"Bananen, gute Apfelsinen, Erdnüsse u.a. sind doch keine kapitalistischen Privilegien"*
Alltäglicher Mangel am Ende der 1980er Jahre in der DDR
In den 1980er Jahren verschlechterte sich die Versorgung der DDR-Bevölkerung mit Gütern des alltäglichen Bedarfs deutlich. Der Unmut über die Versorgungsengpässe entlud sich immer offener und führte schließlich zu einer generellen Kritik am politischen System.
Im Systemwettbewerb der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts spielte der Konsum eine zentrale Rolle. Für DDR-Bürger boten der in weiten Teilen des eigenen Landes mögliche Empfang westdeutscher Rundfunk- und Fernsehprogramme, persönliche Beziehungen oder Reisen in die Bundesrepublik vielfache Gelegenheit, die jeweiligen Konsumniveaus zu vergleichen. Zwar gab es seit den 1950er Jahren in der DDR keinen Hunger und bei der erwerbstätigen Bevölkerung keine Armut mehr.[1] In der Ära Honecker verbesserten sich die Einkommenssituation und die Haushaltsausstattung mit langlebigen Konsumgütern weiter. Allerdings konnten die Ostdeutschen sehen, dass sich ein erhöhter Lebensstandard bei den Bundesbürgern früher und umfassender einstellte als bei ihnen. Sahen sie die DDR zwar in Bezug auf soziale Leistungen und Arbeitsplatzsicherheit im Vorteil, so erkannten sie doch den wachsenden Rückstand im Hinblick auf das technologische Niveau vieler inländischer Erzeugnisse und die weiter vorhandenen und sich offensichtlich verstärkenden Versorgungsengpässe.
Es soll untersucht werden, ob die "Aufgabe" der DDR durch ihre Bürger am Ende der 1980er Jahre auch durch den immer mehr spürbaren Mangel an ganz alltäglichen Produkten motiviert war: War es am Ende die lückenhaft oder nur schwer erhältliche Kindergarderobe und die sprichwörtlich fehlende Banane, die bei den DDR-Bewohnern das Fass zum Überlaufen brachte?
Die Entwicklung der Versorgungslage bei Textilien und Bekleidung bzw. bei Obst und Gemüse in den 1970er und 1980er Jahren und die Reaktion der DDR-Bevölkerung lässt sich anhand unterschiedlicher Quellen beleuchten - veröffentliche und interne Statistiken, Stimmungsberichte des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS), Einschätzungen im Auftrag des Ministeriums für Handel und Versorgung (MHV) sowie Eingaben aus der Bevölkerung. Die Statistischen Jahrbücher der DDR wiesen fortlaufend Daten aus zu den Nettogeldeinnahmen der Bevölkerung, ihren Sparguthaben und den Einzelhandelsumsätzen. Sie belegen einerseits, dass sich die Ostdeutschen im "Konsumsozialismus" der 1970er und 1980er Jahre, der ganz wesentlich mit dem Namen des SED-Generalsekretärs Erich Honecker verbunden war, mehr leisten konnten als zuvor.[2] Andererseits zeigen schon diese Angaben, dass es ihnen nicht möglich war, ihre wachsenden Einnahmen weitgehend in Warenkäufe umzusetzen.
