hatte zu Sommerbeginn bereits 100.000 erreicht. Alles erinnerte an die Krisenjahre 1953 und 1961. Ständig kam es zu neuen Besetzungen bundesdeutscher Botschaften in Prag, Budapest und Warschau sowie der ständigen Vertretung in Ost-Berlin durch ausreisewillige Menschen. Am 12. Juli 1989 ist letztmalig von Ungarn ein fluchtwilliger DDR-Bürger an die Stasi übergeben worden.
In der DDR-Gesellschaft gab es zu dieser Zeit kaum ein anderes Thema als die Fluchtbewegung. Nur die SED-Führung schwieg hilflos und ratlos. Deren Handlungsunfähigkeit symbolisierte für immer mehr Menschen, dass dieses Regime keine Auswege aus der Krise kenne und nach 40 Jahren an der Macht am Ende sei. Intern aber bestand eine hektische Betriebsamkeit.
Auf Anweisung des zuständigen ZK-Sekretärs Krenz erarbeiteten Arbeitsgruppen, bestehend aus der ZK-Abteilung Sicherheitsfragen, dem Ministerium des Inneren (MdI) und dem MfS, im August verschiedene Handlungsalternativen. Kaum ein Wort findet sich dazu in den Memoiren von Krenz. Die entworfenen Alternativen lauteten:
a) sofortige Schließung aller Grenzen oder
b) Verabschiedung eines großzügigen Reisegesetzes oder
c) Zehntausende auf einmal ausreisen lassen, um Druck abzulassen.
Niemand im SED-Politbüro, also auch Krenz nicht, zeigte sich bereit, eine Entscheidung zu fällen oder auch nur vorzuschlagen. Jede Entscheidung barg enorme Risiken, die schriftlich fixiert und nach Misslingen einer Aktion dem zuständigen Politbüromitglied und seiner Entourage angekreidet werden konnten.
Die Situation in Ungarn spitzte sich unterdessen erheblich zu. Es hielten sich mittlerweile weit über 200.000 Ostdeutsche dort auf, Tausende von ihnen warteten dort Fluchtmöglichkeiten ab. Am 25. August reisten Ministerpräsident Miklos Németh und Außenminister Gyula Horn nach Bonn und eröffneten Bundeskanzler Kohl und Außenminister Genscher, dass sie die Grenzen öffnen und den DDR-Bürgern die Ausreise erlauben würden. Wenige Tage später hob Österreich für DDR-Bürger zeitweilig die Visumspflicht auf, um deren Durchreise unbürokratisch abzuwickeln.
Am 31. August traf Horn in Ost-Berlin mit DDR-Außenminister Oskar Fischer zusammen und erklärte, ab 11. September öffne Ungarn seine Grenzen für DDR-Bürger und Bürgerinnen, sollte die DDR bis dahin ihre Menschen nicht durch eine öffentliche Ausreisezusicherung in die DDR zurückgeholt haben. Das SED-Politbüro wies den Vorschlag zurück.
Die SED-Führung trat Ende August eine neue Hetzkampagne gegen die Bundesrepublik und die Flüchtenden los. Es war von professionellen Menschhändlerbanden die Rede, die Bundesregierung würde das alles initiieren und die Westmedien würden psychologische Kriegsführung betreiben, um eine Massenpsychose in der DDR auszulösen. Das MfS stellte erstaunt fest, dass die Masse der Flüchtenden gut ausgebildete junge Leute unter 40 Jahren waren. Es rannte das „normale Volk“ davon. Bei Krenz ist von alledem nichts zu lesen, auch nichts von den Oppositionsbewegungen, die sich nun formierten. Er hat sie damals ignoriert und besitzt nun nicht die Größe – wenn man einmal von einigen pflichtschuldigen Verbeugungen vor linkssozialistischen Denkern wie Friedrich Schorlemmer oder Stefan Heym absieht –, ihre historische Rolle zu würdigen. Sie gibt es bei ihm einfach nicht.
