In den engen Regalen der Joseph-Wulf-Bibliothek im Externer Link: Haus der Wannsee-Konferenz, einer der besten Fachbibliotheken Deutschlands, füllen die Bücher in der Abteilung „H 2.4. – Pogrom“ mehr als einen Regalmeter
9. November 1938. Das Datum der endgültigen Grenzüberschreitung Der Pogrom vor 86 Jahren gegen Jüdinnen und Juden in Deutschland gilt allgemein als Wendepunkt der deutschen Geschichte. Doch es gibt noch viele weiße Flecken.
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Das Datum des 9. November 1938 fehlt zwar auf keiner Zeitleiste in Überblicksdarstellungen des Holocaust – und oder des Nationalsozialismus. Doch wird das Datum häufig als Chiffre genutzt. Unser wissendes Nicken verbirgt dann, dass wichtige Aspekte des Geschehens noch unbekannt sind.
In seiner erfolgreichen Studie „Zerbrochene Zeiten“, hat der Historiker Michael Wildt so jüngst festgestellt, dass „die Gewalt nicht hinreichend geklärt ist“.
Der Pogrom
Ein grundlegendes Problem der Analyse ist, dass wir auf die Quellen der Täter angewiesen sind, um die Rahmendaten zu rekonstruieren. Zentrale, vielzitierte Quellen sind die aus dem Hut gezauberten Zahlen eines Massenmörders und das Tagebuch eines notorischen Lügners. Der Berliner Gauleiter und Reichsminister für Volksaufklärung und Propaganda, Joseph Goebbels, führte sein Tagebuch – gegen stattliche Bezahlung – in der Gewissheit, dass es veröffentlicht werden würde. Er befand sich am Abend des 9. November 1938, einem Mittwoch, in München. Dort wurde mit fackelschwelendem, biergeschwängertem Pathos der 15. Jahrestag des Putschversuchs von 1923 gefeiert. Als die erwartete Nachricht des Todes des angeschossenen deutschen Diplomaten aus Paris kam, sah der Berliner Gauleiter seine Chance gekommen. Goebbels hatte bereits in den Sommermonaten 1935 und 1938 versucht, in „seiner“ Stadt Pogrome zu schüren, war aber jeweils in letzter Minute aus außenpolitischen Erwägungen gestoppt worden.
Die Besetzung des Sudetenlandes im Oktober 1938 veränderte den Rahmen entscheidend. Das NS-Regime befand sich an der Schwelle zum ersehnten Krieg und glaubte keine Rücksichten mehr nehmen zu müssen. Am 27. und 28. Oktober wurden so erstmalig massenhaft Jüdinnen und Juden aus dem Deutschen Reich nach Polen abgeschoben – was dann bekanntlich am 7. November zum Attentat Herschel Grynszpans auf den Botschaftssekretär Ernst vom Rath in Paris führte.
Während der Feier in München kamen Goebbels und Hitler nun überein, eine gewalttätige antisemitische Aktion auszulösen. Nachdem der Propagandaminister in seiner traditionellen Rede im Bürgerbräukeller das Signal dazu gegeben hatte, eilten die anwesenden Gau- und SA-Leiter gegen 22.30 Uhr zu den Telefonen und gaben ihren Männern vor Ort Befehle zu Taten, die auch das seinerzeitige Strafgesetzbuch als schweren Landfriedensbruch unter Strafe stellte.
Goebbels sah dem Treiben offenbar erst einmal zufrieden zu – und gab seinen Gau erst mit einer gewissen Verspätung den Befehl zum Losschlagen. Ganz offenbar muss es eine Vorwarnung gegeben haben.
Denn Goebbels Stellvertreter in Berlin hatte schon am Abend die Ortsgruppenleiter in den Bezirken in Alarmbereitschaft versetzt. Diese wiederum hatten die ausführenden Parteiverbände, insbesondere SA aber auch das Nationalsozialistische Kraftfahrerkorps in Bereitschaft gesetzt. Die Männer hatten seit Stunden in ihren Sturmlokalen gewartet und dort sicherlich das eine oder andere Bier getrunken. Nun, gegen 2 Uhr morgens, schwärmten sie aus und trugen Zerstörung in die Stadt.
