Wer war Opfer des DDR-Grenzregimes?
Ansichten zu einem umstrittenen Thema
Eine Studie des Forschungsverbunds SED-Staat hat eine Kontroverse ausgelöst. Wer war Opfer des DDR-Grenzregimes? Nur Flüchtlinge, die nach dem Mauerbau am 13. August 1961 aus dem Osten in den Westen Deutschlands fliehen wollten und auf ihrer Flucht tödlich verunglückten, ins Minenfeld gerieten oder von DDR-Grenzern erschossen wurden? Eine zuletzt im Februar 2021 ergänzte Debatte im Deutschland Archiv.Wissenschaftler*innen streiten, ob auch Menschen, die schon vor dem Mauerbau beim Passieren der innerdeutschen Grenze aus unterschiedlichen Gründen gewaltsam zu Tode kamen, "Opfer des DDR-Grenzregimes" sind. Diskutiert wird auch, wie der Tod von Grenzern zu bewerten ist, die im direkten oder indirekten Zusammenhang mit ihrem Dienst an der Grenze ihr Leben verloren oder sich das Leben nahmen.
Daher gibt es bislang keine abschließende Berechnung, wie viele Menschen durch das Grenzregime zu Tode gekommen sind, zumal auch viele Todesfälle von SED und Stasi vertuscht oder verschleiert wurden oder die Quellenlage bis heute unzureichend ist. Derzeit wird laut Bundesregierung von "mindestens 260" Todesopfern an der innerdeutschen Grenze und "mindestens 140" an der Berliner Mauer ausgegangen, die mit eindeutigem Bezug zum Grenzregime ihr Leben verloren, hinzuzurechnen sind mindestens 189 weitere DDR-Flüchtlinge, die bei Fluchtversuchen in der Ostsee starben.
Gibt es aber noch mehr Fallkategorien, die diskutiert werden müssten? Davon geht ein Autorenteam aus dem Forschungsverbund SED-Staat an der Freien Universität (FU) Berlin aus, das in seiner Zählung auf nicht 260, sondern 327 Todesopfer kommt, die im Zusammenhang mit dem innerdeutschen Grenzregime ums Leben kamen.

Die wesentlichen Inhalte fassten im August 2019 als Auftakt zu dieser Debatte im Deutschland Archiv Dr. Jochen Staadt und Dr. Jan Kostka zusammen, sie geben darin einen Überblick, wer aus Sicht des Forschungsverbundes SED-Staat der Freien Universität Berlin Aufnahme in die Studie "Die Todesopfer des DDR-Grenzregimes an der innerdeutschen Grenze 1949-1989" fand, inzwischen ergänzt durch ein Webprojekt von Uni-Greifswald und dem Forschungsverbund SED-Staat der FU, das getötete DDR-BürgerInnen in anderen Ostblockstaaten entlang des "Eisernen Vorhangs" erfasst (www.eiserner-vorhang.de).
Doch die Zählweise des Forschungsverbunds SED-Staat weckt(e) Widerspruch, denn ein Teil der aufgeführten Fallbeispiele ist aus Sicht anderer Wissenschaftler umstritten. Dies machte 2018 die rbb-Journalistin Gabi Probst zum Thema. Sie wollten wissen, ob in der Zeit von 1949 bis 1989 wirklich 327 Menschen im Zusammenhang mit dem Grenzregime der DDR gestorben sind, wie es in der Studie hieß. Ihre Recherchen mündeten im November 2018 in einem Beitrag im ARD-Mittagsmagazin "DDR-Grenztote: Muss Zahl nach unten korrigiert werden?". Ein Folge-Beitrag wurde im April 2019 ausgestrahlt. Er berichtete von einer Veranstaltung mit Kulturstaatsministerin Monika Grütters zu der Studie.

Beide Ansichten griff im August 2920 der Historiker Dr. Gerhard Sälter aus der Gedenkstätte Berliner Mauer auf und gab (online seit 12.8.2020) einen ausführlichen Überblick, wie Zählung und Gedenken zukünftig gehandhabt werden könnten. Der Titel seines Diskussionsbeitrags: "Die Todesopfer des DDR-Grenzregimes, ihre Aufarbeitung und die Erinnerungskultur".
Im Februar 2021 folgte ein weiterer Disput, eine Kritik von Dr. Udo Grashoff an den Suizidanalysen Jochen Staadts und Staadts Replikdarauf.
Die Redaktion des Deutschland Archivs setzt diese Debatte fort und plant im Frühjahr 2021 eine wissenschaftliche Online-Fachtagung zu diesem Thema.
Hier die Links zu den bislang vorliegenden Beiträgen:
- NEU: Die Todesopfer des DDR-Grenzregimes, ihre Aufarbeitung und die Erinnerungskultur. Ein Überblick und ein Denkanstoß von Dr. Gerhard Sälter zu einer ausgebliebenen Debatte, veröffentlicht am 12.8.2020.
- Dazu ein Leserbrief des Fachautors Peter Joachim Lapp vom 19.10.2020.
- Todesopfer des DDR-Grenzregimes I. Ein Überblick von Dr. Jochen Staadt und Dr. Jan Kostka, veröffentlicht am 13. August 2019.
- Todesopfer des DDR-Grenzregimes II. Eine Kritik von Dr. Michael Kubina, veröffentlicht am 13. August 2019.
- Todesopfer des DDR-Grenzregimes III. Eine Antwort von Dr. Jochen Staadt, veröffentlicht am 4. November 2019.
- Todesopfer des DDR-Grenzregimes IV. Eine Replik von Dr. Michael Kubina, veröffentlicht am 27. April 2020.
- Todesopfer des DDR-Grenzregimes V. Erwiderung zu Michael Kubinas Replik von Dr. Jochen Staadt, veröffentlicht am 13. Mai 2020.
- Eine Kritik von Dr. Udo Grashoff an den Thesen Dr. Jochen Staadts, veröffentlicht am 10.2.2021
- Eine Replik von Dr. Jochen Staadt auf Dr. Udo Grashoffs Kritk, veröffentlicht am 10.2.2021
- DDR-Flüchtlinge, die an den Außengrenzen des Warschauer Pakts zu Tode kamen. Das Beispiel Bulgarien, beschrieben im Deutschland Archiv vom 3.7.2020 von Christopher Nehring, Fanna Kolarova und Stoyan Raichevsky.
Zur Frage von Grenzer-Suiziden:

Ergänzend zum Thema:
- Verschwiegene Maueropfer. Eine Recherche von Christian Booß.- bpb-Film: Stasi-Videos und Fotos von Mauer und innerdeutscher Grenze
- In der Hand des MfS: Der Dienst an der Grenze. Von Peter Joachim Lapp.
- Die Chronik der Mauer- eine multimediale Übersicht
- 30 Jahre Mauerfall. Ein bpb-Dossier
- Nachts vor Ort beim Mauerbau? Ein Fotoalbum Erich Mielkes. Aus dem DA vom 19.7.2011.
- Die Maueröffner. Ein Dokumentarfilm aus dem Grenzübergang Bornholmer Straßeam Abend des 9. November 1989.
- Die Todesopfer an der Berliner Mauer. Ein weiteres Buch zum Thema im Angebot der bpb.
- "Am Todesstreifen: DDR-Grenzer erzählen". Eine ZDF-Dokumentation von Christhard Läpple, produziert 2020