In der Zwickmühle der SED
Während den Blockparteien die Krise theoretisch zur politischen Profilbildung hätte dienen können (die sie nicht nutzten), befand sich die SED in einem ideologischen Dilemma. Würde sie auf die Krise politisch reagieren, Fehler einräumen und einen Kurswechsel vornehmen, würde sie die Gegenwehr automatisch verstärken, weil jeder neue Schwenk (jede „Wende“) ohne Dialog mit der Opposition und der Gesellschaft unglaubwürdig bliebe.
Als Alternative kam auch in Frage, mit massiver Gewalt zu reagieren, die Grenzen vollkommen zu schließen, vorbereitete Isolierungslager des MfS zu aktivieren und 86.000 Menschen, so sahen es entsprechende Stasi-Pläne vor, dort zu internieren sowie innerhalb der Partei eine Disziplinierungswelle zu initiieren, um diese auf Kurs zu halten. Das alles leugnet Krenz. Es habe solche Pläne nicht gegeben, obwohl das alles längst anhand von SED- und MfS-Dokumenten rekonstruiert worden ist.
Innerhalb des SED-Apparates sind die Alternativen ebenso wie im MfS besprochen worden. Die ZK-Abteilung Sicherheitsfragen, die Krenz unterstand, in der auch mehrere Generale arbeiteten, berief ab Mitte August mehrfach außerplanmäßige Sitzungen mit ranghohen Vertretern von MdI und MfS ein, um Krisenpläne zu entwickeln. Das SED-Politbüro selbst zeigte sich jedoch handlungsunfähig. Horst Sindermann, Präsident der Volkskammer, veranschaulichte, dass das Politbüro tatsächlich in anderen Kategorien dachte: „Was sich der Westen gegen Erich Honecker leistet, ist wie zur Zeit der faschistischen Judenpogromhetze.“
Abgesehen von diesem skandalösen Vergleich zeigt die Einlassung, wie stark das SED-Politbüro in Schablonen und Verhaltensmustern der dreißiger und vierziger Jahre hängen geblieben war. Es gab Ausnahmen, eine stellte MfS-Minister Erich Mielke dar. Auf der einen Seite orientierte er sein Ministerium auf die Zerschlagung der Opposition – mit politischen und juristischen Mitteln. Aber er gab weder den Befehl, die in Stasilisten dokumentierten Internierungslager zu aktivieren noch zählte er Mitte September 1989 zu jenen – was oft behauptet wurde –, die künftige Demonstrationen mit polizeilichen und militärischen Mitteln niederringen wollten. Anders als die meisten anderen Politbüromitglieder verfügte er über umfangreiche Informationen, die ihm zeigten, dass es nicht nur um Flüchtlinge und neue Oppositionsgruppen ging, sondern um die gesamte Gesellschaft. Ihm und seinem Ministerium war offenkundig deutlich geworden, dass die Mobilisierung der Gesellschaft durch die Oppositionsgruppen erst begonnen hatte und noch „ein großes Potential an Menschen“ bereitstand, in den neuen Bewegungen mitzuarbeiten.
Das Pflichtgefühl der Unterordnung
Mielke verfügte zudem seit Anfang 1988 über die Erkenntnisse von MfS-Mitarbeitern, die ihm darlegten, dass die im Sommer 1989 artikulierte Kritik vermeintlicher „Staatsfeinde“ und „unverbesserlicher Sozialismusgegner“ nicht unberechtigt sei. Seit Anfang September übermittelte Mielke den Politbüromitgliedern im Abstand von wenigen Tagen neue Situationsanalysen über Reaktionen und Einstellungen in der Gesellschaft. Auf der Basis von Mielkes Informationsfluss entstand am 17. September auch eine Rededisposition, die für ein Statement im Politbüro gedacht war, aber im Panzerschrank von Honecker verschwand. Krenz behauptet, er habe es selbst verfasst. Das mag stimmen, die eigentliche Vorarbeit aber hatte ausgerechnet Mielkes Ministerium geleistet – was Krenz selbstredend verschweigt.