Die SS war nicht Teil der Befehlskette. Viele Verbände hatten nach dem Vorbild Münchens ebenfalls Rekrutenvereidigungen durchgeführt. Erst nach deren Ende erhielten sie weitere Befehle: Das Diensttagebuch einer Potsdamer SS-Einheit meldet unter dem 10. November:
„3.00 früh: Anruf […], dass gemäß RFSS-Befehl sämtl[iche] Synagogen sofort niederzubrennen seien. Anzug: Räuberzivil, Plünderungen verboten. Vollzugsmeldung innerhalb 2 Stunden.”
Zu Plünderungen kam es dann in größerem Ausmaß ab dem frühen Morgen des 10. November. Und zu zahlreichen Inhaftierungen von Jüdinnen und Juden, nur weil sie Jüdinnen und Juden waren.
In manchen Städten wurden auch ortsfremde HJ-Einheiten eingesetzt, um die Identifizierung der jugendlichen Täter zu erschweren. Während die Parteiinstanzen mobilisierten, bereitete ein Telegramm die Gestapo bereits darauf vor, NICHT einzugreifen und die Verhaftung von 20.000 bis 30.000 Juden vorzubereiten.
Der Chemiker Dr. Bernhard Landau, lieferte dem Central Jewish Information Office, das von Alfred Wiener im Amsterdamer Exil gegründet worden war und den Grundstock für die heutige Wiener Library in London darstellen sollte, eine eindringliche Beschreibung der Zerstörung, die kurz nach 2 Uhr in Berlin einsetzte:
„Es fuhr dort [in der Tauentzienstraße] ein Lastauto mit Anhänger vor, auf dem sich eine Anzahl junger Burschen befand. […] Diese Burschen, die mit langen Stangen ausgerüstet waren, sprangen nun von dem Lastauto ab, und einer ging zu dem Schutzmann, der Ecke Tauentzien- und Nürnbergerstraße als Verkehrsposten stand. Er zeigte ihm ein Papierblatt, auf dem offenbar die jüdischen Geschäfte listenmäßig aufgeführt waren, und das wohl gleichzeitig die Weisung an den Schutzmann enthielt, die Zerstörung dieser Geschäfte nicht zu hindern. Er dreht sich dann auch, nachdem er das Blatt gelesen, pflichtgemäß um, und die Burschen zertrümmerten mit Hilfe der Stangen Schaufenster, Auslagen […] des Geschäftes. Wenige Schritte weiter wiederholte sich dasselbe an einem Damenkonfektionsgeschäft. Hier warfen die Burschen die Mäntel aus der Auslage auf die Straße, soweit sie sie in der Geschwindigkeit nicht auf das Lastauto befördern konnten“.
Zufällig kam auch der Schriftsteller Erich Kästner hier vorbei:
„Als ich am 10. November 1938, morgens gegen drei Uhr, in einem Taxi den Berliner Tauentzien hinauffuhr, hörte ich zu beiden Seiten der Straße Glas klirren. Es klang, als würden Dutzende von Waggons voller Glas umgekippt. Ich blickte aus dem Taxi und sah, links wie rechts, vor etwa jedem fünften Haus einen Mann stehen, der, mächtig ausholend, mit einer langen Eisenstange ein Schaufenster einschlug. War das besorgt, schritt er gemessen zum nächsten Laden und widmete sich, mit gelassener Kraft, dessen noch intakten Scheiben. [...] Glaskaskaden stürzten berstend aufs Pflaster. Es klang, als bestünde die ganze Stadt aus nichts wie krachendem Glas. Es war eine Fahrt wie quer durch den Traum eines Wahnsinnigen.“
Eins der vor den Augen Kästners zerstörten Unternehmen war das alteingesessene Bettengeschäft S. Kaliski & Co an der Ecke Tauentzien/Nürnberger Straße.
Der Beginn der Plünderung und Verwüstung des Kaufhauses Lippmann in Grünstadt am 10. November 1938 durch einen von den Nationalsozialisten antisemitisch aufgeputschten Mob. (© Landesarchiv Speyer, Bestand X 3 2826. Das Bild ist Teil einer Fotoserie, der Fotograf unbekannt.)
