Arbeitskräftebedarf contra Wohnraummangel: Die Berliner Luftbrücke und das Problem der SBZ-Flucht 1948/49
Arne Hoffrichter widmet sich einem bislang wenig beachteten Aspekt der Berliner Luftbrücke in den Jahren 1948 und 1949: Dem gezielten Ausfliegen von SBZ-Flüchtlingen aus Berlin als Arbeitskräfte für westdeutsche Kohle- und Industriereviere.Personentransport mit der Berliner Luftbrücke
"Über die Einzelheiten der Luftbrückenaktion ließen sich Bände schreiben; vielleicht werden sie einmal auch geschrieben, obwohl ich zweifle, daß sie ihr gerecht werden können."[1]
Dennoch fördert die Forschung bis heute immer wieder neue Erkenntnisse zu Tage. So wurde unlängst herausgestellt, dass sich während der Berlin-Blockade selbst im Verhältnis zwischen der amerikanischen Besatzungsmacht und der westdeutschen bzw. Westberliner Bevölkerung keine wesentlichen Veränderungen vollzogen haben, vielmehr die Alliierten erst im Nachgang der Ereignisse nicht mehr nur als Besatzer, sondern auch als verlässliche Partner wahrgenommen wurden.[3] Diese erinnerungskulturelle Aufladung der Luftbrücke als Katalysator in den deutsch-amerikanischen Beziehungen scheint teilweise den Blick darauf verstellt zu haben, dass es nicht die US-Amerikaner alleine waren, die die Versorgung der Halbstadt aus der Luft bewältigten. Auch Großbritannien hatte hierbei einen gewichtigen Anteil, der sich nicht nur auf die praktische Hilfe durch die Royal Airforce beschränkte, sondern darüber hinaus wohl auch Einflüsse in der Planungs- und Anlaufphase umfasste.[4]
General Clay sollte mithin Recht damit behalten, dass die Literatur trotz ihrer Fülle bis heute nicht sämtliche Aspekte bei diesem Großprojekt humanitärer Hilfe ausreichend behandelt hat. Dies trifft besonders auf den britischen Beitrag zu und bei aller Fokussierung auf die Versorgung durch den Airlift wurde dem Backlift so gut wie keine Beachtung geschenkt. Denn die Maschinen der angloamerikanischen Streitkräfte flogen keineswegs immer leer zurück.
Westberlin war zwischen dem 26. Juni 1948 und dem 12. Mai 1949 von den sowjetischen Besatzungstruppen längst nicht so hermetisch abgeriegelt worden, wie dies zunächst scheinen mag – auch das ist mittlerweile Konsens in der Forschung.[5] Für die Einwohner der drei Westsektoren bedeutete dies, dass lokaler Handel und Personenverkehr zwischen Westberlin und dem sowjetischen Einflussbereich, das heißt Ostberlin und dem brandenburgischen Umland, weitestgehend möglich waren. Dennoch stellte die Blockierung der Transitrouten nach Westdeutschland die West-Alliierten nicht nur vor größere Probleme, was die Versorgung ihrer Sektoren mit lebenswichtigen Gütern anbetraf.[6] Auch der zivile Personenverkehr zwischen den Westzonen und dem Vorposten in der Sowjetischen Besatzungszone (SBZ) wurde unmöglich gemacht, so dass diesbezüglich die Notwendigkeit eines Lufttransfers von Berlin nach Westdeutschland entstand. Eine Aufgabe, die mit wenigen Ausnahmen ausschließlich der Royal Airforce (R.A.F.) zu kam, wie die Briten in einem zeitgenössischen Informationsheft mehr als deutlich hervorhoben:
"There was a considerable number of people in West Berlin whom it was desirable, for one reason or another to bring away. These were all carried in R.A.F. aircraft. The R.A.F. took the whole of this human backload."[7]
Abgewickelt wurde der Personenverkehr von der Royal Airforce zumeist zwischen dem Berliner Flugplatz Gatow und Lübeck-Blankensee (teilweise auch Wunstorf).[8] Da die Transporte bisher von der Literatur allenfalls beiläufig erwähnt wurden, kann der allgemeine Ablauf hier nur kurz skizziert werden. Zunächst flogen die britischen Maschinen im Juni/Juli 1948 4.000 nicht in Berlin ansässige Personen aus, die sich von der Abriegelung der ehemaligen Reichshauptstadt dort überrascht sahen. Ab August stand der Transport im Wesentlichen jedem offen, der eine Zuzugsgenehmigung oder eine sonstige Aufenthaltserlaubnis für die westlichen Zonen besaß. Allerdings mussten diese Personen zusichern, dass sie ein halbes Jahr nicht in die Stadt zurückkehren würden. Angesichts des aufkommenden Winters wurden in der Folge vor allem Kranke und erholungsbedürftige Personen in die Westzonen überführt.[9] Einen Schwerpunkt bildete auch der Ausflug von unterernährten Kindern, denen in Westdeutschland eine bessere Versorgung geboten werden sollte. Allein bis zum Jahreswechsel 1948/49 transportierte die R.A.F. auf diese Weise etwa 8.600 Kinder teils mit, teils ohne ihre Verwandten.[10] Insgesamt wurden von Ende Juni 1948 bis Anfang Mai 1949 68.000 Passagiere ausgeflogen, die in der Regel für ihren Flug aber eine Gebühr zu entrichten hatten. Nur Kinder flogen kostenlos.[11]
Im Folgenden soll der Fokus auf einer weiteren Gruppe liegen: Denn unter den Ausgeflogenen befanden sich ebenso Menschen, die aus dem Gebiet der SBZ nach Westberlin geflüchtet waren. Mithin bietet die kleine Studie nicht nur die Möglichkeit, einen weiteren Baustein in die Erforschung der Berliner Luftbrücke einzufügen, sondern gestattet auch einen Blick auf den Umgang mit den SBZ-Flüchtlingen in der Gründungsphase der Bundesrepublik.