Der Inhalt deckt sich mit anderen Ausarbeitungen dieser Zeit aus dem MfS. Besonders bedrohlich erschien, dass in der Gesellschaft keine Ablehnung der Flüchtlinge und Antragsteller mehr in relevanten Größenordnungen zu verzeichnen war. Ihnen schlage mehrheitlich Verständnis entgegen. Die ersten Sätze der 19-seitigen Ausarbeitung lauteten:
„Die gegenwärtige politische Situation ist angespannt, wie ich dies aus eigener Erfahrung bisher nicht erlebt habe. Mit wem man und wo man auch diskutiert, in der Regel wird die Frage aufgeworfen, daß sich in Vorbereitung des XII. Parteitages etwas ändern müsse an unserem Kurs. In welcher Richtung diese Änderungen sein sollen, bleibt sehr oft unklar.“
Das Papier, als öffentliche Rede vorgetragen, hätte eine erste moderate Antwort auf die Krise darstellen können.
Büromikado
Aber im SED-Politbüro zeigte sich im September nur Mielke politisch handlungsbereit, die anderen spielten „Büromikado“: Wer sich zuerst bewegt, könnte der große Verlierer sein. Mielke war altersbedingt am Ende der Karriereleiter angelangt, Krenz und Schabowski hatten noch einiges vor. Die verinnerlichte kommunistische Kaderideologie brachte sie gar nicht auf die Idee, eigenständig zu agieren oder gar laut Vorschläge zu unterbreiten, die die bisherige Politik infrage gestellt hätten.
Krenz spricht in seinen Erinnerungen davon, die Zeit sei ihm noch nicht reif vorgekommen. Er wäre zu fragen, was für eine „Reife“ er denn angestrebte? Die Antwort liegt nahe: Er wollte die Diktatur in die Zukunft retten, die Macht weder aufgeben noch teilen. Wenn er von „reif“ spricht, müsste er sagen: Er war nicht entschlossen genug, die Palastrevolte anzuführen, wie ein politischer Angsthase, der offensichtlich gut einschätzen konnte, dass die Anderen noch größere Angst hatten – aber wovor? Ihre Pfründe und Privilegien zu verlieren? Die ständig von Krenz vorgeschobene „Sache“, um die es ging, das „Pflichtgefühl“, sich „unterzuordnen“, waren schon seit 40 Jahren eine wirkungsvolle Sprachfloskel, die außerhalb der Partei„familie“ kaum jemand ertragen konnte.
Die Macht der Botschaftsflüchtlinge
Am Abend des 3. Oktober hielten sich in der Prager Botschaft etwa 6.000 und in der unmittelbaren Umgebung 2.000 aus der DDR Geflüchtete auf, außerdem befanden sich weitere 3.000 bis 4.000 Menschen auf dem Weg nach Prag. Nun kam die große Stunde von Egon Krenz, gerade aus China zurückgekehrt, die in keiner seiner vielen Publikationen und so auch nicht Band 3 seiner Erinnerungen enthalten ist: Egon Krenz als zuständiger ZK-Sekretär für Sicherheitsfragen unterbreitete an diesem Tag Honecker drei Handlungsvorschläge: „Eine Ideallösung gibt es nicht.“
1. die Bundesregierung erkennt die DDR-Staatsbürgerschaft an, anschließend würden die Reisemöglichkeiten erweitert;
2. zeitweilige Schließung aller Grenzen;