"Dadurch ist meine Moral gelockert worden"
Wohl vor diesem Hintergrund malte Charlotte Salomon in ihrem wunderbaren Werk „Leben oder Theater“ zwei Berliner Steppkes, die gerade einen Füllfederhalter gestohlen hatten. Doch es waren keineswegs „nur“ jugendliche Räuber unterwegs. Da in Berlin die Zahl der jüdischen Gewerbebetriebe seit 1933 nur wenig zurück gegangen war, war hier auch die Zahl der Plünderungen besonders hoch. Eine Durchsicht der Akten der Berliner Staatsanwaltschaft vermittelt das Bild einer ganzen Stadt im Plünderungsrausch. Nach seiner Festnahme gestand der zweiunddreißigjährige Arbeiter Friedrich Schumann so beispielsweise an auf seinem dem Weg zur Arbeit „die Torheit begangen“ zu haben der Brunnenstraße eine Kiste Zigarren „geklaut“ zu haben. Zur Entschuldigung führte er an:
„Ich weiß jetzt selbst nicht wie ich dazu gekommen bin Auf dem Wege durch die Stadt sah ich heute Morgen in den verschiedenen Straßen überall, wie Personen sich aus den jüdischen Geschäften Waren nahmen. Dadurch ist meine Moral gelockert worden.“
Offenbar zogen viele aus Neugier alleine oder in Gesellschaft von Freunden oder Familie los, um sich die Geschehnisse anzusehen – und nutzten dann die Gelegenheit.
Oft eskalierte die Gewalt, gingen Diebstahl und Zerstörungslust einher mit Gewalt gegen Personen. Als er nach seinem Geschäft schauen wollte, wurde der fünfundsechzigjährige Inhaber einer Wein- und Spirituosenhandlung, Elias Feuerstein, von einem Mob in der Strausberger Straße 25 so schrecklich geschlagen, dass er wenig später im Krankenhaus verstarb.
Auch bei den häufigen Überfällen auf Wohnungen jüdischer Familien kam es vielfach zu Gewalt. Aus vielen Städten ist zudem überliefert, dass die Männer (teils aber auch Frauen), die von der SA aus ihren Wohnungen verschleppt worden waren, an verschiedenen Sammelorten schrecklich gedemütigt und misshandelt wurden.
Zerstörter Wandschrank in der am 9./10. November 1938 verwüsteten Wohnung von Henry (Heinz) Bauer. (© Aus einer Fotoserie von Henry (Heinz) Bauer, 1938, Museum of Jewish Heritage New York, 1901.90)
Zerstörter Wandschrank in der am 9./10. November 1938 verwüsteten Wohnung von Henry (Heinz) Bauer. (© Aus einer Fotoserie von Henry (Heinz) Bauer, 1938, Museum of Jewish Heritage New York, 1901.90)
Als Heinz Bauer am Abend des 10. November nach Hause kam konnte er, wie er sich Jahre später erinnerte „nicht glauben, was er dort hörte und sah“.
Solche Fotos sind selten – und werden kaum betrachtet, obgleich ihnen ein wichtiger Perspektivwechsel zu eigen ist. Auf die Straße wagen konnten sich Jüdinnen und Juden mit der Kamera allerdings kaum. Aus der Wohnung heraus gelang dem Lehrer Aron Höxter am Vormittag des 10. November ein Foto, das einzigartig ist: Es zeigt die Abnahme des Mogen Davids vom Dach der noch qualmenden Ruine der Dresdner Synagoge durch die Feuerwehr.
Am Donnerstagabend ebbte die Gewalt ab, weil die Polizei begann einzuschreiten. Davor hatten die Beamten nicht etwa zum Schutz der ihnen schutzbefohlenen Bürger eingegriffen, sondern im Gegenteil Tausende von Juden festgenommen.
Inhaftierungen, Demütigungen, Gewalt
Im Redaktionsarchiv der grässlichen antisemitischen Wochenzeitung der Stürmer ist eine Bildserie auf dem unterfränkischen Hofheim überliefert. Diese zeigt 25 Männer, die von den lokalen Parteiinstanzen ebenfalls gedemütigt und dann leicht bekleidet und ohne Kopfbedeckung als „Kolonne Grünspan“ völlig willkürlich zu Zwangsarbeit eingesetzt wurden. Die rückseitige Beschriftung des Fotos spricht gar von einem „Judenlager“, so dass davon auszugehen ist, dass die Juden mehrere Tage festgehalten worden sind.
