„Street Fighting Man“ ist der politischste Song der Rolling Stones, beinahe schon revolutionär. Mick Jagger schrieb ihn 1968 als musikalische Reaktion auf die weltweiten Protestbewegungen jener Jahre, insbesondere auf die Pariser Mai-Unruhen. Mit seiner Mischung aus systemkritischem Furor und latenter Gewaltbereitschaft avancierte der Song zur Hymne einer Generation im Aufbruch. Rückblickend passen Sound und Haltung jedoch auch perfekt zu einem Ereignis, das sich bereits drei Jahre zuvor in Berlin abgespielt hatte. Am 15. September 1965, als die Rolling Stones den Soundtrack zu einem Abend lieferten, der noch lange nachhallen sollte.
Als Mick Jagger, Keith Richards und Co vor 60 Jahren in der Berliner Waldbühne auftraten, kam es zwischen Jugendlichen und der Polizei zu Ausschreitungen, wie sie das Berlin der Nachkriegszeit noch nicht gesehen hatte. Die Schlacht um die Waldbühne war mehr als ein Ausbruch jugendlicher Frustration. Im Rückblick steht sie für einen frühen, symbolisch aufgeladenen Moment im sich zuspitzenden Konflikt zwischen einer autoritätsgläubigen Nachkriegsgesellschaft und einer nachwachsenden Generation, die ihren Ausdruck nicht nur in Musik und Kleidung suchte, sondern zunehmend auch im Widerstand gegen politische Autoritäten und gesellschaftliche Normen. Das Konzert der Stones war ein Schlüsselereignis auf dem Weg hin zu den militanten Protestbewegungen, die in den späten 1960er- und 1970er-Jahren erst West-Berlin und später die Bundesrepublik Deutschland erschüttern sollten. „Diese jungen Leute, die in der Beat- und Rockmusik nach neuen Ausdrucksformen für ihr von Frustrationen geprägtes Lebensgefühl suchen, fühlen sich nach dem 2. Juni 1967 von der Revolte der Studenten wie magisch angezogen“, schreibt der Politikwissenschaftler Wolfgang Kraushaar, einer der wichtigsten Chronisten der westdeutschen Protest- und Gewaltbewegungen, mit Blick auf die Demonstration gegen den Staatsbesuch des persischen Schahs Mohammad Reza Pahlavi, bei der der Student Benno Ohnesorg vom Polizisten Karl-Heinz Kurras erschossen worden war.
Die BZ titelte: „Heute wollen die Rolling Stones Berlin erobern“
Am Morgen jenes Tages, an dem die Revolte ihre Vorboten nach Berlin schickte, war Michael Baumann noch kein „Street Fighting Man“, sondern einer von den Braven. Ein 18-jähriger Lehrling, der sich an Konventionen hielt, die er bald als spießig und überholt verachten würde. Er hatte sich eine Eintrittskarte gekauft, für acht D-Mark im Vorverkauf. Das war viel Geld für jemanden, der auf dem Bau nur 100 D-Mark im Monat verdiente.
Ralf Reinders war gerade 17 Jahre alt geworden, ein Jahr jünger als Baumann. Auch er wollte zu den Stones, die von der Jugendzeitschrift Bravo auf Plakaten als die „härteste Band der Welt“ angekündigt wurde. Aber anders als Baumann dachte er gar nicht erst daran, für das Konzert in der Waldbühne etwas von seinem bescheidenen Lehrlingslohn in einer Druckerei abzuknapsen. Nach der Arbeit traf er sich wie immer mit ein paar Leuten am S-Bahnhof Tegel, oben im Norden des seit vier Jahren eigemauerten West-Berlin. Am frühen Abend beschlossen sie: Wenn wir uns keine Karten leisten können, dann gehen wir eben so rein! In seinen Erinnerungen schreibt Reinders: „Beatlesfans, Stonesfans und Kinksfans. Es waren etwa 200 bis 250 Leute, die dann losmarschierten.