3. Mitteilung, jeder könne ab sofort reisen, wohin er wolle, und jeder könne die DDR verlassen und wieder einreisen.
Die 3. Variante galt als nicht „zweckmäßig“, der augenblickliche Verlust läge sicher bei Hunderttausenden von Menschen. „Die 1. Variante hätte vor allem propagandistischen Effekt, würde aber kaum zu einer Lösung führen.“ Und schließlich steht in dem Papier: „Die 2. Variante könnte die Lage im Inneren bis zur Nichtmehrbeherrschbarkeit anheizen. Außerdem müssten alle Grenzen abgeriegelt werden (Einsatz der Landstreitkräfte und der Kampfgruppen wären nötig …).“
Der von so vielen und nicht zuletzt von sich selbst zum Friedensengel erkorene Krenz schrieb: „Ich würde die zweite Variante empfehlen.“ Wollte er einen Bürgerkrieg heraufbeschwören? Wollte er Honecker so in Bedrängnis bringen, dass dieser zwangsläufig zurücktreten musste? War der Druck aus Prag zu groß geworden, wo die Regierung immer stärker in Bedrängnis geriet? Was lief hinter den geschlossenen Türen ab? Krenz sagt nichts zu dieser entscheidenden Phase Anfang Oktober 1989. Was sollte er auch sagen? Dass er offensichtlich die Vergangenheit umbiegt, wie es ihm beliebt?
Ein Republikgeburtstag als Party für Diktatoren
Die SED-Führung beging den 40. Gründungsjahrestag der DDR mit dem gesamten Festreservoir, das ihr lieb und teuer war. Am 6. Oktober marschierten abends etwa 75.000 FDJler wie 1949 mit Fackeln an der Partei- und Staatsführung vorüber. Auf der Tribüne standen letztmalig nicht nur die ganze SED-Führungsriege, sondern auch ihre engsten Freunde. Die internationale Reputation der SED-Führung zeigte sich 1989 ganz deutlich: Zum 40. Jahrestag der DDR kamen vor allem Diktatoren angereist - aus Europa, Afrika, Asien und Mittelamerika. Honecker und Krenz waren 1989 weltweit geächtet - weil sie als fast einzige das Massaker gegen die Demokratiebewegung in China begrüßt hatten und der eigenen Gesellschaft mit ebensolcher Vergeltung drohten.
Aber was macht Krenz in seinem Buch daraus? Er behauptet immer wieder, die DDR sei weltweit anerkannt gewesen und vor allem Honecker habe überall größtes Ansehen genossen. Vielleicht schaut er sich mal Fotos von dieser Gespensterversammlung an und zählt, wie viele gewählte Demokraten und Demokratinnen sich unter diesen ganzen Potentaten befanden. Die Antwort ist eindeutig: Kein einziger, nicht einmal Michail Gorbatschow, dem tausende FDJler zum Missvergnügen von Honecker begeistert zujubelten, war demokratisch legitimiert.
Die gefühlte Situation am 7. Oktober 1989 brachten chilenische Emigranten auf den Punkt: „Es werde die Auffassung vertreten, dass die Situation gefühlsmäßig so gespannt sei wie vor dem Putsch in Chile 1973.“ In dutzenden Orten kam es zu Protesten, tausende Festnahmen waren begleitet von einer bislang nicht gekannten Gewaltorgie durch Polizei und Staatssicherheit. Es stand auf der Kippe, ob es zur „chinesischen Lösung“ käme. Zum alles entscheidenden Tag sollte der folgende Montag in Leipzig, der 9. Oktober, werden. An diesem wurden Zehntausende zur Protestdemonstration gegen das SED-Regime erwartet. Käme es zum Einsatz von Militär und Polizei gegen die friedlich Protestierenden?
Am 8. Oktober vormittags, es war ein Sonntag, verschickte Krenz – natürlich auch davon kein Wort in seinem Buch – im Auftrag von Honecker an alle SED-Bezirksleitungen ein eiliges Rundschreiben, mit dem summarisch auf die „rowdyhaften Zusammenrottungen und gewalttätigen Auseinandersetzungen“ in mehreren Bezirken hingewiesen wurde. „Es ist damit zu rechnen, dass es zu weiteren Krawallen kommt. Sie sind von vornherein zu unterbinden.“ Die Bezirkseinsatzleitungen seien sofort einzuberufen, alle wichtigen Partei-, Gewerkschafts- und FDJ-Funktionäre sowie die Mitarbeiter staatlicher Organe seien unverzüglich zu informieren. In der Bezirkspresse müssten sofort distanzierende und drohende Beiträge abgedruckt werden, und außerdem seien morgens bis 6.00 Uhr täglich Berichte über die Lage an die zuständige ZK-Abteilung zu schicken. Die ständigen Waffenträger – Zehntausende waren das vom 2. SED-Kreissekretär über LPG-Vorsitzende bis hin zu Werksleitern großer Betriebe, hinzu kamen die Waffenträger in Uniform und natürlich auch SED-Funktionäre wie Krenz – gingen von nun an kaum mehr ohne Waffen auf die Straßen.