Aus einer Bildserie mit jüdischen Zwangsarbeitern, als "Kolonne Grünspan" gedemütigt, aufgenommen in den Tagen nach dem 9. November 1938 im unterfränkischen Hofheim. (© Unbekannter Fotograf, Hofheim, November 1938, Stadtarchiv Nürnberg, E 39, 1122, 05)
Es ist unbekannt, wie viele solcher „privater“ Lager es im Deutschen Reich gegeben hat. Bekannt ist aber, dass insgesamt 30.000 Männer in die Konzentrationslager Buchenwald, Dachau und Sachsenhausen verschleppt wurden. Mindestens 600 von ihnen wurden dort Ermordet – oder vfielen den schrecklichen Umständen dort zum Opfer. Auch bei den Überlebenden, die in der Regel nach einigen Wochen freigelassen wurden, waren die psychischen und körperlichen Schäden gravierend. So erinnerte sich Alfred Silberstein, dass sein Vater Berthold nach sechs Wochen als gebrochener Mann nach Hause gekommen sei.
Als die Verschleppten am Morgen des 11. November erstmals auf den kalten Appellplätzen gedemütigt (und in Buchenwald auch fotografiert) wurden, hatten die Plünderungen im Reich noch nicht völlig aufgehört. Daher ließ Goebbels eine schon am Vortag über den Deutschen Nachrichtendienst verbreitete Radiomeldung nun auch in den Zeitungen veröffentlichen. Hiernach sollten „weitere Demonstrationen“ unterbeleiben, weil die „endgültige Antwort auf das jüdische Attentat in Paris auf dem Gesetzeswege“ erteilt werde.
Dessen ungeachtet kam es wenigstens in Berlin auch am 12. November 1938 noch zu vereinzelten Plünderungen, während im Reichsluftfahrtministerium auf einer hochrangigen Konferenz unter Leitung von Hermann Göring die von Goebbels angekündigte „Antwort“ diskutiert wurde. Auf der Konferenz, die als Vorläufer der Wannsee-Konferenz anzusprechen ist, wurde die Verfolgung nicht nur zentralisiert. Mit den auf der Konferenz beschlossenen Verordnungen wurde jüdischen Einzelhändlern und Genossenschaften der Weiterbetrieb untersagt, den Juden eine Sonderabgabe in Höhe von einer Milliarde Reichsmark auferlegt und zusätzlich auch die Pflicht die Schäden, die ihnen widerfahren waren, selbst zu beseitigen.
Am Tag nach der "Reichskristallnacht" betrachtet ein Fußgänger die Trümmer eines jüdischen Geschäfts in Berlin. (© AP)
Am Tag nach der "Reichskristallnacht" betrachtet ein Fußgänger die Trümmer eines jüdischen Geschäfts in Berlin. (© AP)
Auf Rückfrage von Göring, bezifferte der Chef der Sicherheitspolizei, Reinhard Heydrich, die Schäden der Gewalt. Er sprach von 7.500 im Pogrom zerstörten „Geschäften“; 1.000 zerstörten Synagogen und 100 Ermordeten. Vieles spricht dafür, dass Heydrich seine Angaben, die in der Forschung häufig kritiklos übernommen worden sind, quasi aus dem Hut gezaubert hatte, um sich keine Blöße zu geben. Der ehemalige österreichische Handelsminister Hans Fischböck, der seit September 1938 an den Vorarbeiten zur „Verordnung zur Ausschaltung der Juden aus dem Wirtschaftsleben“ federführend beteiligt war, zog die Angaben hinsichtlich der Geschäfte jedenfalls umgehend in Zweifel.
Bereits 1988 zog Avraham Barkai die Zahl der zerstörten Synagogen in Zweifel; sein Argument war, dass davon auszugehen sei, dass eigentlich jede noch bestehende Synagoge oder noch bestehendes Betstube zerstört worden sein müssten. Dies hat die neuere Forschung bestätigt und geht von einer Zahl von 1.500 aus.
Angesichts der Quellenlage ist die Zahl der Ermordeten ist schwer zu bestimmen, doch gehen neuere Forschungen von einer Zahl von mindestens 800 Menschen aus, die direkt während oder ganz kurz nach dem Pogrom ermordet wurden, ihren Verletzungen erlagen oder sich aus Verzweiflung das Leben nahmen.
Weiße Flecken?
Entblättern wir die Geschichte der Pogrome des November 1938 stoßen wir zunächst auf ein Wahrnehmungs- und Datierungsproblem: In unser Gedächtnis hat sich der 9. November als fixes Datum eingebrannt. Die Pogrome begannen aber in einigen Städten bereits als die Nachricht vom Attentat in Paris publik wurde (also am 7. November) und endeten am 12. November.