Unter ihnen waren die späteren Aktivisten des 2. Juni stark vertreten“, zum Beispiel Hans-Peter „Knolle“ Knoll und der Hüne Alfred Mährländer, genannt „Shorty“.
Am 15. September 1965 entlud sich in der Waldbühne zum ersten Mal die Wut über politisch Elementares wie die kaum aufgearbeitete Nazizeit oder die Gängelung im Alltag, die männliche Jugendliche etwa erfuhren, wenn sie das Haar über Schulterlänge trugen. „Manchmal haben irgendwelche Petter an den Ecken gelauert und wollten den Leuten die Haare schneiden“, erzählt Reinders.
Ohne Tickets vorbei an drei Polizeisperren
Als Reinders am Bahnhof Pichelsberg mit seinen Freunden aus der S-Bahn stieg, stand zur Begrüßung schon ein Polizeikommando bereit. In seinen Erinnerungen heißt es: „Da war gleich die erste Bullensperre. Eine ganz lockere, die wir zur Seite drückten. Dann kam kurz vor der Waldbühne eine zweite mit einer berittenen Staffel. Das war schon ein bisschen komplizierter. Wir sind auch da durchgebrochen. Dann gab es nur noch eine ganz leichte Sperre direkt an der Waldbühne.“
Zu diesem Zeitpunkt stand Baumann schon seit ein paar Stunden in der Waldbühne und ließ das Vorprogramm über sich ergehen. Es traten auf: vier Berliner Bands, die keine Gage bekamen und nur für die Ehre spielten, an diesem Abend dabei zu sein. Aber die 21.000 Zuschauerinnen und Zuschauer in der Waldbühne wollten keine Tanzstunde am späten Nachmittag, sondern die Rolling Stones sehen. Eier flogen auf die Bühne und Raketen in die Luft.
Die Waldbühne ist ein Amphitheater am Rande des Berliner Olympiageländes, errichtet im Stil der von den Nationalsozialisten idealisierten griechischen Antike. Sie ist in steilem Winkel in einen natürlichen Hang gebaut, wodurch den Besucherinnen und Besuchern bereits beim Betreten ein Gefühl von Erhabenheit vermittelt werden sollte. Ein typischer Monumentalbau, in dem das nationalsozialistische Deutschland 1936 die propagandistisch aufgeladenen Olympischen Spiele inszenierte und später völkische Thing-Spiele veranstaltete. Im September 1965 traf der Geist dieses Raumes auf eine neue Generation, auf Tausende von Jugendlichen mit langen Haaren, Lederjacken und Bierflaschen in der Hand.
Ein Fan riss Jagger die Jacke vom Leib
Es war schon 21.30 Uhr, als die Rolling Stones im Halbdunkel den ersten Song anstimmten, aber sie hörten gleich wieder auf. Ganz vorn, wo Reinders und seine Freunde standen, stürmte eine Hundertschaft Jugendlicher die Bühne, einer sprang Jagger in den Rücken und riss ihm die Jacke von Leib.
Die Menschen sprangen auf die verwitterten Bänke und brachen Latten heraus. Nicht alle 21.000, aber bestimmt 2 000.
In der S-Bahn ging die Randale weiter
Der Pop-Historiker Bodo Mrozek verweist in seinem Standardwerk „Jugend – Pop – Kultur“ darauf, dass hinter den Zerstörungen nicht zwangsweise Vorsatz steckte. Das Springen auf den Bänken etwa lasse sich auch als leidenschaftliche Aufforderung verstehen, das Konzert fortzusetzen; die Ausschreitungen wiederum könnten Folge eines überzogenen Polizeieinsatzes gewesen sein. Das Konzert habe jedenfalls viel zu früh geendet, ohne die Erwartungen der ekstatischen Fans zu erfüllen.
Als die Polizei mit Wasserwerfern auffuhr, verlagerte sich die Schlacht in die S-Bahn, die von der in Ost-Berlin sitzenden Deutschen Reichsbahn verwaltet wurde und exterritorialen Status genoss.