Krenz‘ vielsagendes Schweigen
Nichts deutete zunächst am 9. Oktober 1989 darauf hin, dass es friedlich bleiben würde. Schlimme Gerüchte über mögliche Gewaltaktionen des Staates kursierten im ganzen Land. In Leipzig herrschte den ganzen Tag über in den Amtsstuben von Staat und Kirchen Hektik, aber auch in Krankenhäusern, die sich auf das Schlimmste vorbereiteten. Es wurde verhandelt und geredet. Mehrfach fragten Leipziger Funktionäre in Ost-Berlin nach, was zu tun sei.
Das ZK schwieg, Egon Krenz als zuständiger ZK-Sekretär schwieg am Dröhnendsten. Er gab weder den Befehl, zuzuschlagen, noch, dies zu unterlassen. Er tat einfach nichts. Ab 18 Uhr demonstrierten Zehntausende in Leipzig. Kurz nach 18.35 entschied die SED-Bezirksleitung Leipzig eigenmächtig, nicht einzugreifen, sofern keine Angriffe erfolgten. Hier gingen die SED-Funktionäre ein großes persönliches Risiko ein, weil sie ihre Befehle ohne jede Rückendeckung aus der ZK-Zentrale von Krenz gaben. Der schwieg weiter. Erst um 19.15 Uhr rief Egon Krenz in Leipzig an und segnete nun nachträglich die längst getroffene Leipziger Entscheidung, nicht einzugreifen, ab.
Mit keinem Wort geht Krenz auf den wichtigsten Grund ein, warum es letztlich friedlich blieb: Gorbatschow hatte 1987 in Prag und dann im Juni 1989 in Bukarest die „Breschnew-Doktrin“ aufgehoben und betont, jedes sozialistische Land müsse seine Ordnung allein aufrechterhalten, die Sowjetarmee werde nicht mehr eingreifen. Der wichtigste Stützpfeiler der SED-Herrschaft – die sowjetischen Bajonette und Panzer – waren, anders als am 17. Juni 1953 in der DDR, weggebrochen. Die SED war auf sich allein gestellt – und allein war sie verloren. Kein Wunder, dass Krenz in seinem Buch Gorbatschow erneut wie einen Verräter behandelt und wie einen Feind abserviert.
Eine überschaubare Palastrevolte
Krenz berichtet ausführlich in seinem Buch, Mitte Oktober 1989 einige Politbüromitglieder und ZK-Mitarbeiter für Honeckers Ablösung gewonnen zu haben. Die Initiative kam aber nicht von Krenz selbst, wie er behauptet, sondern aus dem zentralen Parteiapparat. Er wollte unbedingt an die Hebel der Macht, auch alle anderen wollten ihre Posten behalten. Von den wenigen Mächtigen wie Krenz, Schabowski oder Stoph kann nur mit Sicherheit von Erich Mielke, Gerd Schürer oder Werner Krolikowski gesagt werden, dass sie schon seit Wochen sehr vorsichtig eine Änderung der Innenpolitik nahelegten.
Honecker hatte noch auf der Politbürositzung vom 10. Oktober unmissverständlich zum Ausdruck gebracht, dass er nicht daran denke, seinen Platz zu räumen. Als ausgerechnet sein politischer Ziehsohn Krenz vortrug, die nächsten Wahlen müssten korrekter ablaufen, zeigte sich Honecker zunächst irritiert über dieses implizite Eingeständnis des obersten Wahlverantwortlichen. Honecker reagierte geistesgegenwärtig und machtbewusst: Es müsse eine Untersuchungskommission eingesetzt werden, um eventuelle Unregelmäßigkeiten bei der Wahlauszählung aufzudecken. Dieser unmissverständliche Angriff auf Krenz zeigte, dass Honecker noch immer das Handwerk kommunistischer Machterhaltung verstand. Er verfügte aber über keine Mehrheiten mehr. Innerhalb einer Woche rückte die Mehrheit im Politbüro von ihm ab. Krenz hat nicht wirklich etwas dazu beizutragen, was sich hinter den Kulissen abspielte. Er bastelt lediglich an seinem Heiligenschein, der ihm jedoch nicht zusteht.