Steigende Einkommen konnten nicht in Waren umgesetzt werden
Zwei Faktoren sind hierfür herauszustellen. Erstens stiegen die Sparguthaben in fast jedem Jahr stärker als die Einzelhandelsumsätze, ganz offensichtlich auch wegen nicht in Warenkäufe umsetzbarer Einkünfte.[3] Zweitens wuchsen die Pro-Kopf-Nettogeldeinnahmen in elf Jahren (1972/73, 1975, 1977/78, 1981 bis 1983, 1986/87, 1989) stärker als die Einzelhandelsumsätze. 1988 wiesen beide Pro-Kopf-Werte die gleiche Steigerungsrate auf.[4] Bis zum Beginn der 1980er Jahre konnten wachsende Teile der Einnahmen im Einzelhandel umgesetzt werden, während andere Verwendungen (Spenden, Versicherungen, Beiträge, kommunale Abgaben u.a.) relativ an Bedeutung verloren. In den 1970er Jahren entsprach der jährliche Einzelhandelsumsatz durchweg mindestens 80,5 Prozent der Nettogeldeinnahmen und erreichte 1980 mit 82,7 Prozent seinen historischen Höchststand. Seit 1981 nahm dieser Wert indes kontinuierlich bis 1987 auf 77,9 Prozent ab und stieg nur 1989 noch einmal leicht auf 78,2 Prozent an.[5] Das sich bei den DDR-Bürgern besonders in den 1980er Jahren verstärkende Gefühl, es gebe "nichts zu kaufen", findet hierin einen ersten Beleg.Diese Angaben verschleiern allerdings das wahre Ausmaß der Verschlechterungen in der Versorgungslage. Zum einen verdecken die Daten zum gesamten Einzelhandelsumsatz ungünstige Entwicklungen in Teilbereichen in anderen Jahren. 1982 ging etwa der Umsatz im Bereich der Industriewaren gegenüber dem Vorjahr zurück, was noch durch das Wachstum der Umsätze für Nahrungs- und besonders für Genussmittel mehr als ausgeglichen wurde.[6] Zum anderen sagen die rein-monetären Angaben nichts darüber aus, in welcher Qualität und vor allem in welchen Mengen Güter erworben werden konnten. Bei wichtigen langlebigen Konsumgütern blieb die technologische Entwicklung spätestens seit Beginn der 1970er Jahre faktisch stehen: Die PKW-Typen der Marken Trabant und Wartburg wurden seit Einführung ihrer Serienproduktion in den frühen 1960er Jahren im Wesentlichen unverändert hergestellt. Bei Haushaltsgroßgeräten, Radios, Stereoanlagen oder Fernsehapparaten zeigte sich ein ähnliches Bild. Für Kühlschränke lautete etwa das Fazit einer Analyse vom März 1989: "85 % der Erzeugnisse der Inlandsproduktion entsprechen wissenschaftlich-technischem Niveau der [19]70-er Jahre."[7] Die DDR-Konsumenten hatten indes keine Alternative, als diese technologisch veralteten Konsumgüter zu kaufen, wenn sie nicht über Devisen verfügten, die den Erwerb westlicher Erzeugnisse in den "Intershops" oder über das Devisenversandhaus "Genex" ermöglichte.
Bessere Versorgung in den 1970er Jahren
Die Analyse von Daten zu den Warenmengen bei Gütern des alltäglichen Bedarfs belegt für die 1970er Jahre Angebotsverbesserungen bei wichtigen Sortimenten an Textilien, Bekleidung und Schuhen (vgl. Tabelle 1). Die Pro-Kopf-Ausgaben in diesem Bereich stiegen langsamer als die Warenbereitstellung. Mithin standen also relativ mehr Waren zur Verfügung, selbst wenn es dabei auch zu verdeckten Preissteigerungen gekommen war. Bei Schuhen belegen die Angaben für die zweite Hälfte der 1970er Jahre ein relativ stabiles (bei Straßenschuhen für Erwachsene sogar verbessertes) Angebot (vgl. Tabelle 2), das sich allerdings bereits zum Ende des Jahrzehnts zu verschlechtern begann. Tabelle 1: Warenbereitstellung aus eigner Produktion und aus Importen bei ausgewählten Sortimenten der Textilindustrie und Entwicklung der Pro-Kopf-Ausgaben für Textilien und Bekleidung 1970 und 1975 bis 1979 (in %, 1980=100)[8] | ||||||
Jahr | Untertrikotagen für Kinder | Obertrikotagen für Erwachsene | Obertrikotagen für Kinder | Strumpfwaren für Erwachsene | Strumpfwaren für Kinder | Pro-Kopf-Ausgaben für Textilien und Bekleidung |