Die öffentliche Reaktion war grenzübergreifend verheerend
Ein paar Jugendliche fuhren weiter bis zum Bahnhof Friedrichstraße, der zwar geografisch und politisch zu Ost-Berlin gehörte, aber in einem abgesperrten Bereich als zentraler Haltepunkt dem West-Berliner Schienenverkehr diente. Ein paar Jahre später sollten die Terroristen der Roten Armee Fraktion (RAF) und der Bewegung 2. Juni diese Vorzüge des grenzüberschreitenden Reisens innerhalb der geteilten Stadt für sich nutzen. Nach Anschlägen, Überfällen oder Gefangenenbefreiungen setzten sie sich geräuschlos in den Osten ab, mit ausdrücklicher Genehmigung des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS).
Die öffentliche Reaktion fiel grenzübergreifend einseitig und verheerend aus. Der Reporter des West-Berliner Tagesspiegels notierte: „Die Verlautbarungen des dem Barbarismus systematisch verfallenden, von einer Massenhysterie in die andere verfallenden Publikums überstieg die musikalische Phonerzeugung auf der Bühne um ein beträchtliches.“
Nachklang im Osten: Der Leipziger Beat-Aufstand
Hinter diesen Formulierungen steckte mehr als Propaganda. Die DDR-Führung fürchtete den Einfluss westlicher Subkulturen als potenziellen Katalysator politischer Unruhen. Hinter ihrer Rhetorik stand die Sorge, Beat- und Rockmusik könnten eine Radikalisierung der ostdeutschen Jugend begünstigen, die das System destabilisieren würde. Für diese Interpretation spricht, dass das Politbüro der SED mobil machte gegen das, was die ostdeutsche Nomenklatura als amerikanischen Kultur-Imperialismus bezeichnete. In der Folge wurde das Abspielen von Beatmusik in Radio und Fernsehen verboten und den Beatgruppen in der DDR die Lizenz entzogen.
Der Beat-Aufstand nur sechs Wochen später am 31. Oktober 1965, eine Demonstration junger Leipziger für die Wiederzulassung ihrer Musik, wurde von der Volkspolizei gewaltsam niedergeschlagen. Die Staatsmacht erstickte das Aufbegehren mit aller Härte: 260 Jugendliche kamen in Haft, rund 100 von ihnen verschwanden für mehrere Wochen in Arbeitslagern. Begleitet wurde das Vorgehen von einer wochenlangen Pressekampagne, die mit Begriffen wie „Gammler“, „Beat-Anhänger“, „Pinscher“ und „Banausen“ Stimmung gegen die Jugend machte. Der Straftatbestand des Rowdytums, verstanden als aus dem Westen gesteuerte bewusste Missachtung sozialistischer Werte und Normen, wurde 1968 in das Strafgesetzbuch der DDR aufgenommen.
Doch derart hart formulierte Rhetorik bestärkte viele Jugendliche eher darin, sich über Normen hinwegzusetzen. In West-Berlin wurde die Konfrontation mit der Obrigkeit zum identitätsstiftenden Akt. Michael Baumann bilanziert im Rückblick: „Gewalt ist für mich ein ganz adäquates Mittel gewesen, ich habe da nie Hemmungen gehabt.“
Identität gegen den Staat: Musik wird zur Haltung
Diese kulturelle Politisierung legte den Nährboden für eine zunehmend radikalisierte Haltung gegenüber Staat und Gesellschaft. Aus der rebellischen Energie des Rock und Blues entwickelte sich eine neue Entschlossenheit: Der Protest wurde vielseitiger und härter, der Widerstand konkreter. Analog zur Che-Guevara-Symbolik mit langen Haaren und Militärjacken machte die Protestbewegung auch die Musik zu einem Bestandteil der politischen Auseinandersetzung.
Zitierweise: Sven Goldmann, "Die Schlacht um die Waldbühne. Wie ein Rolling-Stones-Konzert die Radikalisierung einer Generation beschleunigte", www.bpb.de/569233, in: Deutschland Archiv vom 24.07.2025. (ali)