Am 17. Oktober jedenfalls brachte ausgerechnet Willi Stoph, einer der engsten und längsten Mitstreiter Honeckers, den Antrag ein, Honecker abzulösen. Dieser zeigte sich darüber besonders betroffen. Stasi-Chef Mielke blickte indessen schon in die Zukunft und meinte: „Während wir sitzen, hat sich die Lage schon verändert.“ Er fügte am Schluss seines Statements erneut hinzu: „Wir können doch nicht anfangen, mit Panzern zu schießen.“ Alle anwesenden Politbüromitglieder äußerten sich, und alle – einschließlich Honecker – stimmten schließlich dem Antrag Stophs zu. In den Vorzimmern hatten Krenz und Mielke zuverlässige Sicherheitskräfte postiert, die im Falle einer unerwarteten Gegenoffensive Honeckers seine Getreuen und ihn selbst festnehmen sollten. Auch davon ist bei Krenz nichts zu lesen. In seinem Schlusswort formulierte Honecker, durch eine Ablösung von Personen würden die inneren Probleme nicht gelöst, zeige aber, die Partei sei erpressbar, was ausgenützt würde. Er ging aufrecht von der internen Bühne ab. Diese Entmachtung war eine Palastrevolte, mehr nicht. Krenz und seine nunmehrigen Getreuen schoben nun Erich Honecker, Günter Mittag und Joachim Herrmann alle Schuld zu und begannen zugleich, das MfS und namentlich Mielke als hauptverantwortlich hinzustellen.
Am 18. Oktober trat das ZK zusammen. Honecker verlas eine Erklärung. Er trete aus gesundheitlichen Gründen zurück und schlage Krenz als seinen Nachfolger vor. Mit einer Mappe unterm Arm verließ er den Sitzungssaal. Vor diesem standen, von Krenz in schlechter Absicht organisiert, erstmals Journalisten. Die waren genauso überrascht wie der einsame Honecker. Im Sitzungssaal verlas derweil Krenz eine langatmige Erklärung. Unter dem starken Beifall der über 200 Anwesenden bekräftigte er: „Wenn das Zentralkomitee einverstanden ist, selbst wenn es vierzig Minuten dauert, würde ich das Gleiche heute Abend im Fernsehen sagen.“
Die Ungeschicklichkeit von Krenz zeigte sich dann am Abend des 18. Oktober, als sich der neue SED-Chef mit seiner Fernsehansprache an die Öffentlichkeit wandte. Er begann mit: „Liebe Genossinnen und Genossen!“ Anschließend trug er Wort für Wort seine langatmige Rede aus dem ZK an seine Parteigenossen vor. Sein letzter Satz lautete deshalb auch: „Ich danke Euch.“ Dazwischen bekannte er sich zur Kontinuität der SED-Politik.
Genau ein Satz schaffte es, historisch zu überleben, und der bestand auch noch aus einem Irrtum: „Mit der heutigen Tagung werden wir eine Wende einleiten, werden wir vor allem die politische und ideologische Offensive wieder erlangen.“ Krenz hatte die „Wende“ – wie zuvor Hager den „Dialog“ – erfunden, ein Begriff, der die historischen Vorgänge nicht erfasst, denn es war keine „Wende“, sondern eine Revolution: Nichts blieb, wie es war – bei einer „Wende“ wird nur der Kurs verändert. Kaum jemand im Land traute Krenz einen grundlegenden Wandel zu. Und auch an keiner Stelle machte er deutlich, was sich konkret ändern würde. Im Endeffekt blieb die Ansprache so blass wie der Vortragende selbst. Mit Krenz hatte die SED-Führung den Chef erhalten, den sie verdiente. Kaum jemand anderes vereinte so stark in einer Person all das, wogegen die Gesellschaft aufbegehrte.