Die zeitliche Einschränkung auf einen Tag, eigentlich sogar auf eine Nacht, reduziert auch die Komplexität der Abläufe enorm: Fokussieren wir auf diese eine Nacht stellen wir fast Zwangsläufig die ausführenden NS-Instanzen in den Mittelpunkt unserer Überlegungen und blenden die unterstützenden Zuschauer:innen und die gewaltlüsternen Mitmachenden aus. Gleichzeitig überschätzen wir die Durchsetzungskraft der Diktatur. Das nationalsozialistische Regime konnte jederzeit die Geister der Gewalt entfesseln, sie aber eben nicht auf Zuruf wieder einhegen. Die Tage des Pogroms hatten für die nicht-jüdische Bevölkerung ganz offenbar Eventcharakter. Den Mitmachenden – und davon gab es viele - ermöglichte der Moment des Kontrollverlustes für kurze Zeit aus dem starren Korsett der Diktatur auszubrechen. Und eine Grenzüberschreitung führte bei der schnell zur nächsten. Dies belegt Wolfgang Benz‘ Befund, dass auch „Unbeteiligte rasch in den Sog der vandalisierenden Avantgarde“ der Partei geraten konnten.
In vielen Quellen gibt es zudem Hinweise den Alkoholkonsum der Täter. Ganz abgesehen vom hohen Stellenwert den gemeinsame Gelage in der männerdominierten NS-Gesellschaft hatten, hatte viele Täter vor der Tat stundenlang in Sturmlokalen auf den Einsatz gewartet. Entsprechend alkoholisiert waren sie – und damit enthemmt.
Das Ausmaß der erwartbaren beziehungsweise erwarteten Beute war sicherlich ein – wenn nicht der – entscheidende Grund für die ungeheure Gewaltbereitschaft. Hier spielte sicherlich das antisemitische Stereotyp des vorgeblichen Reichtums der Jüdinnen und Juden eine starke Rolle. Freilich war vom vorgeblichen Reichtum nach Jahren der Verfolgung wenig zu spüren. Zudem hatten sich die Parteigliederungen den ersten Zugriff auf die „Wertsachen“ aus Geschäften und Synagogen gesichert.
Doch was übrigblieb, war augenscheinlich genug. In Zeiten des durch das NS-Regime schon deutlich eingeschränkten Konsums, waren offenbar selbst zwei verschiedenen Schuhe etwas, was sich mitzunehmen lohnte. Aus Habgier wurde aus den Umstehenden so Täter:innen. Gerade angesichts heutiger Entwicklungen kann nicht genug betont werden, dass darüber hinaus viele, allzu viele Nicht-Juden antisemitisch eingestellt waren. Antisemitismus durchzusetzen schon vor 1933 war ein zentrales Wahlversprechen der NSDAP und ihres späteren Koalitionspartners der Deutsche-Nationalen Volkspartei gewesen. Und eine Mehrheit der Wahlberechtigten hatten diesen beiden Parteien in freien Wahlen die Stimme gegeben.
In seiner anrührenden Autobiographie erwähnt Fredric Zeller einen weiteren Aspekt, des „grundlos bösartigen Brodeln eines in ganz Deutschland verbreiteten Hasses“: „Das Verfolgen von Juden war zu einem beliebten Zeitvertreib geworden“, weil es eingeübt worden war.
1933 waren Übergriffe aus 606 mindestens Orten zu verzeichnen, 1935 aus 619; 1938 sind Gewaltaktionen gegen Jüdinnen und Juden dann aus mindestens 2.416 Orte zu beklagen. Hier zeigt sich einerseits das Ausmaß der Gewalt des Pogroms – andererseits aber auch, dass die Gewalt gleichsam eingeübt worden war.
Topographie antisemitischer Gewalt 1930-1938 in Deutschland, Jüdisches Museum Berlin (© Jüdisches Museum Berlin)
Auf den ersten Blick scheint der Stellenwert des Pogroms klar. Auch Hannah Arendt betrachtete ihn in dem großartigen Gespräch mit Günther Gaus 1965 als endgültige Grenzüberschreitung; als Beginn des Holocaust. Vielleicht ist das Pogrom aber sogar noch mehr.