1970 | 64,9 | 66,9 | 43,1 | 68,6 | 55,6 | 64,7 |
1975 | 74,4 | 117,5 | 75,7 | 89,9 | 82,4 | 85,1 |
1976 | 73,8 | 122,8 | 80,7 | 94,5 | 80,9 | 86,7 |
1977 | 79,2 | 105,1 | 87,9 | 90,6 | 80,4 | 88,8 |
1978 | 89,0 | 101,1 | 93,7 | 90,4 | 80,8 | 91,4 |
1979 | 99,8 | 102,0 | 99,9 | 98,8 | 91,2 | 95,6 |
Tabelle 2: Warenbereitstellung bei Schuhen aller Art und Entwicklung der Pro-Kopf-Ausgaben für Schuhe 1970 und 1975 bis 1979 (in %, 1980=100)[9] | ||||
Jahr | Straßenschuhe für Erwachsene | Straßenschuhe für Kinder | Hausschuhe | Pro-Kopf-Ausgaben für Schuhe |
1970 | - | - | 93,7 | 61,8 |
1975 | 112,1 | 92,6 | 101,3 | 79,0 |
1976 | 123,7 | 95,1 | 98,1 | 84,0 |
1977 | 121,8 | 92,3 | 99,9 | 87,7 |
1978 | 112,1 | 94,0 | 100,3 | 89,3 |
1979 | 99,4 | 98,9 | 98,9 | 97,7 |
Ähnlich verhielt es sich bei der Versorgung mit Obst und Gemüse. Bei Obst wurden insbesondere in der ersten Hälfte der 1970er Jahre stabile oder gar größere Mengen in einem vergleichsweise breiten Sortiment heimischer und nicht-heimischer Obstsorten und Südfrüchte bereitgestellt, ohne jedoch den tatsächlichen Bedarf zu decken. 1978 betrug der Verbrauch an Obst und Südfrüchten etwa 31 kg pro Kopf und Jahr (vgl. Tabelle 3).[10] Mehr als die Hälfte davon wurde durch Obstsorten gedeckt, die auch im Inland geerntet werden konnten (Äpfel, Kirschen, Erdbeeren, Pflaumen und Birnen). Bis 1978 wurde mehr als die Hälfte des gesamten Obstangebots durch Importe gedeckt. Das sicherte eine größere Breite des Sortiments, ohne indes zu garantieren, dass es jederzeit und überall in der DDR erhältlich war. 1978 machten Südfrüchte (Bananen, Orangen, Mandarinen und Grapefruits) immerhin gut 40 Prozent des Angebots aus.[11]
Tabelle 3: Pro-Kopf-Verbrauch an ausgewählten Obstsorten in der DDR 1974 bis 1980 (in kg)[12] | |||||
Sortiment | 1974 | 1975 | 1976 | 1978 | 1980 |
Äpfel | - | 12,4 | 13,1 | 12,19 | 14,0 |
Süßkirschen | - | 0,58 | 1,2 | - | 0,36 |
Erdbeeren | - | 0,42 | 0,46 | 0,71 | 0,64 |
Pflaumen | - | 0,55 | 1,7 | 0,93 | 1,6 |
Birnen | - | 1,8 | 2,1 | 0,9 | 1,2 |
Weintrauben | 1,85 | 1,2 | 1,3 | 1,53 | 0,9 |
Pfirsiche/Aprikosen | 2,03 | 1,35 | 1,1 | 1,02 | 0,74 |
Übriges Obst | - | - | - | 0,60 | - |
Bananen | - | - | - | 6,31 | - |
Apfelsinen/Mandarinen | - | - | - | 6,36 | - |
Bei Gemüse kann für die 1970er Jahre von einem insgesamt jährlich steigenden Gesamtangebot gesprochen werden (vgl. Tabelle 4). Im Unterschied zur Obstversorgung spielte jedoch der Import von Gemüse bereits damals eine eher untergeordnete Rolle. Mit weniger als 22,5 Prozent erreichte importiertes Gemüse im Jahr 1976 seinen höchsten Anteil. Mehr noch: Früher als bei Obst begann der Importanteil schon im Folgejahr zu sinken. 1980 machten die Importe nur noch knapp 11,2 Prozent der dem Handel zur Verfügung gestellten Gemüsemengen aus.[13] Verkauft wurden vor allem damals gängige, auch im Inland zu erntende Sorten (Rot- und Weißkohl, Möhren, Porree und Gurken). Allerdings war bereits damals insgesamt ein regional und saisonal sehr schwankendes Angebot zu beobachten, insbesondere bei importierten Erzeugnissen. So wurden 1977 nur 130 Tonnen (t) Paprika in den Einzelhandel gebracht, zwei Jahre später 4,6 Kilotonnen (kt), 1981 nur noch knapp 1,75 kt. Bei Tomaten standen 1977 über 10 kt zur Verfügung, ein gutes Drittel mehr als 1975. 1980 waren es nur noch knapp 6,3 kt.[14]
Tabelle 4: Warenbereitstellung bei Gemüse 1970 und 1975 bis 1980 (in kt)[15] | |||||||
1970 | 1975 | 1976 | 1977 | 1978 | 1979 | 1980 | |
Gesamt | 643,4 | 726,4 | 731,2 | 797,0 | 776,0 | 791,0 | 744,5 |
Darunter aus Importen | - | 131,2 | 164,3 | 129,1 | 114,5 | 97,1 | 83,1 |