Als die Volkskammer am 24. Oktober Krenz mit 26 Gegenstimmen und 26 Stimmenthaltungen zum Staatsratsvorsitzenden kürte, demonstrierten dagegen in Ost-Berlin nach offiziellen Angaben bereits 12.000 Personen. Mit Hinweis auf seine Hauptverantwortung für die Wahlfälschungen hieß es auf Flugblättern: „Zu dumm zum addieren – aber ein ganzes Land regieren.“ Die Menschen riefen: „Egon Krenz, wir sind die Konkurrenz.“ Es ist verständlich, dass er über diese Art Gegenwind nichts schreibt.
Die SED nicht mehr als führende Macht
Wie Krenz wirklich tickte, zeigt ein bezeichnendes Tondokument, auf das Krenz in seinen Memoiren ebenfalls mit keinem Wort eingeht. Als sich am 24. Oktober in Vorbereitung seiner Wahl zum Staatsratsvorsitzenden die SED-Parteigruppe der Volkskammerabgeordneten traf und eine emotionale Debatte führte, nahm ein Techniker der Volkskammer die Sitzung heimlich auf und spielte sie anschließend der Opposition zu. In der SED-Parteigruppe trafen sich alle SED-Mitglieder, die Abgeordnete waren.
Der Mitschnitt offenbart eine hilflos konzeptlose Parteiführung, die sich ratlos am Ende zeigte und in Propagandatönen auf Diffamierung setzte. Bernhard Quandt, ein alter Funktionär, sagte, die Demonstranten seien fürchterliche Gewalttäter. Die Anwesenden dankten ihm mit heftigem Beifall. Eine Abgeordnete aus Lübbenau wusste wahrheitswidrig zu berichten, dass in Ostberliner Kirchen Aufrufe mit der Aufforderung „Die Kommunisten sind aufzuhängen“ angeschlagen seien. Die Versammlung fand ihren skurrilen Höhepunkt mit dem Statement einer Abgeordneten aus Leipzig, die vorschlug, das 1962 im Kinderbuchverlag erschienene Bändchen „Der erste Start“ sofort neu aufzulegen und kräftig zu verbreiten, damit alle ganz genau Bescheid wüssten. Denn zu diesem Buch hatte der Autor Klaus Hilbig eine Geschichte unter dem Titel „Egon setzt sich durch“ beigesteuert. Darin porträtierte er den 35-jährigen FDJ- und SED-Funktionär Egon Krenz.
Auch das Politbüro-Mitglied Günter Schabowski griff in die Debatte ein. Er erklärte, es käme darauf an, politisch zu reagieren. Darunter verstand er, in der Öffentlichkeit so zu tun, als würde man die Kritik ernst nehmen, tatsächlich aber den bisherigen Kurs weiterzuverfolgen und vor allem alles zu verhindern, was darauf hinausliefe, Krenz zu demontieren.
Mit der Versammlung war er sich einig, dass jetzt nicht nachgegeben werden und man sich dem Druck der Straße nicht beugen dürfe. Dazu gehöre, dass man jetzt keine „Gewaltenteilung“ einführe. Zum Schluss kam Krenz selbst zu Wort. Er erklärte unter kräftigem Beifall, die Geschichte habe gezeigt, Angriffe auf den Generalsekretär, der er jetzt sei, gelten niemals allein diesem Mann, sondern zielten immer auf die gesamte Partei. Die Partei sei nicht bereit, so Krenz, die führende Rolle abzugeben, sie müsse sie nur besser wahrnehmen als bislang.