Betrachten wir den 2. Weltkrieg als rassistisch motivierten und geführten Konflikt, stellt sich die Frage, ob er nicht in dem Augenblick mit dem blutigen Bürgerkrieg gegen die jüdische Minderheit von den Nationalsozialisten entfacht wurden, als sie in der Konferenz in München im September 1938 in ihrer Hoffnung auf einen baldigen Waffengang enttäuscht wurden. Hiernach begann der Krieg, der in den Augen der Zeitgenossen ja erst mit der Kriegserklärung des Deutschen Reiches an die USA zum Weltkrieg wurde (was wiederum eine mörderische Radikalisierung des Mordes an den Jüdinnen und Juden nach sich zog) mit dem Überfall auf die jüdische Minderheit im Deutschen Reich, auf die als Juden diffamierten Nachbarn.
Was bedeutet all dies nun für unsere Gedenkkultur? Wir müssen uns den geschichtlichen Ereignissen immer wieder neu nähern. Um das Gedenken nicht zum inhaltsleeren Ritual werden zu lassen, müssen wir jedes Jahr wieder unser Wissen in Frage stellen und neue Zugänge und Perspektiven suchen, also auch in den Formen der Erinnerungs- und Wissensvermittlung für jede zuwachsende Generation neu durchdenken, damit die so wichtigen Lehren dieses Tages als "Datum der endgültigen Grenzüberschreitung" nicht verloren gehen.
Dass der 9. November so ein mehrfach aufgeladenes Datum der deutschen Geschichte des 20. Jahrhunderts ist, kann uns dabei helfen und zeigt ja letztlich "nur", wie vielschichtig unsere Geschichte ist, und – wie wir entsetzt gegenwärtig erleben – nie zu Ende ist und keineswegs vor Wiederholungen gefeit.
Zitierweise: Christoph Kreutzmüller, "9. November 1938. Das Datum der endgültigen Grenzüberschreitung", in: Deutschland Archiv, 04.11.2023, Link: www.bpb.de/542395.
Geh Denken - Eine Aktion der Evangelischen Sophienkirche in Berlin-Mitte in Erinnerung an die Pogromnacht vom 9. auf den 10. November 1938. (© bpb / Holger Kulick)
Zusatzinfo. Der 9. November 1938 war nicht der erste Pogrom gegen Juden im Deutschland des 20. Jahrhunderts. 15 Jahre zuvor, am 5.11.1923 wurde bereits das Berliner Scheunenviertel, in dem viele Jüdinnen und Juden lebten, die aus Osteuropa zugewandert waren, Ziel eines groß angelegten antisemischen Pogroms. Vgl. hierzu vom 5.11.2023: https://www.tagesschau.de/inland/regional/berlin/rbb-berlins-vergessener-pogrom-im-scheunenviertel-100.html und https://taz.de/Berliner-Pogrom-am-5-November-1923/!5967989/.
Weitere Beiträge in dieser Serie über die Vielschichtigkeit des 9. November in der deutschen Geschichte:
Ilko-Sascha Kowalczuk:
Interner Link: Der Durchbruch vom 9. November 1989 Robert Gerwarth: "Externer Link: Die größte aller Revolutionen? Der 9. November 1918
Dieser Beitrag ist Teil einer Externer Link: Vortragsserie aus dem Bundespräsidialamt vom 9. November 2022 über die vielschichtige Bedeutung dieses Gedenktags. Damals musste die Veranstaltung abgebrochen werden, weil vor Ort im Schloss Bellevue der Bürgerrechtler Werner Schulz im Alter von 72 Jahren verstarb. Ihm ist diese Artikelserie gewidmet, fünf Erinnerungen an ihn, veröffentlicht im Deutschland Archiv,
Kurzüberblick: Die anderen Aspekte des Externer Link: 9. November
Materialsammlung: Externer Link: Die Wege zum 9. November 1989
Weitere Inhalte
Dr. Christoph Kreutzmüller, ist Co-Leiter des Verbundprojekts Last Seen am Selma Stern Zentrum für jüdische Studien Berlin, das sich der Erforschung der Fotos der Deportationen widmet: Externer Link: www.lastseen.org. Zu seinen zahlreichen Publikationen gehören unter anderem (mit Tal Bruttmann und Stefan Hördler), Die Fotografische Inszenierung des Verbrechens. Ein Album aus Auschwitz, Darmstadt 2019 (Zweite Auflage Bonn 2020); (mit Julia Werner), Fixiert. Fotografische Quellen zur Verfolgung und Ermordung der Juden in Europa. Eine pädagogische Handreichung, Berlin 2012 (Bonn 2016), sowie "Ausverkauf" Die Vernichtung der jüdischen Gewerbetätigkeit in Berlin 1930-1945, Berlin 2012 (2. Auflage Berlin 2013)
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