Das Erstaunlichste am Agieren von Krenz war, dass es nicht stattfand. Er wirkte nicht nur in jeder Hinsicht überfordert, er hatte auch keine wegweisenden Ideen. Woher auch? Letztlich brachte er nichts mit nach jahrzehntelanger Arbeit im Apparat, was ihn irgendwie zu kreativer Neuordnung befähigt hätte – nur Machtsicherung war das, was er offensichtlich in Moskau erlernt hatte. Doch auch damit sollte er scheitern.
Ilko-Sascha Kowalczuk
Fußnoten
Vgl. Egon Krenz, Herbst ’89, Berlin 1999.
Vgl. z.B. Ilko-Sascha Kowalczuk, Endspiel. Die Revolution von 1989 in der DDR, München 2024 (5. Aufl., ursprünglich 2009), S. 320-335.
Vgl. Zentrale Wahlkommission, Zu den Kommunalwahlen 1989, o.D. (Juni 1989). SAPMO B-Arch, DY 30, IV 2/2039/230, Bl. 245, 248. Das Dokument liegt im „Büro Krenz“ und ist von ihm durchgearbeitet und mit Anstrichen versehen worden.
Ausführlich dazu und zu vielen anderen Aspekten Kowalczuk: Endspiel.
Verlauf der Sitzung des SED-Politbüros am 12. September 1989, in: Gerd-Rüdiger Stephan, Daniel Küchenmeister (Hrsg.): „Vorwärts immer, rückwärts nimmer!“ Interne Dokumente zum Zerfall von SED und DDR 1988/89. Berlin 1994, S. 151.
Notizen, 17.9.1989. SAPMO, B-Arch DY 30 IV 2/2/2039/77, Bl. 36. Handschriftliche Streichungen und Veränderungen stammen von Egon Krenz.
Egon Krenz an Erich Honecker, 3.10.1989. BArch, MfS, ZAIG 7438, Bl. 12-17; SAPMO BA, DY 30, IV 2/2039/309, Bl. 141-143.
Information zu aktuellen Meinungsäußerungen aus der DDR-Bevölkerung, 8.10.1989. BA, MfS, HA II 32903, Bl. 9.
Warum die Vortragsweise der KP-Führer war, wie sie war, habe ich hier erörtert: Ilko-Sascha Kowalczuk, Walter Ulbricht – Der kommunistische Diktator (1945-1973), München 2024, S. 316-320.
ND vom 19.10.1989.
Der „Telegraph“ veröffentlichte bereits am 16.11.1989 Auszüge aus dem Wortprotokoll, das Tonband kursierte vornehmlich in Ost-Berlin. Überliefert ist es im Archiv der Robert-Havemann-Gesellschaft.
Zitierweise: Ilko-Sascha Kowalczuk, „Leerstellen und Geschichtsklitterungen. Über die Lücken im Abschlussband der dreiteiligen Memoiren von Egon Krenz“, www.bpb.de/569088, Deutschlandarchiv vom 22.7.2025. Alle veröffentlichten Beiträge im Deutschlandarchiv sind Recherchen und Meinungsbeiträge der jeweiligen Autorinnen und Autoren, sie stellen keine Meinungsäußerung der Bundeszentrale für politische Bildung dar und dienen als Mosaikstein zur Erschließung von Zeitgeschichte. (hk)
Dr. Ilko-Sascha Kowalczuk (Jg. 1967) wuchs im Osten Berlins in Friedrichshagen auf. Er ist Historiker mit dem Schwerpunkt auf der Aufarbeitung der DDR-Vergangenheit. Seine 2023 und 2024 erschienene zweiteilige Biografie des ersten Staatschefs der DDR Walter Ulbricht beschreibt den SED-Funktionär als »deutschen Kommunist« und später als »kommunistischen Diktator«. Im September 2024 erschien »Freiheitsschock. Eine andere Geschichte Ostdeutschlands von 1989 bis heute« (alle bei C.H. Beck in München). In der bpb gab er 2022 den Schriftenreiheband Interner Link: (Ost)Deutschlands Weg mit heraus. Im Juni 2025 wurde er in Berlin mit dem Karl-Wilhelm-Fricke-Preis der Stiftung Aufarbeitung geehrt.